Jahr Zwei, 28. September. Später Abend I

Als die Heckklappe sich öffnete, schlug brüllender, eisiger Wind in den Laderaum der Maschine und riss die Atemluft mit sich fort. Schnee wirbelte in das Innere des Frachtraumes. In der Mitte, auf den Schienen der beiden Ladespuren, standen vier große, weiße Kisten, die von zwanzig weiß gekleideten Männern flankiert wurden. Alle trugen Gesichtsmasken und hielten ihre Kapuzen gut verschlossen. Die beiden Einsatzteams trugen keinerlei Abzeichen an ihrer Kleidung und sie besaßen auch keine RFID-Chips, anhand derer man sie hätte identifizieren können.

In weniger als eintausend Metern Höhe dröhnte die Antonow über den vierundfünfzigsten Breitengrad und näherte sich der Insel Helgoland von Westen. Major Tschischkarin, der offiziell zum Hauptmann degradiert und nach Kiew versetzt worden war, steuerte die Maschine souverän durch den heulenden Schneesturm, der von Osten her die zugefrorene Nordsee mit weißem Pulver überzog.

Soeben hatte er die Dreimeilenzone überflogen. Hier wurde von schweren Eisbrechern ein bis zu eintausend Meter breiter Ringkanal um die Inselfestung herum stets freigehalten, um die Zeds abzuhalten, die sich sonst vielleicht über das Eis der Feste Rungholt nähern könnten. Aufklärungsflüge nach Westen hatten ergeben, dass sogar von dort aus größere Horden Zeds von offensichtlich amerikanischer Herkunft über das Eis nach Osten wanderten. Viele von ihnen froren unterwegs einfach fest und blieben liegen. Aber einige sehr zähe Hunter überquerten bereits den mittelatlantischen Rücken auf dem massiven Eispanzer, den Marschall Gärtners Atomschläge über die Nordhalbkugel gezaubert hatten. Um diese Angreifer fernzuhalten, mussten der Eisgraben und die darin befindliche Fahrrinne stets frei gehalten werden. Ein Unterfangen, das erhebliche Ressourcen verbrauchte, auch wenn es sich um russische Atomeisbrecher handelte, die hier unermüdlich ihren Dienst verrichteten, ohne auf Schweröl oder Schiffsdiesel angewiesen zu sein.

In einiger Entfernung konnte Tschischkarin eine komplexe Eisstruktur ausmachen, eine Auftürmung von mehrere Meter dicken Eisschollen, die sich durch Druck und Eisplattentektonik aneinander empor geschoben hatten. Aus der Ferne wirkte der Haufen wie eine groteske Kathedrale, errichtet, um die Gottlosigkeit des Atomkrieges zu zelebrieren.

Der Haufen bot beiden Teams wahrscheinlich genug Platz, um ein Lager zu errichten, das nicht als solches zu erkennen sein würde. Der Haufen lag gute drei Kilometer vom Inselfelsen entfernt, und die Gefahr, dass hier Patrouillen unterwegs sein würden, konnte man wohl getrost als gering einstufen. Tschischkarin schaltete die Lampen an der Heckklappe auf grün, und die Männer rollten die vier Kisten nacheinander über die Luke hinaus. Sofort nachdem die Kisten mit dem Volumen eines Kleinwagens über den Rand kippten, öffneten sich an jeder Kiste zwei Fallschirme, die dafür sorgten, dass die Fracht nicht zu schnell hinunterkam. Auf dem Boden der Transportpaletten bliesen sich Prallkissen auf, die den Aufschlag mildern sollten. Genaugenommen hätte man in diesen Transportbehältern sogar rohe Eier abwerfen können; nicht eines wäre zu Schaden gekommen.

Für die Männer würde es etwas härter werden. In Zweiergruppen sprangen sie ab und zogen unmittelbar nach dem Verlust des Bodenkontaktes die Reißleine. Die Kurzstreckenfallschirme öffneten sich sofort und trieben die Männer einige hundert Meter zurück in Richtung Westen. Tschischkarin hatte den Absprungpunkt so gewählt, dass keiner der Männer bis zum Eisgraben getragen werden würde.

Als die Soldaten raus waren, schloss der Major die Ladeluken wieder, und die verbliebenen Männer im Laderaum gruppierten die restliche Ladung neu, so dass die Maschine trotz der fehlenden Paletten voll beladen wirkte, wenn sie in den Hangar der Festung einrollte. Eilig wurden Schneereste zusammengefegt und mit Salz bestreut, um den Schnee aufzutauen, damit kein Verdacht erregt werden würde. Tschischkarin ließ seinen Copiloten nun Verbindung zum Tower auf der Insel aufnehmen und drosselte den Schub etwas.

