Jahr Zwei, 24. September. Nachmittag II

»Alv! Kommst du eben rüber, bitte? Das hier solltest du sehen!«

Aus dem Lautsprecher der Funkanlage in Alv Bulveys Küche schepperte Eckhardts Stimme. Der bullige Norddeutsche schaltete das Gerät ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Villa Béthania. Während er so die Grand Rue entlang durch das Dorf bummelte, fiel ihm auf, wie angenehm sich das Leben für die Gesellschaft des Willens gestaltete, trotz Zombieapokalypse und Engpässen zum Beispiel bei Medikamenten und einigen Annehmlichkeiten, die das Leben vorher geboten hatte. Hier brauchte niemand ein Smartphone oder einen Twitter-Account.

Freunde fand man nicht in der Facebook-Liste, sondern im Haus nebenan. Inzwischen bestand mehr als die Hälfte der Siedler aus Franzosen, die sich bis hierher durchgeschlagen hatten oder die sich auf den Trips der Dörfler in die weitere Umgebung dazugesellt hatten. Sogar einige Flüchtlinge aus der New World hatten es bis hierher geschafft und zeigten sich froh, in einer Gemeinschaft zu leben, die nicht durch Unterdrückung und Befehle funktionierte, sondern auf der Basis von Kooperation und Hilfsbereitschaft.

Alv hatte, sehr zum Entsetzen seines besten Freundes Eckhardt, die Dorfbewohner als die »letzten Hippies der Moderne« bezeichnet.

Das Leben im Dorf spielte sich dreisprachig ab – Deutsch, Französisch, Englisch. Irgendwie verständigte man sich immer untereinander, notfalls mit Händen und Füßen. Wolfgang und Anita, die aus Leipzig stammten, hatten im Dorfzentrum mittlerweile eine kleine Schule eingerichtet und unterrichteten dort die Kinder verschiedener Altersstufen, ganz so, wie es früher gemacht worden war. Jeder der Erwachsenen trug seinen Teil dazu bei, dass die Gemeinschaft überleben konnte.

Leute, die früher den Tag im Büro verbracht hatten, standen nun mit Freude in den Gärten und zupften Unkraut, betreuten die Fischfarm im Fundament des alten Schlosses, oder beackerten die kleinen Felder an den Hängen des Berges, auf dem Rennes-le-Château lag. In dem Frühling und Sommer, den die Leute hier nun lebten, hatten sie aus einem verlassenen Dorf ein kleines Paradies geschaffen.

Die Ressourcen der näheren und weiteren Umgebung hatten ihnen geholfen, die Versorgung mit Nahrung und Energie zu optimieren. Durch das Klonen von Pflanzen trugen die Wissenschaftler ihren Teil dazu bei, dass die Agrikulturen nicht an Saatgutmangel litten und dass es überall im Dorf und drum herum grünte und blühte.

Mit großem Eifer nutzten die Dorfbewohner wirklich jeden Winkel und jede Ecke, um Gemüse und Obst anzubauen, niemand litt hier Mangel. In den ungenutzten Räumen der Häuser und in den Kellern, die teilweise in die Höhlen des Berges mündeten, hatten die Dörfler große Mengen lange haltbarer Konserven eingelagert. Sepp und die anderen Trucker waren fast täglich unterwegs, um diese Vorräte weiter aufzustocken. Noch immer fanden sie Supermärkte und Lebensmittellager, aus denen sie Konserven holen konnten, die noch jahrelang haltbar bleiben würden.

Selbst so banale Dinge wie Seife und Toilettenpapier konnten in einigen Jahren durchaus zum Problem werden, so dass es auf lange Sicht klug war, bereits jetzt alle erreichbaren Vorräte im Berg einzulagern. In den tieferen Höhlen herrschte das ganze Jahr über eine gleichmäßige Temperatur von ungefähr zehn Grad Celsius, also optimale Bedingungen für die Lebensmittel, die dort gelagert wurden. Alles in allem war dieses Dorf für ein Überleben bestens ausgerüstet.

Alvs Stolz, den er angesichts der gemeinschaftlichen Anstrengungen verspürte, richtete sich auf das Funktionieren dieser Gruppe. Jeder gab hier sein Bestes. Neid und Missgunst konnte man nirgends feststellen, zu viel hatten alle verloren, als dass sie hier angesichts der ständigen Bedrohung durch die Zeds noch Begehrlichkeiten entwickeln würden, die über ein angenehmes Überleben hinausgingen.

Doch so idyllisch dieses kleine, autarke Dorf im diffusen Licht der Nachmittagssonne auch sein mochte, die Gefahr lauerte immer und überall. Vereinzelt streunende Walker trafen die Bewohner eigentlich fast täglich, und auch wenn sie nicht direkt das Dorf angriffen, so wurden sie dennoch bei Sichtung ausgeschaltet. »Nur ein toter Zed ist ein guter Zed« galt hier allgemein als Parole. Selbst die Kinder lernten in der Schule, wie man Walker ausschaltete, sich jedoch vor Huntern mucksmäuschenstill verbarg.

