Jahr Zwei, 23. September. Morgen I

»Läuft wie geschmiert!«

Holger klopfte auf einen der gefüllten Edelstahltanks, die er gemeinsam mit Ralle zu einer faszinierend einfachen, aber genial konstruierten Biogasanlage zusammengefügt hatte. In einer clusterartigen Anordnung standen die insgesamt 24 Tanks der zweiten Anlage, ein zweiter Block derselben Größe sollte noch vor dem Winter folgen.

Die Tests mit der ersten, wesentlich kleineren Anlage hatten beste Ergebnisse erzielt. Die Biogas-Anlage lieferte bereits jetzt gute Werte, und spätestens nach dem Winter konnte die Dorfgemeinschaft in Rennes-le-Château ihren gesamten Energie- und Wärmebedarf durch Biogas und Solar- beziehungsweise Windenergie decken. Hinter dem Château stand eine ganze Batterie an Gastanks, in die das komprimierte und verflüssigte Gas geleitet wurde, um es zu speichern.

Die mit langen Schlauchbahnen umwickelten aktiven Fermenter produzierten auch Wärme, die in das Kühlwasser abgeleitet und in den Treibhäusern zum Heizen benutzt wurde. Selbst im Winter würden hier Früchte und Gemüse gedeihen.

Die beiden Saarländer, die sich den Komplex ausgedacht und ihn mit Hilfe der anderen Dorfbewohner errichtet hatten, zeigten sich zu Recht stolz auf ihre Arbeit, denn die Konstruktion brachte dem Dorf eine neunzigprozentige Ersparnis bei den fossilen Brennstoffen ein. In den Tanks der Umgebung im Tal existierten zwar noch Reserven an Heizöl, Diesel und Benzin, doch die Umstellung auf Gas brachte erhebliche Vorteile mit sich. Bereits im nächsten Jahr könnte die inzwischen auf 108 Personen angewachsene Dorfgemeinschaft komplett autark existieren, mutmaßte man im Dorfrat.

Eben dieser Rat stand hier nun um die Phase II-Anlage herum versammelt und begutachtete das Werk. Alv, Eckhardt, Katharina, Birte, Wolfgang und die beiden Franzosen Claude und Hugo leiteten als gewählte Ratsmitglieder die Verwaltung des Dorfes.

In der Vollversammlung hatte es einige Diskussionen gegeben wegen der Berufung des Rates, doch letztlich kam man überein, dass die essenziellen Aufgaben am besten durch einen demokratisch gewählten Dorfrat verwaltet wurden. Verteidigung, Versorgung, Entsorgung und Lagerei sowie Raumordnung für Wohnung, Produktion und Gemarkung wurden durch den Dorfrat mittlerweile zentral reguliert, um Entscheidungen auch relativ zeitnah treffen zu können.

Natürlich gab es noch immer die morgendliche Vollversammlung, dort wurden auch weiterhin wichtige Themen besprochen. Aber mit einem Rat für das Alltägliche ließ sich die Gemeinschaft einfach besser organisieren.

»Ja, mein Lieber«, antwortete Alv dem sichtbar stolzen Vater der Biogasanlage, »das ist ein hübsches Stückchen Ingenieurskunst, das ihr beide da mit eurem Team abgeliefert habt. Ich bin schwer beeindruckt.«

Eckhardt nickte zur Bekräftigung, ebenso die anderen Ratsmitglieder. Mit einem Mal zischte es ganz in der Nähe laut. Alle sahen sich um.

»Kein Problem! Alles gut! Das war nur ein Entlüftungsventil für die Verflüssigerzuleitung. Ganz normal.«

Holger winkte beschwichtigend mit beiden Händen.

»Wenn der Verflüssiger anspringt, wird vorher in der Gasleitung ein Vakuum erzeugt, dann entweicht das Luft-Gas-Gemisch, das darin gestanden hat. Keine Gefahr, es riecht nur etwas …«

Ein röchelndes Geräusch unterbrach ihn. Er stutzte.

»… nach faulen Eiern …«

Die Warnung kam zu spät. Birte hing vornübergebeugt über einer Querverstrebung und ließ sich das Frühstück noch einmal durch den Kopf gehen.

Glucksend und würgend erbrach sie sich auf den Schotterplatz. Zu ihren Füßen bildete sich eine Lache von schwer zu identifizierender Farbe, der morgendliche Verzehr von Johannisbeergelee verlieh dem Ganzen jedoch optisch etwas seltsam Bedrohliches. Ralle war als Erster bei ihr und versuchte, sie zu stützen, doch sie wehrte ihn ab.

»Alles okay, geht schon, danke. Ich bin nur ein wenig empfindlich. Alles gut.«

Sie kam wieder hoch und Ralle reichte ihr ein Taschentuch, mit dem sie sich den Mund abwischte. Sie tauschte mit Alv ein paar vielsagende Blicke und wankte wortlos in Richtung Kirche davon.

»Ist alles gut bei ihr?«, fragte Holger.

Alv nickte.

»Alles gut, ja. Birte ist nur etwas geruchsanfällig hin und wieder.«

»Hat das mit ihrer Einsiedelei vorletzten Monat zu tun?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Hör mal, Alv. Ich bin zwar ein bisschen dusselig, aber nicht völlig blöd. Mit dem Mädel stimmt was nicht. Und wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, sie ist schwanger.«

Stille in der Runde. Holger stutzte und sah sich um.

»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«

Alv sah keinen Grund mehr, es noch länger zu verheimlichen. Bald würde es eh jeder sehen können. Er zuckte mit den Schultern und drehte seine Handflächen nach oben.