Jetzt kam das große Lichtermeer um Helgoland in Sicht. Noch immer lagen Hunderte von Schiffen rund um die Insel im Eis, das sie fest umschlossen hielt. Es gab Containerschiffe, Bulker, Tanker und viele andere Spezialschiffe, die von der New World Administration zu einer Art schwimmender Industriestadt umfunktioniert worden waren. Das Eis zwischen den Schiffen ließ sich inzwischen kaum noch vom Festland unterscheiden, einzig der Höhenunterschied ließ erahnen, wo genau die Insel lag.

Viele der Bewohner, Militärangehörige und Fabrikarbeiter, siedelten inzwischen direkt auf dem Eis, das mit einer Dicke von bis zu zehn Metern sogar eine Bebauung zuließ. Zwischen den Schiffen des Industriesektors hatte man aus TEU-Stahlcontainern zusätzlichen überdachten Raum geschaffen, der zum Teil durch ausgeklügelte Rohrleitungssysteme von den Produktionsanlagen auf den Schiffen mit Wärme versorgt wurde.

Mitten in dem Industriesektor änderte sich die maritime Topografie dann.

Hier lagen südlich der Insel die riesigen Einhundertfünzigtausend-Tonnen-Passagierschiffe. Gewaltige, hell erleuchtete Kreuzfahrtschiffe der Oasis-Klasse und verwandter Bauarten boten hier Hunderttausenden von Menschen Obdach, Wärme und etwas, das irgendwie einem Leben gleichkam. Hier wurden auch Kinos, Theater, Kasinos und andere Amüsierbetriebe beherbergt; der gesamte soziale Dienstleistungssektor bis hin zum Frisörladen und Zahnarzt bot in den hell erleuchteten Gängen der zahlreichen Decks alles an, was man zum Überleben brauchte. Die höheren Dienstgrade der Streitkräfte, die nicht in der Festung logierten, bewohnten hier großzügige Suiten. Man amüsierte sich mit guten Drinks und Essen, das nicht aus Tuben kam. In den Mannschaftsquartieren sah das schon wieder anders aus.

Mitten im Zentrum des eisigen Schiffsfriedhofes konnte man aus der Luft einen T-förmigen Bereich ausmachen, in dem keine Schiffe lagen. Das war die Insel. Das frühere deutsche Tagesfahrten-Paradies, das den Spitznamen Fuselfelsen trug, hatte große Bekanntheit als zollfreier Einkaufsraum erlangt. Bis zu achthunderttausend Tagesgäste kamen in den besten Zeiten pro Jahr hierher, um günstig Konsumgüter zu erwerben. Durch die Umbaumaßnamen und die Verbindung der Hauptinsel mit der Düne hatte sich die Inselfläche vergrößert. Unter der Oberfläche des bis zu fünfzig Meter hohen Felsplateaus befand sich die geheime Militärbasis Rungholt, die nun das militärische Zentrum der New World beherbergte. Hier lebte Marschall Gärtner mit seinen Befehlshabern im sicheren Untergrund, von hier aus dirigierte er sein Imperium. Major Tschischkarin schwenkte auf den Landekurs ein und verringerte die Flughöhe entsprechend.

Als die Soldaten der Eisteams landeten, zogen sie sofort die flatternden Fallschirme zu sich heran und wickelten sie auf. Das Material der Fallschirme sollte beim Lagerbau noch seinen Dienst tun.

Die beiden Gruppen sammelten sich und begannen, die Kisten auf den Kufen der Ladepaletten durch den Schnee zu ziehen. Je vier Mann bewegten eine Kiste über den Schnee zu dem skurrilen Eisschollengebilde, das sich in weniger als einhundert Metern Entfernung aus der dichten Schneedecke erhob. Die Schlitten ließen sich mit Leichtigkeit bewegen, und die restlichen Männer beseitigten die Spuren im Schnee.

Es vergingen weniger als dreißig Minuten, bis die Männer ihre gesamte Fracht zum Zielpunkt manövriert und verstaut hatten. Der Eisdom, in dem sie Unterschlupf suchten, bestand aus mehreren höhlenartigen Räumen, die durch meterdicke Eisplatten getrennt und auch von solchen überdeckt wurden. Der Hauptraum maß etwa fünfzehn mal fünf Meter bei einer mittleren Deckenhöhe von guten zwei Metern. Es existierten noch drei weitere, wesentlich kleinere Räume und einige Kammern drum herum, die jedoch nicht vollständig von Eis umschlossen die Hauptkaverne schützten. Den Eingangsbereich tarnten die Männer mit der weißen Fallschirmseide, die sie in mehreren Lagen aufhängten.

Die Einsatztruppe bestand aus zwei Teams von je zehn Mann, deren Kommandanten, die Leutnants Juri Morosow und Fedor Koroljow, beide altgediente SpezNas-Kämpfer, ein hartes Regiment führten. Jeder Mann hatte hier zu funktionieren, und das bedingungslos. Sie teilten ihre Leute ein, um das Lager zu errichten und gingen nach draußen, um die Lage zu erkunden.