Der Schutz der T93-Genmanipulation, den diejenigen unter den Flüchtlingen, die mit der New World Army in Kontakt gekommen waren, genossen, betraf nicht alle hier. Das bedeutete, eine erhöhte Wachsamkeit und stete Kampfbereitschaft galten für alle. Jeder Einwohner über fünfzehn Jahre trug eine Schusswaffe, wenn er das Dorf verließ, und selbst die Kinder trugen Kampfmesser am Gürtel.

Wenn es zu Angriffen seitens der Zeds kam, wurde das Dorf innerhalb weniger Minuten komplett abgeschottet und jeder wusste, wo er Gewehre und andere Waffen binnen Sekunden erreichen konnte. Das Dorf bildete eine durchaus wehrhafte Truppe, die gute Chancen hatte, auch in Zukunft den Zed-Angriffen standzuhalten. Doch nun stand ein Feind vor der Tür, der gefährlicher war als selbst die furchtbaren, albtraumhaften Struggler-Zeds.

Alv erreichte die alte Villa, die der Abbé Bérenger Saunière Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte errichten lassen. Das dreistöckige Gebäude, benannt nach Bethanien, dem Heimatort des Lazarus aus dem Neuen Testament der Bibel, wurde für damalige Verhältnisse ausgesprochen opulent im Neorenaissance-Stil erbaut, hier hatte Eckhardt seine Einsatzzentrale eingerichtet. Im Erdgeschoss gab es zwei Räume, einer diente als Funk-, Computer- und Kartenzentrale, während der andere die Panzersteuerung beherbergte. Von hier aus wollten Eckhardt, Alv, Gernot und Wolfgang die vier Panzer steuern, die das Dorf schützen sollten.

Alv betrat die Villa durch den Haupteingang und wandte sich nach rechts, um in das Kartenzimmer zu gelangen. Dort saßen Eckhardt und Holger an einem der Computerplätze. Dieser Rechner hatte über eine Satellitenverbindung Zugriff auf den öffentlichen Teil des ARPAII-Netzes des Militärs, er stellte gewissermaßen die Nabelschnur zur New World dar. Als Eckhardt seinen Freund eintreten sah, nahm er ein Papier aus dem Drucker und kam auf ihn zu.

»Das haben wir eben in unserer Dropbox gefunden, es stammt von diesem Wissarion-Hacker. Er schreibt, es sei eine Nachricht aus dem Inneren der Feste Rungholt, Top Secret. War verschlüsselt und camoufliert, scheint echt zu sein.«

Alv nickte.

»Was ist es?«

»Sieh selbst.«

Eckhardt reichte Alv die Seite. Der las sich den Text aufmerksam durch.

›Verehrte Herren Bulvey und Zinner. Sie wissen nicht, wer ich bin, und es spielt auch keine Rolle. Sie sollten jedoch wissen, dass ich Sie unterstütze. Aus diesem Grund sende ich Ihnen auf Umwegen die nachstehenden Daten. Erwarten Sie am frühen Morgen des zweiten Oktober einen Angriff der New World Army auf Ihr Dorf.

Drei Spezialeinheiten zu je zwölf Mann sind angewiesen, in das Dorf einzudringen und Frau Birte Radler, Professor Ernst Wildmark und Sigurd Möller zu entführen sowie sämtliche Forschungsergebnisse zum T93-Komplex sicherzustellen.

Vier Black-Hawk-Helikopter werden den Angriff fliegen und drei Transportmaschinen setzen die Trupps ab. Die Kampfhubschrauber sind mit Zwanzig-Millimeter-Kanonen und Raketen bewaffnet. Es ist angeordnet worden, keine Zeugen zu hinterlassen.

Unter den Angreifern sind US-Amerikaner der Night Stalker Einheit, einige SAS-Mitglieder und ein Dutzend SpezNas-Männer. Die russischen SpezNas-Kämpfer werden Sie daran erkennen, dass sie Sankt-Georg-Bänder am Arm tragen. Sie sollten nicht(!) auf die SpezNas-Kämpfer schießen. Den Grund dafür werden Sie sehen, wenn es soweit ist. Mehr kann ich von hier aus zunächst nicht für Sie tun. Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg für das, was nun vor Ihnen liegt. Schlagen Sie sich tapfer! Ein Freund.‹

»Also der Russe«, meinte Alv nickend.

»Ja«, antwortete Eckhardt, »aber den hatte ich die ganze Zeit im Visier. Wissarion schrieb noch, den chinesischen General hat der Marschall exekutieren lassen, ein Brite führt jetzt das fliegende Personal. Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass ein Russe da oben im Norden aufräumen will.«

»Wieso?«

»Nach dem zweiten Weltkrieg war Russland die einzige Nation, die sich aus eigener Kraft wieder aus den Trümmern erhoben hat. Die Westalliierten haben sich gegenseitig unter die Arme gegriffen, aber Sowjetrussland, als das damals größte Land der Erde, hat sich selbst aus der Asche erhoben. Du weißt ja, ich hab zusammen mit Russen in der Zone gedient. Die Burschen waren unglaublich zäh und ihre Kommandanten alle fähige Militärs. Einem russischen General hat dieser abgebrochene Kraut da auf Helgoland nichts entgegenzusetzen. Wahrscheinlich hat dieser – wie heißt er noch gleich? – Pjotrew, glaube ich … wahrscheinlich hat der längst einen Plan für einen Putsch, und wir sind ein Teil davon.«

Alv sah Eckhardt fragend an.

