Jahr Zwei, 29. September. Morgen II

Die Männer konnten einige Kabeljau und ein paar große Königskrabben ihre Beute nennen, das Meer gab heute genug her, um die beiden Teams gut zu ernähren. Über Nacht hatten die Soldaten das Eiscamp von außen getarnt, und selbst die Kochnische fügte sich in der Konstruktion so in den Eisdom ein, dass keine Dämpfe nach außen drangen. Leutnant Koroljow, der den originalen SpezNas-Einheiten der ehemals russischen Arme angehört hatte, besaß außerordentliche Fähigkeiten, was das Unsichtbarmachen anging. Die Abgase und Dämpfe aus der Kochnische leiteten die Männer durch ein System aus Kaminen, die – aus Eisplatten zusammengefügt – als Kondensatoren dienten. Selbst bei gutem Wetter konnte man das Lager erst erkennen, wenn man buchstäblich auf Armlänge davorstand.

Leutnant Morosow führte seit dem sehr frühen Morgen ein Erkundungsteam auf der Eisebene, die einst der Wasserspiegel der Nordsee gewesen war. Jetzt lag dieser ein paar Meter tiefer unter den mehrere Meter dicken Platten. Gemeinsam mit Feldwebel Matwejew und zwei Gefreiten erkundete Morossow den Rand des Eiskanals. Ein Geräusch ließ den Leutnant aufhorchen und seine linke Faust nach oben schnellen. Hinter ihm verharrten die komplett in weiß gekleideten Männer bewegungslos. Zunächst kaum wahrnehmbar, konnte man ein regelmäßiges Flappen und dann ein deutlich hörbares Tackern vernehmen. Ein hartes, kurzes Tackern, welches man eher spürte als hörte. Für Morosow gab es keinen Zweifel über die Ursache des Geräusches. Hubschrauber in Bodennähe!

»Deckung!«, bellte er einen Befehl nach hinten.

Sofort verschwanden er und seine Mitstreiter in Schneewehen und unter verkanteten Eisschollen, welche die Eisbrecher aus der Fahrrinne hochgedrückt hatten. Der letzte war vor etwa zwei Stunden an dieser Stelle vorbeigekommen, das Eis war hier spiegelglatt vom Wasser, das der mächtige Atomeisbrecher Yamal mit den geborstenen Eisschollen auf die Eisfläche drückte. Die Männer nutzten diese Bereiche unterwegs, um keine Fußspuren zu hinterlassen. Nun kauerten sie unter den verkeilten Schollen und harrten der Dinge, die da kamen.

Das Tackern und Hämmern wurde lauter, immer lauter, und es wurde zwischen den zum Teil aufrechtstehenden Eisplatten zu bizarren Echos verformt. Mit einem Mal waren sie da: Zwei Eurocopter der Fennec-Klasse mit Wüstentarnlackierung und außenliegenden Zwanzig-Millimeter-Kanonen. Zügig donnerten sie in geringer Höhe über das Eis, ein Patrouillenflug offenbar. Morosow beobachtete die beiden Maschinen genau. Er zog seinen Feldstecher aus einer Seitentasche des Winteranoraks und achtete darauf, dass sich das fahle Licht der Sonne nicht im Glas spiegelte. Der Leutnant konnte erkennen, dass die Helikopter einen knappen Kilometer entfernt in der Luft verharrten und nebeneinander Position bezogen. Unmittelbar darauf begannen sie zu schießen. Der Leutnant konnte nicht erkennen, worauf die Piloten zielten, doch sie schienen nach kurzer Zeit ihr Ziel erreicht zu haben. Sie drehten ab und setzten ihre Patrouille fort. Die Männer blieben noch in Deckung, bis das Geräusch völlig aus der Hörweite geriet und der Leutnant den Alarmstatus aufhob.

»Was war das? Worauf schießen die hier?«, fragte Feldwebel Matwejew.

Morosow sah ihn von der Seite an.

»Sie haben aufs Meer hinaus geschossen. Nach Westen. Wir sollten einmal nachschauen, was es da zu beschießen gab, Lew.«

»Am Rand des Kanals sind wir ohne Deckung, Herr Leutnant.«

»Ich denke, in der nächsten Zeit wird hier niemand mehr vorbeikommen. Also, vorrücken!«

