Jahr Zwei, 24. September. Nachmittag III

»Haben sie die Nachricht bekommen?«

Igor stand hinter Oleg und sah auf die vielen Monitore, die den Raum in ein seltsam kaltes Licht tauchten. Überall liefen diverse Zahlen- und Buchstabenkolonnen über die Bildschirme. Auf einigen konnte man verschiedene, unterschiedlich gefärbte Fenster geöffnet sehen, in denen Leistungskurven angezeigt wurden, Gitternetze aus farbig markierten Einwahlknoten und haufenweise Symbole, die Igor nicht zu deuten vermochte.

Von Computern verstand er nicht viel. Sicher, daheim in Moskau hatten sie auch einen Computer mit Internetanschluss besessen, den er dann und wann benutzt hatte, um im sozialen Netzwerk VK Freunde und alte Marinekameraden virtuell zu treffen und in speziellen Gruppen über die alten Zeiten zu plaudern oder Fotos zu tauschen. Aber für mehr als ein Tastatur-Telefon mit Bildschirm hatte Igor die Apparate nie gehalten. Er bewunderte Oleg dafür, dass er mit dieser Maschine in die gesicherten Militärcomputer der New World Army eindringen konnte, um ihnen die bestgehüteten Geheimnisse zu entreißen.

In seiner aktiven Zeit damals auf der Severstal, dem wohl größten je gebauten U-Boot, gab es natürlich auch jede Menge Computer, aber die wurden von den höheren Offiziersrängen bedient. Die Mannschaftsgrade benutzten Schalter und Hebel, Stellräder und Schieberegler, um die ihnen zugewiesenen Tätigkeiten zu verrichten. Und natürlich Kartoffelschäler und Wischmopps.

Doch was der junge, langhaarige Hippie da leistete, das galt ihm etwas. Die Stunden, die er vor der Flimmerkiste verbrachte, wogen die Arbeit einer ganzen Division Soldaten auf. Oleg besorgte Aufmarschpläne, Einsatzszenarien, Energieverteilungspläne, Top Secret Akten, letztlich alles bis hin zum Speiseplan der Offiziersmesse. Der übrigens unterschied sich gewaltig von dem der einfachen Soldaten, die mit derselben Pink Paste abgefüttert wurden wie die Siedler.

Alle fraßen dieses ekelerregende Zeug, das die Junta in geheimen Fabriken aus gefangenen Walkern herstellen ließ. Eingekochte Zombies aus der Tube. Schauderhaft, fand Igor. Die Offiziere hingegen lebten da in ihrer Festung auf dem eisumringten, roten Felsen in der Nordsee wie Fürsten.

Dort gab es aus alten Bulk-Carriern gefertigte Seafood-Fabriken, und wie Oleg herausgefunden hatte, besaßen die Obersten sogar auf einigen dänischen Inseln Farmen, in denen nicht infiziertes Geflügel und sogar Schweine und Rinder in Hochsicherheitsbereichen, abgeschnitten von der Außenwelt, Fleisch, Milch und Eier lieferten.

Alles Dinge, die man in den Siedlungsgebieten nur in Pulverform aus alten Beständen erhalten konnte, wenn man privilegiert war und einen entsprechend hohen Posten in der Verwaltung bekleidete.

All diese kleinen Schweinereien hatte Oleg aufgedeckt und unter dem Label Wissarion im ARPAII-Netz des Militärs auf öffentlich zugänglichen Kanälen verbreitet. Erstaunlicherweise hatte das Militär nach der Rückeroberung Deutschlands und angrenzender Gebiete sehr schnell damit begonnen, Rundfunk und eine Art simples Internet wiederherzustellen. Dieses Netz wurde als Bestandteil des militärischen Computernetzwerkes ARPAII betrieben und über Kabelverbindungen und Datenfunk gespeist. Die Herrscher des Imperiums benutzten dieses Netz natürlich hauptsächlich für Propagandazwecke, aber etwa ein Drittel der Kapazitäten wurde ausschließlich zu Unterhaltungszwecken bereitgestellt.

