Jahr Zwei, 28. September. Später Abend VI

Noch immer lag Alv Bulveys Hand auf dem Griff der Pistole.

»Wenn dieser kleine Junge«, sprach Alv seinen Schwiegersohn ruhig und betont langsam an, »nicht der Sohn meiner Tochter und damit mein Enkel wäre, dann wäre diese Unterhaltung jetzt beendet und Sepp würde deinen Kadaver zum Steilhang fahren, um ihn an die Zeds zu verfüttern.«

Thorsten schluckte merklich. Er schlotterte noch immer vor Angst.

»Wir könnten das diskret erledigen«, knurrte Eckhardt, »gleich und irgendwo, wo es niemand sieht.«

»Nein, Eckhardt. Ich will nicht den Vater meines Enkels auf dem Gewissen haben. Sepp. Er wird mit Handschellen gefesselt und in einen abgeschlossenen Raum gebracht. Morgen früh dann werden wir ihm Verpflegung mitgeben und ihn nach Carcassonne fahren. Von dort aus kann er sich dann ja zu seinen Truppen in der geliebten Heimat durchschlagen.«

Eckhardt sah Thorsten noch immer mit zornigem Blick direkt in die Augen, sofern diese nicht erschrocken von einem zum anderen wanderten.

»Also gut, Glückspilz,« grunzte Eckhardt, »dann darfst du morgen zeigen, was für ein harter Kerl in dir steckt. Iron Man, made by Bundeswehr. Nichts für ungut, Sepp.«

Der stand im Türrahmen und grinste. Eckhardt fuhr, an Thorsten gewandt, fort. »Wenn du dich allerdings in Zukunft diesem Dorf auch nur auf einen Kilometer näherst, dann sorge ich persönlich dafür, dass dies deine letzten Schritte auf Erden sind. Sepp, sei so gut und schaff mir diesen schlotternden Haufen Dreck aus den Augen, bevor ich meine Meinung noch ändere!«

Sepp riss den jungen Mann am Kragen aus dem Stuhl und zerrte ihn aus der Küche. Als die Haustür ins Schloss fiel, kamen Katharina, Birte und Rhea aus dem Wohnzimmer in die Küche. Alvs Tochter wirkte ziemlich bedrückt.

»Was machst du mit ihm, Daddy? Wirst du ihn töten?«

»Nein. Aber er kann hier nicht bleiben. Wir werden ihn verbannen.«

»Du wirfst ihn raus? Das überlebt der doch nicht. Wenn Thorsten nicht jemanden hat, der ihm sagt, was er machen soll, dann geb ich ihm nicht lange.«

»Das, mein Kind, ist nicht meine Sache. Unter den gegebenen Umständen kommt er damit noch ganz gut weg. Er kann ja seinen Freund, den Marschall, anrufen und ihn fragen, ob er ein Taxi schickt. Was wirst du dem Kleinen sagen?«

»Ich werde ihm sagen, dass sein Vater ein Verräter ist, der hier keinen Platz mehr hat. Warum sollte ich mein Kind belügen? Eliot hat ein Recht auf die Wahrheit. Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht, Leute.«

Die Anwesenden wünschten Rhea auch eine gute Nacht, und sie verschwand in den hinteren Teil des Gebäudes, in dem die Schlafzimmer lagen. Auch Birte brach auf, um sich in ihrem Wohnwagen-Domizil zur Ruhe zu begeben.

Eckhardt setzte sich wieder neben Alv und goss sich Kaffee nach. Er leerte die Tasse in einem Zug.

»Tja, da ist es wohl nun vorbei mit dem Überraschungsmoment. Gärtner kennt also unsere Stellungen. Und ich Idiot hatte die ganze Zeit Sepp in Verdacht.«

»Das ging mir ja auch so, Eckhardt. Es war ein Fehler, sich auf nur einen Verräter gedanklich festzulegen.«

»Ja. Wir hätten aufmerksamer sein müssen. Wir sind Gärtners Schläfer-Taktik voll auf den Leim gegangen. So was darf nicht passieren. Ich ärgere mich maßlos darüber, dass ich so blind sein konnte. Verdammt!«

Er hieb mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Ja«, erwiderte Alv und klang dabei etwas resigniert, »und nun haben wir bereits den Verrat in unserer Mitte, kaum dass die Gemeinschaft zur Ruhe gekommen ist. Das trifft mich eigentlich am meisten. Es war wohl nur eine Illusion, dass es mit der Gesellschaft des Willens funktionieren würde. Vielleicht endet es hier, wie es mit der Menschheit immer endet. In Chaos und Verzweiflung.«

Katharina legte ihm von hinten die Arme um den Hals und drückte ihre Wangen an seine. »Du solltest das nicht so negativ sehen, Alv Bulvey. Wir alle zusammen haben hier so viel erreicht. Das kann einer allein gar nicht zerstören. Ich setze großes Vertrauen in unsere Gemeinschaft. Und du tust das auch, das weiß ich, alter Brummbär.«

Sie küsste ihn zärtlich. Eckhardt hüstelte etwas gekünstelt.

»Und du, alter Zausel«, sagte Katharina in seine Richtung, »solltest deine imposante Statur langsam mal zu Gertrud rüber verfrachten. Die wartet nämlich darauf, dass du dort mal vorstellig wirst.«

»Wer? Ich? Wieso? Hat sie das gesagt?«

»Vertrau mir, Eckhardt. Ich bin eine Frau.«

Der stattliche Zweieinhalbzentnerbursche erhob sich, raffte seine Rauchutensilien zusammen und machte sich auf den Weg, seine Flamme zu besuchen. Vielleicht würde er noch mit ihr über ein paar philosophische Grundsatzfragen debattieren, vielleicht hatte sie aber auch längst ganz andere Pläne für den Abend.

Katharina jedenfalls ließ ihren Geliebten nicht lange in Unkenntnis darüber, wie sie sich den weiteren Verlauf des Abends vorstellte. Die großen Kinder in den Nebenzimmern würden sich wohl für eine Weile etwas tiefer in ihre Kissen vergraben müssen, um Ruhe zu haben. Soviel stand fest.