Jahr Zwei, 23. September. Morgen II

Igor und Oleg saßen gemeinsam beim Frühstück in ihrer rustikalen kleinen Küche. Auf dem Herdofen dampfte der Samowar, und es roch nach starkem, russischem Schwarztee. Oleg hatte Piroggen gebacken, die Füllung bestand aus Honig und Sesamkörnern. Die Versorgungslage hier im Norden des ehemals ukrainischen Staatsgebietes gestaltete sich schwierig. Der anhaltende Winter mit extremen Tiefsttemperaturen machte jede Form von Landwirtschaft unmöglich.

Die Staubwolken der nuklearen Kriegsführung der New World Army verdunkelten noch immer große Teile der nördlichen Hemisphäre, selbst im Sommer stiegen die Temperaturen nicht über den Gefrierpunkt.

Die geschlossene Schneedecke über dem Land erreichte mühelos Höhen von mehr als zwei Metern, der böige, kalte Wind türmte hinter hohen Gebäuden und hügeligen Geländeformationen Schneewehen von weit über zwanzig Metern Höhe auf. Straßen wurden zu Tunneln in dieser unwirtlichen, weißen Landschaft, und das Schneeräumen glich mehr einer Ausgrabungstätigkeit im Sand der Sahara. Nur dass es hier ungleich kälter war.

Auch in Cherkas, der kleinen Siedlung beim Umschlaglager IV-49/101, an Kreuzung M05 und P04, zog sich ein Labyrinth von Gassen durch die Schneemassen. Inzwischen lebten und arbeiteten hier fast fünfhundert Menschen aus allen Teilen des Imperiums, das Marschall Thilo Gärtner auf den Ruinen der menschlichen Zivilisation errichtet hatte.

Jeder Mensch, der in den Siedlungsgebieten der New World seinen Mund zum falschen Zeitpunkt öffnete oder sich auch nur im Ansatz kritisch zu äußern wagte, fand sich binnen kürzester Zeit an der Ostfront wieder. Dort verlief von Archangelsk im hohen Norden bis hinunter zur Wolga und zum Schwarzen Meer die Grenzbefestigung, die das von den Menschen beanspruchte Gebiet vom Rest der Welt trennte.

Der stark bewehrte und mit bewaffneten Posten besetzte Zaun sollte das Vordringen der riesigen Zombiehorden aus dem Osten stoppen, denn im asiatischen Raum hatte der Feldzug des Marschalls kaum Opfer unter den Zombies gefordert.

Niemand wusste genau, wie viele von den Milliarden Menschen dort, jenseits des Zaunes, zombifiziert herumliefen. Sicher, viele von ihnen fraßen sich gegenseitig und sehr viele erlahmten aufgrund von Energiemangel und Frost derart, dass sie keine Gefahr darstellten, doch jeden Tag stürmten neue Horden der Untoten auf die Grenzanlagen ein.

Die abkommandierten Soldaten und die deportierten Bürger der New World sollten das mehr als zweitausend Kilometer lange Bollwerk verteidigen; unter ihnen waren tatsächlich viele Widerstandskämpfer, die einen begründeten und handfesten Groll gegen die Militärdiktatur hegten. Aus diesen rekrutierte Igor mit Duldung einiger spezieller Wachbataillone seine Kämpfer für die Armee der Grosnyj, der »Schrecklichen«.

Diese Männer und Frauen wurden von bestechlichen Aufsehern für besondere Aufgaben im Umschlag-Außenlager bei Cherkas freigestellt und für den Nahkampf ausgebildet. Es fehlte nicht an modernen Waffen und einige besonders qualifizierte Ausbilder der ehemaligen SpezNas-Truppen sorgten dafür, dass Igors Guerillatruppe ihre Angriffsziele würde erreichen können.

»Möchtest du noch Tee?«, fragte Oleg. Der junge Mittzwanziger erfüllte seine Rolle als Haushälter mit Hingabe. Seinen geliebten Igor mit allem, was der brauchte, zu versorgen, bereitete ihm die größte Freude. Wenn er nicht gerade den bärtigen und stets grimmigen Russen, mit dem er Tisch und Bett teilte, bekochte, dann zog Oleg hasardierend durch das militärische Netzwerk, auf der Suche nach digitaler Beute.