»Meinst du?«

»Na, aber sicher. Ein russischer General geht nicht mal aufs Klo ohne einen Plan. Todsicher, der Mann plant etwas. Er will, dass der Angriff auf das Dorf scheitert. Irgendwie stärkt das seine Position zu Hause. Wahrscheinlich sollen seine Leute den Angriff sabotieren oder uns raushauen oder so. Im unangenehmsten Fall sollen die vielleicht bloß dokumentieren, wie wir hier abgeschlachtet werden.«

Alv überlegte und sah noch einmal auf das Papier.

»Also gut«, murmelte er, »eine Woche also. Dann bleibt uns nicht viel Zeit.«

Er ging hinüber zum Kartentisch, wo eine hochauflösende topographische Karte des Berges ausgebreitet lag. Darüber eine Folie, auf der die Häuser von Rennes-le-Château eingezeichnet zu sehen waren. Eine weitere Folie zeigte die Höhlen im Berg, wo die Gemeinschaft ihre Waren lagerte. Diese führten zum Teil über einhundert Meter in die Tiefe, waren jedoch nur ungefähr zur Hälfte begehbar.

»Was meinst du, Eckhardt?«

»Würde vorschlagen, wir bringen die Kinder und einige der Frauen in die Höhlen hier und hier«, meinte dieser und zeigte auf zwei dunkle Flecken in der Mitte der Karte, »vorher sollten wir aber noch Waffen und Munition dort deponieren, damit sie sich im allerschlimmsten Fall verteidigen können. Zahlenmäßig sind wir den Angreifern etwas überlegen, aber es sind halt gut durchtrainierte Spezialeinheiten. Unsere Abwehrstellungen sind soweit okay, im Grunde brauchen wir da nichts weiter zu unternehmen. Na ja, vielleicht stellen wir ein paar zusätzliche Hindernisse auf. Aber wir sollten die nächsten Tage darauf verwenden, eine Kerntruppe auf den Häuserkampf intensiv vorzubereiten. Es sind keine Zombies, die da herumlaufen, sondern Leute, die zuerst schießen und keine Fragen stellen. Unsere Leute müssen wissen, dass es diesmal ums Ganze geht.«

»Haben wir eine Chance?«

Eckhardt schaute nachdenklich auf die Karte und schnaufte.

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Wir sind zwar gut gerüstet und unsere Leute können mit den Waffen umgehen, aber wir sind lange nicht so kampferfahren wie die Angreifer. Andererseits haben wir deutliche Vorteile, was die Ortskenntnis angeht. Der wichtigste Punkt ist, die Kampfhubschrauber in einer möglichst frühen Phase der Schlacht außer Gefecht zu setzen. Unsere Raketenstellungen und die Flugabwehrpanzer sollten das eigentlich schaffen. Die Transporthubschrauber werden ihre Leute wahrscheinlich über dem Dorf abseilen, und solange wir nicht wissen, in welchem die Russen sind, können wir sie nicht ernsthaft unter Feuer nehmen. Ich würde aber vorschlagen, drei Mann mit je vier Raketen direkt unter den Dächern etwas östlich vom Ortskern zu postieren. Wenn wir die Teams der Angreifer identifiziert haben, sollen die versuchen, die Helikopter vom Himmel zu holen. Wichtigster Punkt ist, dass wir in möglichst kurzer Zeit möglichst großen Schaden anrichten. Der Marschall muss merken, dass der Preis für seine Beute zu hoch ist beziehungsweise seine Leute im Generalstab müssen das merken. Der Russe wird dann schon seine Gelegenheit nutzen, um aus Gärtners Niederlage seinen Vorteil zu ziehen. Ich hoffe jedenfalls, dass es so läuft.«

Alv schaute ziemlich verdrießlich drein. Er schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Gefällt mir gar nicht, die Geschichte. Weißt du, wenn diese Flitzpiepe von Marschall uns einfach nur gefragt hätte wegen des T93X, dann hätte man sich doch einigen können. Aber diese Allmachtsfantasien sind echt widerlich. Selbst wenn Gärtner uns alle tötet, auch die Frauen und Kinder, wird er das Mittel nicht in seine Finger bekommen. Das ist so sinnlos, was dieser Idiot da macht. Aber gut, werden wir halt kämpfen. Wie wir es immer tun. Gnade Gott seinen Kämpfern!«

Die Männer brüteten noch bis zum Abend über Plänen, Taktiken, Ausweichplänen und allen nur erdenklichen Szenarien. Alv lud Eckhardt später noch zum Abendbrot ein. Während des Essens und danach führten sie ihre Besprechungen weiter fort.