Oleg hatte es Igor an den Bildschirmen vorgeführt. Es gab Filmdatenbanken, aus denen sich die Werktätigen mittels Tabletcomputern oder Laptops mit Unterhaltungs-Programmen versorgen konnten, aber auch moderierte Diskussionsforen, Chatboxen und eine neue Art von Social Web. Die Obrigkeit handelte nach dem alten juvenalischen Prinzip panem et circenses, also Brot und Spiele. Wer gehorchte, bekam Sonderrationen und Zugang zu bestimmten Unterhaltungsbereichen. Ganz nebenbei ließen sich die relativ überschaubaren Social Web Bereiche natürlich hervorragend überwachen, und Aufsässige waren einfach auszumachen. In den Foren bewegten sich sogenannte Spotter, die provokant aufrührerisch auftraten und andere Teilnehmer dazu bringen sollten, sich negativ über das System zu äußern. Geschah dies, wurde der entsprechende Teilnehmer binnen kürzester Zeit lokalisiert, verhaftet und anschließend sofort nach Osten deportiert.

Oleg nutzte diesen quasi halböffentlichen Bereich, um die Leaks zu platzieren. Er verfasste Statements und schnitt geheimes Videomaterial wie zum Beispiel das aus den Paste-Fabriken in Video-Files zusammen und imitierte mit dem Paket eine Filmdatei.

Dann überspielte er die Original Filmdatei auf den New World Servern mit seinem Leak-Video und platzierte unter ständig wechselnden Accounts gewisse Filmempfehlungen im Social Web. Dazu kaperte er tatsächliche Accounts, übernahm diese quasi durch die Hintertür und gab sich als die betreffende Person aus. Hierfür wählte er grundsätzlich nur Accounts von dienstbaren und hörigen Blockwarten aus. Sollte es zu Deportationen aufgrund der Filmempfehlung kommen, träfe es wenigstens keine Unschuldigen, meinte Oleg.

Zusätzlich verbreitete Igor über Langstreckenfunk im Achtzig-Meter-Band seine Antipropaganda und erzählte den Funkern in aller Welt von den unterdrückerischen Machenschaften des Regimes. Da sie keinerlei Feedback erhielten, schossen Igor und Oleg aka Wissarion natürlich grundsätzlich ins Blaue, aber der nicht abreißende Strom von Deportierten ließ darauf schließen, dass sich im Reich des Marschall Gärtner so einiger Unmut regte. Interessanterweise konnte Igor im Langwellenbereich immer wieder Funksprüche von außerhalb des New World Siedlungsgebietes aufschnappen. Ihm fiel auf, dass aus Amerika nichts kam. Nicht ein Ton, und das, obwohl sein Empfangsbereich theoretisch bis nach Chile reichte. Aus Südeuropa, wo es verschiedene Nester von Überlebenden gab, aber auch aus Afrika und von den Mittelmeerinseln kamen immer mal wieder Calls. In der Regel handelte es sich dabei um kleine Gemeinschaften, die sich irgendwo verschanzt hatten und nach Ihresgleichen in den Äther riefen.

Auch mit den Überlebenden, die in Rennes-le-Château eine kleine Festung errichtet hatten, gab es hin und wieder sporadischen Funkkontakt. Nun bekundete General Pjotrew offenbar gesteigertes Interesse an der Kommunikation mit diesen Leuten dort, es handelte sich wohl um Deutsche und Franzosen. Offenbar kam dieser Truppe dort eine gewisse strategische Bedeutung zu.

»Ja, Igor, die Nachricht wurde abgerufen.«

Oleg drehte sich um und sah Igor an. Der nickte zufrieden.

»Gut. Ich hoffe, die Nemetskij verstehen wenigstens im Ansatz etwas von Kriegsführung. Falls nicht, ist der Zauber dort schnell vorbei. Bleib am Ball, wenn es da losgeht, Oleg. Ich konzentriere mich dann auf den Funk. Für heute sind wir soweit fertig. Draußen lässt sich eh nichts mehr machen, es zieht ein Schneesturm auf. Mal wieder.«

Der junge Hacker erwiderte mit weicher Stimme:

»Dann haben wir den Abend für uns? Das ist schön. Ich habe den Film ›Jagd auf Roter Oktober‹ mit Sean Connery gezogen. Wir könnten ihn uns nachher im Bett anschauen. Ich mache vorher noch etwas Feines zum Abendessen und wir baden dann. Später den Film schauen. Was meinst du, Igor?«

Igor war bereits auf dem Weg in die Küche. Dort stellte er ein schmutziges Wasserglas auf den Tisch und holte eine Flasche Wodka aus der Schublade im Küchentisch.

