Jahr Zwei, 29. September. Morgen I

Filigrane Fäden weißen Dampfes stiegen aus der dünnen Meissener Porzellantasse auf und trugen das angenehm rauchige Aroma russischen Souchongtees in den pragmatisch eingerichteten Raum. Ein leises Klingeln, verursacht vom Umrühren und Abklopfen des Silberlöffels, bildete im Augenblick die einzige Geräuschquelle. Eine Hand griff nach dem fast winzigen Henkel und führte die Tasse zum Mund.

General Mikail Bolschakowitsch Pjotrew nippte gedankenverloren am Rand der Tasse und schlürfte ein wenig. Der Tee war heiß. Und stark. So, wie er ihn am liebsten hatte. Der General saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers, das den exquisiten Charme eines Fünfzigerjahre-Politbüros versprühte.

Möbel aus beschichteten Pressspanplatten, mit Holzjalousien versehene Aktenschränke, Registerablagen, die keinen Zweck mehr erfüllten, und offenliegende Heizungsrohre an den Wänden. Das einzig wirklich auffällig Moderne in diesem Zimmer war ein RJ45-Netzwerkanschluss der Kategorie 6, der in einer Aufputzdose an der gelben Rauputzwand montiert war.

In diesen Raum im wenig frequentierten Westflügel des achten Untergeschosses der Festung Rungholt zog der General sich gern zurück, um ungestört über verschiedene Dinge nachzudenken und um im Netz mit Wissarion zu kommunizieren. Seine Systemadministratoren hatten diesen Netzzugang gut verschleiert, und im Bauplan der Festung handelte es sich bei dem Zimmer um eine Aktenablage der Finanzverwaltung. Niemand würde einen General hier suchen, in den Fluren gab es nicht einmal Überwachungskameras, so uninteressant war dieser Sektor.

In seinen Erinnerungen reiste er zurück in die Zeit vor der Zombieapokalypse. Als Befehlshaber der Zweiten Armee im Oblast Samara hatte er unter dem Oberkommando von Generaloberst Postnikow gedient. Im Süden des Wolga-Schwemmlandes besaß er eine kleine Datscha, in der er die freie Zeit mit seiner Geliebten, Irina Warnikowa, verbrachte. Viele schöne Stunden verlebten die beiden dort in der Natur. Pjotrew frönte seinem liebsten Hobby, dem Angeln, während Irina die heißen Sommer gern im Schatten der Obstbäume verbrachte, die der General dort gepflanzt hatte.

Wenn er die Augen schloss, konnte er noch immer ihr Parfüm riechen. Natürlich handelte es sich nur um Erinnerungsfragmente, doch sie erzeugten dieselben intensiven Gefühle wie das tatsächlich Erlebte. Gott, sie war so schön. Wenn er seine Liebste betrachtete, dann vergaß er um sich herum alles andere. Das Militär, die Geheimnisse, ja selbst die strenge Disziplin des Militärapparates konnte er in ihren Armen aus seinem Bewusstsein tilgen. Wenn er mit Irina zusammen war, fühlte er sich stets frei und unbeschwert, wie ein junger, frisch verliebter Mensch.

Doch dann kam der Tag, an dem alles anders wurde. Bereits seit Tagen hatte der General über das militärische Netzwerk von seltsamen Vorfällen Kenntnis erhalten, die in Deutschland ihren Ursprung genommen und sich rasant ausgebreitet hatten. Man sprach von einer seltsamen Seuche, die Menschen und sogar Tiere in grauenhafte, aggressive Monster verwandelte. Sogar die Vögel sollten betroffen sein, auch Nager und überhaupt alle Wirbeltiere. Die Tiere starben sehr schnell an der Infektion und blieben als verwesende Kadaver überall liegen, nachdem sie im Rausch der Krankheit viele andere Tiere und Menschen angesteckt hatten. In einer Geschwindigkeit, die selbst die fähigsten Wissenschaftler zu erfassen nicht in der Lage waren, breitete sich die Seuche aus.

