Jahr Zwei, 23. September. Mittag

»Ich eröffne hiermit unsere Vollversammlung. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen, die unser aller Leben verändern werden.«

Alvs Tochter Cara übersetzte Eckhardts Worte ins Französische. Er wartete jeweils die Übersetzung ab, bevor er weitersprach.

Im Saal hatte sich der größte Teil der Dorfgemeinschaft versammelt, die Wachposten verfügten über Funkgeräte, die jedes Wort aus dem Versammlungsraum übertrugen.

Eckhardt sprach weiter.

»Wie die meisten von euch ja wissen, waren wir vor einiger Zeit auf der Suche nach einer Lösung für das durch das T93 verursachte Problem der Unfruchtbarkeit. Wir haben in den Gewölben unterhalb des Dorfes eine DNA gefunden, die es uns ermöglichte, genau diese Lösung Realität werden zu lassen. Durch das Mittel, das unser Professor mit seinem Team entwickelt hat, können wir bei den Frauen, die mit T93 behandelt wurden, die unerwünschte Nebenwirkung eliminieren. Ich weiß, das betrifft nicht alle Frauen hier. Aber es betrifft alle Frauen, die aus dem Gebiet der New World stammen. Unser Heilmittel hat seine Wirkung unter Beweis gestellt, denn Birte trägt mittlerweile ein Kind in sich.«

Im Raume rumorte es und als alle die Nachricht verstanden hatten, klatschten die Leute. Eckhardt hob die Hände und der Geräuschpegel sank wieder ab. »Das war die gute Nachricht. Aber es gibt auch eine weniger gute Nachricht. Wir befürchten, dass die Soldaten der New World bald hier aufschlagen werden, um uns das Gegenmittel wegzunehmen. Wir nehmen ebenfalls an, dass sie uns nicht höflich darum bitten, sondern uns angreifen werden, um das Wissenschaftsteam und nicht zuletzt auch Birte zu entführen.«

Als Cara übersetzt hatte, wurde es laut. Einige der Anwesenden taten ihren Unmut lautstark kund und in der mittleren Tischreihe erhob sich Ralle. Als er zu sprechen anfing, hielten die anderen inne.

»Ich spreche sicher nicht für alle hier. Aber was mich angeht, so haben meine Familie und ich dieser Gemeinschaft viel zu verdanken.«

Er drehte sich, während er sprach, langsam zu allen Seiten um und zeigte nach vorn zum Ratstisch.

»Diese Leute dort haben dafür gekämpft, dass wir weiterleben können. Sie haben uns durch die Hölle geführt, damit wir uns hier ein Paradies erbauen können. Und ich bin stolz auf das, was wir alle hier gemeinsam geschaffen haben. Und ich werde nicht zulassen, dass ein Mitglied unserer Gemeinschaft gegen seinen Willen von hier fortgebracht wird oder dass jemandem hier ein Leid zugefügt wird.«

In der Versammlung regte sich Zustimmung. »Ja!«- und »Bravo!«-Rufe der Zustimmung ertönten, die Menschen nickten und einige klopften auf die Tische.

»Ich sage: Wenn diese Soldaten hier einmarschieren wollen, dann haben sie sich verdammt noch mal etwas vorgenommen. Wir haben schon ein ganzes Heer von Zeds abgewehrt, da machen mir ein paar Soldaten keine Angst. Sollen sie doch kommen, wir werden sie gebührend empfangen!«

Dann wurde es still, denn Birte erhob sich von ihrem Stuhl. Sie wartete einen Moment, bevor sie sprach. Ihre Stimme klang weich und sanft.

»Mein lieber Ralle, danke für deine mutigen Worte. Ihr alle seid so mutig, das habe ich hier jeden Tag aufs Neue gesehen. Aber ich weiß nicht, ob Mut allein ausreichen wird, um diesen bevorstehenden Angriff abzuwenden. Die Soldaten des Marschalls sind gut ausgerüstet, sie sind keine Walker. Ich möchte, dass ihr euch der Gefahr bewusst seid, die da auf uns zu kommt. Es ist eine große Gefahr. Der Professor und ich haben die Alternative erwogen, von hier fort zu gehen, um das Dorf zu schützen. Wir könnten alle Forschungsergebnisse kopieren, sie hier deponieren und dann nach Norden gehen, um uns zu ergeben. Ich möchte nicht, dass ihr oder eure Kinder Schaden nehmt.«

Ihre Stimme wurde zusehends brüchiger und sie musste sich setzen. Tränen rannen über ihre Wangen, sie nahm sich eine Stoffserviette, um sie wegzuwischen. Als Cara übersetzt hatte, erhob sich Alv Bulvey und räusperte sich. Das Gemurmel im Raum verstummte abermals.

»Ich denke, dass ich mir anmaßen kann, für alle hier im Raum und draußen an den Funkgeräten zu sprechen. Wir alle sind zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. Zur Gesellschaft des Willens. Wir alle sind hier, weil es unser Wille ist, hier zu leben. So, wie wir es tun. Und wenn ich sage alle, dann meine ich alle. Und das bedeutet: Was immer passiert, passiert uns allen. Niemand muss sich opfern, damit es unserer Gemeinschaft gut geht. Was wir durchstehen, das stehen wir zusammen durch. Als Gemeinschaft. Sicher, wir haben Kinder hier im Dorf und ein militärischer Angriff könnte uns oder unseren Kindern Schaden zufügen. Diese Gefahr ist groß.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag in dem Tunnel, als wir durchbrechen mussten. An diesem Tag hätte ich beinahe alle Hoffnung verloren. Ich dachte, meine Familie würde an diesem Ort und zu dieser Zeit sterben, oder Schlimmeres. Und doch! Es gab eine Rettung und wir alle haben diesen Tag überlebt. Und so wird es auch sein, wenn uns das Militär angreift. Wir werden in Gefahr sein, in großer Gefahr.

Ob wir davor Angst haben, bestimmen wir selber. Angst, meine Freunde, Angst ist eine Entscheidung, keine Naturgewalt. Stellt euch also eurer Angst, lasst sie durch euch hindurchgehen und stellt fest, dass hinter der Angst ihr selbst seid.

Und dann kämpft mit uns. Für unsere Gemeinschaft. Für die Zukunft unserer Kinder. Dich, Birte, und dich, Ernst, bitte ich, nicht aufzugeben. Bleibt an unserer Seite und kämpft mit uns. Für uns. Und wir werden mit euch zusammen kämpfen. Für euch.«

Alv setzte sich, und nachdem Cara die letzten Worte übersetzt hatte, geschah eine Sekunde lang nichts. Dann begannen die ersten, mit den Fingerknöcheln auf den Tisch vor ihnen zu klopfen. Erst leise, dann lauter.

Andere fielen ein und kurz darauf dröhnte ein Stakkato durch den Raum, der die Scheiben der Fenster erzittern ließ. Fast einhundert Hände klopften ihre Zustimmung.

Nur einer, der draußen auf der Mauer am Funkgerät saß, schüttelte langsam den Kopf.