Die Männer öffneten den ersten Transportbehälter und wuchteten Waffen und Munition in Aluminiumkisten heraus, um jeden Soldaten entsprechend auszurüsten. Ein weiterer Behälter enthielt ausschließlich Ersatzmagazine und einige Kisten mit leichten Raketen; dieser Behälter würde bis zum Tag X nicht angerührt werden. Die anderen beiden großen Kisten beinhalteten Lagerutensilien, Verpflegung, Med-Kits und so weiter. Aus den Hartschalen der Boxen wurde eine provisorische Küche errichtet.

Mit Fallschirmen und einer Wand aus Eisbruch trennten die Männer einen Teil des großen Raumes ab, hier wurde die Küche und das gemeinsame Nachtlager errichtet. Dieser Raum war der einzige, der mit dem Gaskocher aus der Ausrüstung mäßig beheizt werden konnte, es sollte nicht zu viel Energie verschwendet werden.

Im Verpflegungscontainer gab es zwei Boxen mit komprimiertem Gas. Wenn die Truppe sparsam lebte, konnten die Männer damit bis zu drei Wochen auskommen.

Im kalten Teil des Raumes begannen zwei Mann damit, ein Loch in das extrem dicke Eis zu bohren, um die Angeln hier auslegen zu können.

Weitere Arbeiten wie das Aufstellen, Tarnen und Kalibrieren der hochmodernen Funk- und Radareinrichtung wurden ebenso schnell und routiniert erledigt wie die Erstellung von Latrine und Eiswaschtisch in einem der Nebenräume. Der Verpflegungsoffizier nahm die Kochstelle in Betrieb und bereitete Wasser für einen starken Tee zu, den die Truppe als lösliches Konzentrat mitführte.

Morosow und Koroljow standen draußen vor dem gut getarnten Eingang der Eishöhle und rauchten. Die Glut ihrer Machorka-Glimmstängel schirmten sie mit den Händen ab. Nicht, dass sie bei diesem Wetter hier draußen eine Patrouille erwarteten, die ihre Glut hätte sehen können, vielmehr ging es darum, den glimmenden Grobschnitt gegen das leichte Schneetreiben zu sichern, da ein Treffer auf die Glut das sichere Aus für die Bauernzigaretten bedeutet hätte.

»Was denkst du, Juri«, meinte Koroljow nachdenklich, »haben wir eine echte Chance gegen die Truppen des Marschalls?«

Der andere, ein grobschlächtiger, bärtiger Mann von Mitte Vierzig mit hohen Wangenknochen, buschigen Brauen und zerzaustem, dichtem Haar wiegte den Kopf langsam hin und her.

»Na ja, ich bin nicht sicher, Fedor«, gab der Angesprochene zurück, »dieser Marschall hat viele Leute um sich und lebt in einem verdammten Bunker.«

Morosow zog an seiner Kippe, und die Glut leuchtete in seiner hohlen Hand auf.

»Seine Truppen sind aus lauter Spezialisten zusammengewürfelt, er hat sich die Besten der Besten rausgesucht. Schwer zu knacken, diese Festung. Sie sind uns zahlenmäßig weit überlegen.«

»Aber Igor bringt ja noch den Rest unserer Truppe«, erwiderte Kroljow, »wir nehmen die New World Leute in die Zange.«

»Das bedeutet dann Eins-zu-zehn. Auch nicht viel besser.«

Koroljow grinste. Er rauchte und fragte:

»Also, wie geht es weiter?«

»Wir sollten zunächst unser Lager befestigen. Wer weiß, wie lange wir hier warten müssen. Wenn wir unsere Position gefestigt haben, unternehmen wir Erkundungsgänge in die nähere Umgebung. Wir sollten einen möglichst sicheren Korridor zur Festung auskundschaften und ihn mit Schwarzlichtspray vorsichtig markieren. Wenn der Einsatzbefehl kommt, muss es wahrscheinlich ziemlich schnell gehen. Keine Zeit, um ziellos in der Gegend herumzuirren.«

Leutnant Morosow trat seine Kippe aus und bedeckte sie mit Schnee. Koroljow tat es ihm nach. Dann gingen die beiden durch einen kleinen, dreieckigen Flur aus aufgerichteten Eisplatten und betraten die große Höhle. Zwei Männer saßen bereits am Eisloch und hielten Angelschnüre in das Wasser, vier weitere waren damit beschäftigt, Ritze und Löcher in den Wänden, durch die der eisige Wind pfiff, mit Schnee zu verstopfen.

Inzwischen hatten die Männer in der Höhle eine Diodenbeleuchtung installiert; der Raum musste gegen jeden Lichtausfall gesichert werden. Davon hing letztlich das Überleben der Truppe ab.