Er hatte Irina nie wieder gesehen. Seit dem Tag, an dem Samara fiel, klaffte in seinem Herzen ein riesiges Loch. Mit einer der letzten Evakuierungsmaschinen war Pjotrew dem Inferno entkommen und mit einem U-Boot der Akula-Klasse ins Nordmeer verschifft worden. Die Tk-17 Archangelsk hatte drei Monate unter dem Eis gelegen und war dann nach Süden abgedreht, um sich der internationalen Flottenvereinigung in der Nordsee anzuschließen, als klar wurde, dass es die Russische Föderation nicht mehr gab.

Pjotrew würde den Tag der Übergabe wohl nie vergessen. Als dem ranghöchsten Offizier an Bord oblag es ihm, der militärischen Führung auf der Insel Helgoland das Boot quasi zu übereignen. Sie liefen damals in einem Flottenverband gemeinsam mit zwei amerikanischen Booten, einem Flugzeugträger und diversen Zerstörern und Lenkwaffenträgern. In früheren Zeiten war etwas Vergleichbares nicht denkbar gewesen, doch im Angesicht der totalen Vernichtung blieb den Menschen nichts anderes übrig, als ihre Ressourcen zusammenzulegen.

Nur gemeinsam und unter einem strengen Kommando konnte man Möglichkeiten schaffen, die Apokalypse zu überleben. In der ersten Zeit, als noch Möwen und andere Seevögel die Schiffe umflogen, galt strenges Deckverbot. Was für viele der Matrosen und Soldaten an Bord eine starke Belastung bedeutete.

Alle Schiffe waren hoffnungslos überfüllt, und es mangelte überall an Platz, Verpflegung und Privatsphäre. Es gab zahlreiche Selbstmorde, gewalttätige Streitereien waren an der Tagesordnung, und die Offiziere hatten alle Hände voll zu tun, so etwas wie Disziplin auf den Schiffen zu gewährleisten.

Doch letztlich funktionierte die Neuordnung, und das neu gegründete New World Militär unter der Führung von Marschall Gärtner fand zu neuer Größe zurück und initiierte den Gegenschlag.

Der General schenkte sich noch Tee nach, gab etwas Rohrzucker in die Tasse und rührte gedankenverloren darin herum. Ja, der Marschall. Pjotrew musste sich selbst eingestehen, dass er sich in dem Mann gehörig getäuscht hatte. Zunächst beeindruckte ihn ja der strenge und konsequente Führungsstil des Marschalls, er hatte dem General einiges an Respekt abgerungen. Doch nachdem erste Erfolge gegen die riesigen Zed-Horden zu erkennen waren, veränderte sich der Deutsche, und das keineswegs zum Positiven. Statt eine vernünftige und für alle Menschen nutzbringende Reorganisation der Gesellschaft zu planen, führte er nach und nach ein Schreckensregime ein, eine Gewaltherrschaft der Militärjunta, deren Teil ungewollt auch Pjotrew war – und mit jedem Tag mehr wurde.

Eine harte Führung kannte Pjotrew aus der russischen Armee und aus den Streitkräften und dem Politsystem der Sowjetunion. Doch was Gärtner hier praktizierte, das stellte selbst Despoten wie Hitler und Stalin in den Schatten. Niemand, der bei Sinnen war, konnte das weiter unterstützen.

Die Ereignisse der Vergangenheit hatten ja auch gezeigt, dass es durchaus Kräfte in der Armee gab, die zum Widerstand bereit waren und das Regime kritisierten. Wenn allerdings alle sich dabei so dumm anstellen würden, wie es dieser Engländer getan hatte, sahen die Erfolgsaussichten eher mickrig aus.

Der General plante seinen Putsch da schon etwas detaillierter. Nicht zuletzt dafür hatte er sich dieses nichtregistrierte Büro eingerichtet. Und selbst wenn ihm jemand folgte und ihn hier überfiel, würde er, nachdem Pjotrew eine bestimmte Tastenkombination auf seinem Laptop gedrückt hatte, einen etwas verschämten General vorfinden, auf dessen Computer nichts zu finden war außer einigen Gigabyte an Pornofilmen. Peinlich, aber nicht tödlich, so was.

