Jahr Zwei, 28. September. Später Abend II

»Wir haben heute den Bunker besichtigt und für den Ernstfall geübt, Paps.«

Arnie, Alvs Jüngster, strahlte über das ganze Gesicht.

»Anita und Gertrud haben uns gezeigt, wie wir uns unten in den Höhlen verhalten müssen, wenn die Soldaten angreifen.«

»Ja, und du warst mal wieder der Letzte«, unkte sein ein Jahr älterer Bruder Angus. Er machte sich gern über seinen kleinen Bruder lustig.

»Aber nur, weil ich mich gestoßen habe. Guck, Paps, eine Beule.«

Er hielt seinem Vater den von wuschigem, langen Haar bedeckten Kopf hin.

»Nicht jetzt beim Abendessen«, meinte Alv ruhig, »ich schaue nachher. Reich mir bitte die Margarine, Arnie. Und du, Angus, hörst bitte auf, deinen Bruder zu veräppeln. Ihr seid keine Kindergartenkinder mehr. Jetzt gibt es Essen, also Ruhe am Tisch, bitte.«

Alv saß mit seiner gesamten Familie am großen Esstisch in der Küche seines Hauses am Dorfeingang. Eckhardt war auch zum Essen gekommen, er hatte nie recht Lust, für sich allein zu kochen, und so aß er oft bei Alv im Haus. Katharina, die inzwischen hier wohnte, freute sich über den Gast, denn trotz ihrer Tätigkeit als Wissenschaftlerin war sie eine leidenschaftliche Köchin. Überhaupt war Leidenschaft eine ihrer hervorstechendsten Charaktereigenschaften, fand Alv. Er war nach seiner Trennung nicht davon ausgegangen, sich noch einmal zu binden, doch Katharina war in sein Leben gekommen wie ein Tsunami und hatte jede Gegenwehr fortgerissen. Die beiden waren nun ein festes und auch passendes Paar, das fand jeder im Dorf.

Zum Abendessen gab es Gemüseauflauf mit Corned Beef aus Konserven, das Gemüse gehörte zur ersten größeren Ernte des Dorfes. Allen schmeckte es hervorragend, sogar den Jungs. In den entbehrungsreichen Zeiten des Aufbaus im Refugium und auch hier im neuen Refugium, hatten alle gelernt, wie bedeutsam ein Teller mit erntefrischem Gemüse sein konnte. Und so aß man schweigend und genoss die Gaben, die man der völlig veränderten Natur abzugewinnen vermochte.

Die verminderte Sonneneinstrahlung als Folge der Nuklearexplosionen, die das Militär rund um Europa herum ausgelöst hatte, ließ die Feldfrüchte langsamer und weniger üppig gedeihen, als das vorher der Fall gewesen war.

Die Ernte fiel um zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent geringer aus, als das unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Aber diese Minderung machten die Dorfbewohner mit viel Fleiß und Ideenreichtum wieder wett.

Die Treibhäuser wurden mit der Abwärme der Biogasanlage beheizt und am Tage durch mit Solarpanelen gespeiste UV-Lampen zusätzlich ausgeleuchtet. Zwei der Franzosen hatten sich eine kleine Grasplantage angelegt; inzwischen nutzten die Dörfler das Marihuana auch wegen der Heilerfolge, die damit im Bereich der Schmerzbehandlung erzielt werden konnten. Niemand im Dorf hatte etwas dagegen, wenn hier oder da abends ein Joint geraucht oder ein Bier getrunken wurde. Einzig harten Schnaps und chemische Rauschmittel wurden von den Mitgliedern der Gesellschaft des Willens geächtet. Und so versuchte jeder nach seinen Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten der Natur hier das Nötigste zum Leben abzuringen.

Als alle gespeist hatten, wurden von den Mädchen die Teller und Schüsseln abgeräumt und Alv braute Tee und Kaffee auf dem Kohleherd, der die geräumige Küche auch beheizte.

Als die jüngeren Kinder sich in ihre Räume zurückzogen, um vor dem Schlafengehen noch etwas zu lesen, holte Eckhardt seinen Tabak hervor und drehte sich eine Zigarette. Er durfte in Alvs Küche rauchen und achtete stets darauf, seinen Rauch niemandem ins Gesicht zu blasen, diesbezüglich war er sehr aufmerksam. Das heiße Ofenrohr riss den Rauch eh vom Tisch fort und drückte ihn durch die Raumentlüftung nach draußen.