Der junge Hacker zeigte sich, was das Eindringen in fremde Computersysteme anging, ausgesprochen agil und umtriebig. Dank der Unterstützung des Generals Pjotrew in der Basis der New World Army auf Helgoland, blieben Oleg keine Schweinereien der Junta verborgen. Unter dem Pseudonym Wissarion veröffentlichten Igor und Oleg die spektakulärsten Daten im Netz auf eine Weise, die es den Datenwächtern der New World nahezu unmöglich machte, die Whistleblower zu erwischen oder ihre Sendungen zu unterbinden. Über die Kabel- und Satellitenverbindungen hatte der Kampf gegen das Imperium längst begonnen.

Igor schreckte aus seinen Überlegungen, die ihn beschäftigt hatten, hoch.

»Was? Ja. Nur zu.«

»Essen ist auch fertig. Honigpiroggen. Möchtest du?«

»Ja, sicher.«

Igor nickte geistesabwesend. Er saß rauchend am Tisch, sein Machorka qualmte in einem selbstgedrehten Stumpen, der zwischen den gelben Fingern der rechten Hand steckte. Dieses auch als Stalinhäcksel bezeichnete Rauchkraut hatte nicht viel mit dem zu tun, was in den feinen Läden Moskaus als Filterzigaretten angeboten wurde, aber es qualmte und konnte beschafft werden.

Wenigstens gab es hier bei Oleg anständiges Essen, nicht dieses Zeug aus der Tube, das von der Armee ausgegeben wurde. Bereits vor Monaten hatten Oleg und Igor herausgefunden, dass es sich bei dem Zeug, das sie Pink Paste nannten, um Proteine handelte, die aus der industriellen Verwertung von Zombiekadavern gewonnen wurden. Ebenso die Fette, die in tranähnlicher Form als Amber Liquid vertrieben wurden.

Doch seltsamerweise hatten die Wissarion-Leaks nicht dazu geführt, den Absatz dieses grausigen Zeugs zu mindern. Die Militärs erklärten einfach, die Videos seien gestellt und alle Behauptungen frei erfunden. Es hieß, die Nahrungsersatzmittel würden aus Surimi-Fischeiweiß und Krebsfleisch hergestellt, und schon wurde die Pampe willig angenommen. Und was sollten die hungernden Siedler auch sonst essen? Es gab schlichtweg kaum etwas anderes. Hier und da ein paar Fische und alte Konserven, aber das war es dann auch schon.

Nach Süden überzusiedeln war bei Androhung der Todesstrafe verboten, auch war im verfrorenen Land des Nordens an Ackerbau nicht zu denken.

Im Grunde waren die Siedler der schönen neuen Welt arme Schweine, die Ihresgleichen zu fressen bekamen.

Igor nahm eine der heißen Piroggen und biss hinein. Der Teigmantel krümelte etwas, dann breitete sich herrlich süßer Geschmack von wildem Honig in seinem Mund aus.

Mit den gemahlenen Sesamkörnern schmeckte es fast wie die leckere Chalwa, die seine Mutter oft zubereitet hatte. Zweifelsohne konnte der Junge für sich in Anspruch nehmen, selbst in dieser misslichen Lage aus einfachen Zutaten schmackhaftes Essen zu zaubern. Das machte die Situation, in der sie sich befanden, immerhin einigermaßen erträglich.

Piroggen, Fisch, Bortsch und Soljanka in wechselnden Rezepturen bildeten für die beiden die Hauptnahrungsmittel neben einigen Konserven, die Igor immer mal wieder aus der Geisterstadt Bila Zerkwa besorgen ging. Doch der Weg dorthin war beschwerlich, und in den Ruinen der Stadt traf man überall auf Zombies, so dass Igors Lager eher bescheiden daherkam.

Er verzehrte ein weiteres der länglichen Gebäckstücke und spülte mit Tee nach. Wenn der Tag auf diese Weise begann – nach dem Frühgebet natürlich –, dann kam in Igor Zuversicht auf, die Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden könnte.

Nach dem Verzehr einer dritten gefüllten Teigtasche leerte er seinen Teebecher und stand auf, um sein Tagewerk zu beginnen. Heute sollten seine Rekruten auf dem zugefrorenen See den Kampf im Eis üben.