Er goss sich drei Finger breit ein und kippte den Schnaps in einem Zug runter. Dann sah er durch die offene Tür zu Oleg ins andere Zimmer hinüber, der ihn anstrahlte.

»Ja, ja! Sicher können wir das tun. Was hast du fürs Essen?«

»Die alte Dunja von gegenüber hat heute Morgen beim Eisfischen einen großen Wels gefangen. Sie hat uns ein gutes Stück davon geschenkt. Ich wollte ihn dünsten und mit Reis und Rübenmus anrichten.«

»Aber die alte Vettel kommt doch wohl nicht zum Essen herüber?«

»Nein, Igor. Natürlich nicht. Ich weiß doch, dass du Besuch nicht magst. Aber sie lässt grüßen. Ich habe ihr ein paar Folgen von Bednaja Nastja heruntergeladen. Sie macht sich heute wohl einen schönen Serienabend. Und wir schauen einen amerikanischen Film.«

Eigentlich mochte Igor amerikanische Filme nicht, erst recht nicht, wenn darin Russen vorkamen. Die waren immer die bösen. Aber dieser Film sagte ihm doch zu, nicht zuletzt, weil er gut recherchiert war und eine spannende Handlung besaß.

Am besten gefiel ihm die Stelle, an der die Soldaten unter Wasser die Gimn Sowjetskowo Sojusa sangen, die Hymne der alten UDSSR. Er ging ins Bad neben der Küche und heizte den Ofen an, während Oleg die Rechner herunterfuhr und sich in der Küche zu schaffen machte. Es würde wohl ein entspannter Abend werden.

Vier Stunden später lagen die beiden verschwitzt und entspannt im Bett. Igor rauchte und Oleg kraulte, auf einen Arm gestützt, die Locken in Igors Brusthaar.

»Wie war sie so?«, fragte er

»Wer?«

»Deine Frau.«

»Das geht dich nichts an.«

Oleg zog eine Schnute. Er ließ seine Finger weiter durch Igors üppiges Brusthaar streichen. Dann sagte er unvermittelt mit weicher, leicht brüchiger Stimme:

»Sascha war etwas jünger als ich, achtzehn. Wir haben uns sehr geliebt. Aber dann kamen die Zombies. Wir hatten uns in einer alten Fabrik versteckt, hinter einem schweren Gitter. Als sie kamen, stand Sascha zu dicht am Gitter. Eines der Monster riss ihn von den Füßen und dann zogen sie ihn unter dem Gitter durch. Weißt du, der Spalt war vielleicht gerade mal zwanzig Zentimeter hoch und sie haben ihn einfach hindurchgerissen. Als er halb auf der anderen Seite war, haben sie in ihn hineingebissen. Es waren so viele, dass ich ihn fast nicht mehr sehen konnte. Nur seine Schreie und das furchtbare Schmatzen dieser Bestien werde ich niemals vergessen können. Als nur noch sein Kopf auf meiner Seite des Gitters war, konnte ich in seine Augen sehen. Ich habe ihm eine Eisenstange in den Schädel gerammt. Damit er nicht wieder aufsteht. So viel Schmerz. Ich träume manchmal nachts davon. Es ist furchtbar.«

Er legte seinen Kopf auf Igors Brust und weinte. Igor konnte spüren, wie die Tränen über seine Haut liefen. Mit der freien Hand kraulte er Oleg durch das lange blonde Haar.

Und er dachte an Olga und Iliana und an seine Mutter. Im Grunde war ihr Tod gnadenvoll im Gegensatz zu dem, was Oleg gerade geschildert und was er selbst in letzter Zeit so oft gesehen hatte.

Igor kippte sich noch ein paar Fingerbreit Wodka hinter die Binde, rauchte noch eine und dann schliefen die beiden ein.