Einige Minuten später standen starker Kaffee und Earl Grey Tee auf dem Tisch, dazu reichte Alv Kondensmilch und Kandiszucker. Eckhardt mochte keinen Tee, er meinte, dieses Gesöff erinnere ihn zu sehr an die Zeit, als er mit dem Iwan im Feld gelegen habe. Alv trank seinen Tee gern sehr süß und mit Milch. Einen Moment später klopfte es und Birte und Sepp betraten das Haus. Sie kamen direkt in die Küche und setzten sich. Man begrüßte einander und die Teekanne ging rum. Auch Katharina setzte sich zu ihnen, sie entschied sich für Kaffee.

»Und«, fragte Birte in die Runde, »wie sieht es aus? Sind wir auf Armageddon vorbereitet?«

»Das ist nicht witzig«, entgegnete Eckhardt leicht genervt.

»Na ja«, meinte Alv lächelnd, »im Grunde hat sie nicht unrecht. Har Megiddo war ein Berg, auf dem die Kanaaniter vor dreieinhalbtausend Jahren eine mächtige Schlacht schlugen. Insofern ist der Vergleich gar nicht so abwegig. Allerdings haben die damals verloren. Nicht so gut …«

»Ich wollte jetzt eigentlich keine Nachhilfestunde in biblischer Geschichte«, quengelte Birte, »sondern ich wollte wissen, ob wir auf den Angriff dieser Militärfuzzis vorbereitet sind. Und zwar nicht zu Pharaos Zeiten, sondern in zwei bis drei Tagen.«

Alv und Eckhardt schauten sie verdutzt an.

»Na ja«, setzte die Schwangere unwirsch nach, »ihr beiden sitzt da und plaudert so munter drauf los. Eure Ruhe möchte ich haben, echt mal jetzt.«

Alv lächelte.

»Na, ich denke, wir sollten das schon ruhig angehen. Sollte es der Sache allerdings dienlich sein, wenn Eckhardt und ich weinend durchs Dorf rennen, dann werden wir das ernsthaft erwägen.«

»Alv Bulvey. Du kannst manchmal so doof sein. Außerdem kann Mister Spock das besser.«

»Jaaaaa, das stimmt wohl. Aber nun mal im Ernst. Wir sind relativ gut vorbereitet. Unsere Bewaffnung ist für die Verhältnisse, in denen wir leben, schon fast als traumhaft zu bezeichnen. Wir verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die von außen nicht ohne Weiteres zu knacken sind. Und unsere Leute sind bereit für etwas zu kämpfen, das es wert ist, nämlich das eigene Leben. Und dann haben wir ja noch unsere Überraschungspakete. Also, ich würde sagen, dass es zumindest ein ausgeglichener Kampf werden wird. Nichtsdestotrotz dürfen wir die Soldaten natürlich nicht unterschätzen. Das sind kampferprobte Männer, die vor nichts zurückschrecken.«

»Und ich möchte noch hinzufügen«, warf Eckhardt ein, »dass auch in unseren Reihen nicht ausnahmslos militärisch unerfahrene Personen ihren Dienst verrichten. Das muss ja auch mal gesagt werden, nicht wahr?«

Birte schniefte deutlich hörbar. Ob das nun verächtlich oder eher resignierend gemeint war, ließ sich den Geräuschen nicht entnehmen, die sie von sich gab. Sie trank einen Schluck Tee und äußerte dann mit ruhiger Stimme ihre Bedenken.

»Ja, ich weiß. Wir sind bereit zu kämpfen. Aber wenn ich daran denke, dass wir unterliegen könnten … Die Kinder unten in der Höhle, wenn die Soldaten sie finden. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, das macht mich echt fertig.«

Sepp nahm ihre linke Hand, die auf dem Tisch lag, und drückte sie.

»Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um ein Unglück zu verhindern, Schatz. Mehr können wir nicht mehr tun. Wir werden hier alle bis zum allerletzten Mann …«

Am anderen Ende des Tisches räusperte sich Katharina mehr als nur deutlich.

»… und bis zur allerletzten Frau natürlich auch kämpfen«, führte Sepp etwas gedehnt weiter aus, »und jeder von uns wird hier sein Leben für unsere Kinder geben, ohne zu zögern.«

In diesem Moment platzte Rhea in die Küche. Sie war kreidebleich.

»Dad! Ich muss mit dir reden! Jetzt!«