»Echt? Verdammt! Wie habt ihr das denn nun wieder hingekriegt? Ich meine, okay, wie das geht, das weiß ich noch. Ich meinte natürlich, wie ihr das mit dem genetischen Defekt geregelt habt. Ich dachte, T93 sorgt dafür, dass die Frauen nicht mehr fruchtbar sind?«

»Na ja«, warf Katharina ein, »wir haben aus den Blutproben, die wir in dem Grab gefunden haben, eine Gensequenz extrahieren können, die das T93-Gen erneut überschreibt und damit die Nebenwirkung eliminiert, einfach gesagt. Und wie es aussieht, ist das Experiment gelungen.«

Holger war völlig aus dem Häuschen. Er machte eine ausladend fuchtelnde Bewegung mit den Armen.

»Aber … aber das ist ja fantastisch! Damit gibt es wieder eine Zukunft! Das alles hier lohnt sich wieder.«

Alv nickte. Damit hatte Holger sicherlich Recht. Doch es gab noch diesen anderen Faktor, von dem nur ein kleiner Kreis wusste.

Neben der unbändigen Freude, welche die gute Nachricht von Birtes Schwangerschaft sicherlich auslösen würde, gäbe es noch eine Reaktion, die für alle hier lebensbedrohliche Ausmaße annehmen konnte. Sollte die Nachricht über das Heilmittel nämlich Rennes-le-Château verlassen und das Militär erreichen, würde dies Begehrlichkeiten wecken, von denen Alv und Eckhardt nicht genau wussten, ob sie ihnen genug entgegenzusetzen hatten.

Die beiden verließen die Baustelle und folgten Birte zur Kirche, wo ihr Wohnwagen stand, in dem sie mit Sepp lebte.

Im Vorzelt trafen sie die junge Frau an. Sie lag auf dem Sofa und starrte an die orange-grün gestreifte Decke über dem Zeltgestänge. Sie setzten sich in die altmodischen Cocktailsessel, die Sepp hier aufgestellt hatte, und Eckhardt zog sein Zigarettenetui heraus, überlegte es sich dann aber doch anders und steckte es wieder ein.

»Du kannst ruhig rauchen, Eckhardt«, sagte Birte monoton in der Stimmlage einer Todgeweihten, »es stört mich nicht. Wir sind ja fast draußen.«

Eckhardt jedoch ließ das Etui stecken. Er antwortete ihr in ruhigem Ton.

»Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Ich glaube, den Holger hast du ziemlich schockiert.«

Birte setzte sich aufrecht hin. Einige kleine Tränen kullerten über ihre Wange.

»Ich will nicht, dass dieser Gärtner mich holen kommt. Ich hasse diesen Kerl. Er hat allen Frauen dieser Welt das angetan, nur um seine Scheiß-Soldaten zu schützen!«

Jetzt wurden aus den Tränchen langsam Bäche und Birte zitterte. Sie reagierte höchst emotional.

»Ich will doch einfach nur in Ruhe leben! Mit Sepp und meinem Kind. Ist denn das zu viel verlangt?« Ungeniert ließ sie dem Wasser in ihren Augen freien Lauf und auf dem Holzboden zu ihren Füßen bildeten sich dunkle Flecken. »Könnt ihr ihm nicht diese Formel einfach geben, damit er uns in Ruhe lässt?«

Alv antwortete ihr ruhig und bestimmt.

»Ich befürchte, damit würde er sich nicht zufrieden geben. Wie ich den Marschall kenne, wird er alles wollen. Also, das Gen, die Formel, Tilly … und dich. Dich ganz besonders, schätze ich mal. Wir werden nicht um einen Kampf herumkommen.«

»Und wenn wir es einfach niemandem sagen?«

Birtes Stimme war zittrig und von Angst erfüllt. Man sah ihr an, dass nicht nur der körperliche Zustand ihr schwer zu schaffen machte.

»Die Dorfgemeinschaft hat ein Recht auf die Wahrheit«, antwortete Eckhardt, »wir müssen es ihnen sagen. Auch die anderen Frauen im Dorf haben ein Recht darauf, Kinder bekommen zu können.«

Birte nickte langsam und zögerlich. Langsam verebbte der Tränenfluss und sie gewann die Fassung zurück.

»Du hast ja Recht, Eckhardt. Entschuldige, dass ich so egoistisch bin. Es ist halt nur … so … ungerecht. Wir haben nie Frieden. Selbst hier müssen wir noch gegen Zombies kämpfen. Das ist so unfair.«

Sie stand auf, ging zur Küchenkommode und nahm eine Rolle Küchenpapier heraus. Ein kostbares Gut in diesen Zeiten. Sie riss zwei Blätter von der Rolle und trocknete ihre Tränen. Dann lachte sie.

»Wie gut, dass ich mich nicht mehr so schminke wie früher, wenn ich zur Arbeit ging. Dann sähe ich jetzt im Gesicht aus wie einer von diesen Walkern.«

Alle drei lachten. Die beiden Männer standen auf, und Alv nahm Birte in den Arm.

»Hör zu. Wir werden alles, was wir haben, aufbieten, um Gärtners Leute in die Schranken zu weisen. Dabei geht es für uns alle hier um Leben oder Tod. Das Dorf steht geschlossen hinter dir, und jeder von uns ist bereit, sein Leben für die anderen zu opfern. Wir werden das schon gemeinsam durchstehen. Wir berufen heute nach dem Mittagessen eine Versammlung ein und besprechen die Sache, okay? Also, ruh dich noch ein wenig aus. Wir sehen uns dann nachher.«

Dann gingen Eckhardt und Alv wieder ins Dorf hinunter, um die Versammlung vorzubereiten.