Tatsächlich jedoch operierte der General von einer undokumentierten Partition seines persönlichen SINA-Computers aus im ARPAII-Netz und kommunizierte über ein komplexes Geflecht aus Schaltstellen, Proxyservern und VPN-Verbindungstunneln mit den beiden Aufrührern in der ehemaligen Ukraine, die sich Wissarion nannten. Die beiden stellten eine der Hauptstreitmächte im Kampf um die Freiheit dar.

Igor Nikolaijewitsch Tarassow befehligte mittlerweile eine recht ansehnliche Partisanentruppe, von der ein Teil bereits hier im Eis vor Helgoland vergraben lag, und ein weiterer Teil am nächsten Tag Richtung Südfrankreich aufbrechen sollte, um dort in einer False Flag Operation den Preppern zur Seite zu stehen, statt sie zu eliminieren, wie es der Marschall angeordnet hatte.

Der andere, Oleg Demianowitsch Tschertschinski, ein junger Computerhacker mit bewundernswerten Fähigkeiten, verbreitete fleißig bestimmte Leaks, die der General ihm zuspielte. Seine Aktionen hatten schon in vielen Orten des Imperiums, wie der General das Reich des Marschalls nannte, für Unruhe gesorgt. Versteckt in Kellern und Katakomben trafen sich die freiheitsliebenden Bürger der New World und reichten Wissarions Botschaften untereinander weiter.

Gleichzeitig bemühten sich Kontaktleute in allen Bereichen des Militärapparates, den Widerstand in der New World zu schüren und zudem aktive Partisanen mit Waffen und Material zu versorgen. Unter den Angehörigen des ehemaligen NATO-Militärs erwies es sich als schwierig, Verbündete zu gewinnen.

Viele der Aktivisten, die hier Versuche unternahmen, fanden sich geschwind an der Ostfront oder auf dem Grund der Nordsee wieder. Unter den Soldaten aus den östlichen Ländern und Asien fanden sich deutlich mehr Mitstreiter.

Um eine solche Revolution zielführend zu organisieren, brauchte es aber zuverlässiger Kämpfer, Unterstützung in der Bevölkerung und einer Vision für die Zukunft. Und wenn all diese Faktoren in einem günstigen Verhältnis zueinander stünden, dann wäre die Zeit zum Zuschlagen gekommen. Es galt, Zeit, Ort und Kraft sinnvoll zu einer Macht zu koordinieren, die Gärtners Herrschaft beenden konnte.

Die Gedanken des Generals schweiften ab zu der Gruppe von Überlebenden in Südfrankreich. Hier trotzte eine gute Hundertschaft braver Menschen den Zeds und den Schwierigkeiten des Überlebens.

Über Wissarion gab es ja einige Kontakte zu den Leuten, die dieser Alv Bulvey um sich geschart hatte. Die Gruppe hauste auf einem Berg, zeigte sich bestens ausgerüstet und in jeder Situation innovativ und improvisationsfähig. Der General bewunderte die Leute aufrichtig, denn sie gaben sich nie geschlagen und fanden stets Mittel und Wege, das Überleben ihrer sozialen Gemeinschaft zu sichern. Wenn doch nur alle Menschen so wären, dachte sich Pjotrew.

Er deaktivierte seine Netzverbindung, trank einen letzten Schluck Tee und stellte die Tasse dann auf den Aktenschrank hinter dem Schreibtisch. Er würde sie morgen oder übermorgen mit in sein Büro nehmen, um sie von der Ordonnanz reinigen zu lassen. Jetzt wurde es Zeit für das Morgenbriefing bei Marschall Gärtner.

Pjotrew verstaute seinen Laptop in der ledernen Aktentasche, die er stets bei sich trug, und machte sich auf den Weg zum zentralen Bürokomplex im Inneren der großen Zentralhalle.