Die Männer krochen aus dem Versteck hervor und machten sich marschbereit. Ihre Waffen hielten sie im Anschlag und die beiden Gefreiten sicherten nach hinten und zur Seite. Zwanzig Minuten später hatte der kleine Stoßtrupp das Ziel erreicht. Vor ihnen lag die Bruchkante des Eispanzers, dann folgten gute dreißig Meter relativ eisfreie Fahrrinne – und am anderen Ufer erkannte man die Sauerei: Einige Dutzend Zeds mussten hier herumgelungert haben, doch die Maschinenkanonen der Helikopter hatten sie buchstäblich in ihre Einzelteile zerlegt. Auf einer Fläche, groß wie ein Handballfeld, lagen zerfetzte Körper und abgetrennte Gliedmaßen in riesigen Lachen aus brauner Flüssigkeit. Hier und da regte sich noch etwas, totes Fleisch zuckte, zwei oder drei Köpfe, die nicht zerstört worden waren, führten sinnlose Kieferbewegungen aus, die an Schnappatmung bei Fischen an Land erinnerten. In Zeitlupe. Der Brei aus Fleisch, Knochen und undefinierbaren Körperflüssigkeiten begann bereits zu gefrieren, und nach dem nächsten Durchgang eines der großen Atomeisbrecher würde die Szene vom überschwappenden Wasser in Eis konserviert werden.

Einen Moment lang standen die Männer an der Abbruchkante des Eises und starrten auf die gruselige Szene. Nicht, dass sie dies beziehungsweise Ähnliches nicht schon oft gesehen hätten, aber diese Zeds waren zum Teil so anders. Es mochte an ihrer Hautfarbe liegen, denn viele Teile, die dort verstreut lagen, waren nicht fahlgrau, sondern tiefbraun. Diese Zeds stammten aus England oder Amerika, unter ihnen waren Farbige. Sie waren offensichtlich trotz des kalten Wetters über das zugefrorene Meer gewandert – auf der Suche nach Nahrung.

Morosow reichte eine Packung Machorka-Zigaretten an die Männer weiter. Die Schachtel ging herum und jeder der vier nahm sich eine. Feldwebel Matwejew gab allen Feuer, und so standen sie im Eis und rauchten. Eine kleine Gruppe weiß Gekleideter inmitten eines vereisten Ozeans. Nun, die Nordsee war genau genommen natürlich kein Ozean, sondern nur ein kleiner Teil des Atlantiks, doch auch hier wirkte die Weite unendlich, ähnlich den sibirischen Ebenen in einem solchen Winter.

»Ist das unsere Zukunft«, fragte der Feldwebel, »Leben im ewigen Eis wie die Inuit?«

Der Leutnant inhalierte tief und presste den kratzigen Rauch aus seinen Lungenflügeln.

»Na ja, Lew, ich bin mir nicht sicher. Irgendwann wird der Staub der Atomexplosionen sich gelegt haben. Dann wird es wärmer und die Eiszeit ist vorbei. Wo wir stehen, werden wieder Wellen rollen. Und die Herrschaft von Marschall Gärtner ist hoffentlich Geschichte.«

»Na ja, Leutnant«, gab der Feldwebel zurück, »ich hoffe, dass ich das erleben werde. Wenn Gott es so will, werde ich mir irgendwo im Süden Belarussias ein schönes Stückchen Land suchen und Ackerbau betreiben. Bevor das alles hier losging, hatte ich in Ray bei Smolensk einen schönen großen Garten. Meine Frau Ricarda hat ihn gepflegt, und wenn ich dienstfrei hatte, habe ich ihr geholfen, so gut es ging. Der Garten hat uns gut ernährt, und ich konnte einiges mit Nachbarn und Freunden tauschen.«

»Warum gehst du nicht zurück, Lew?«

»Nein, es hängen mir zu viel Erinnerungen dran. Und außerdem möchte ich möglichst weit weg sein von dem furchtbaren Zaun.«

Morosow zog an seiner Kippe und schnippte den Rest ins Wasser.

»Ja, vielleicht hast du Recht, Lew. Vielleicht sollte man möglichst weit weg neu anfangen. Am besten da, wo es schön warm ist. Wein anbauen im Rheingebiet oder in Italien. Das wäre etwas für mich. Ein eigener Weinberg. Das wär’s.«

Matwejew verzog das Gesicht.

»Im Rheingebiet? Bei den Deutschen?«

»Ach Lew«, antwortete Morosow gedehnt, »das alles existiert doch mittlerweile gar nicht mehr. Die Deutschen – wir sind letztlich alle Gottes Kinder, ist es nicht so? Und wir müssen zusammenhalten, damit wir das auch bleiben. Ich hab nichts gegen die Deutschen. Na ja, gegen einen Deutschen hab ich was. Aber die anderen haben mir ja nichts getan.«

»Noch nicht.«

»Ja. Noch nicht. Das stimmt.«

Das Funkgerät im Gepäck des einen Gefreiten knarzte, und er kommunizierte mit der Basis. Kurz darauf schaltete er das Gerät aus und wandte sich an seinen Vorgesetzten.

»Herr Leutnant, die Basis lässt ausrichten, das Essen ist bereit. Es gibt Soljanka mit reichlich Fischeinlage. Wir sollen uns beeilen, sagt Leutnant Koroljow.«

»Na dann, Männer. Auf, an den heimischen Herd. Nicht, dass wir nachher nur Brühe schlürfen müssen.«

*

Marschall Gärtner legte seine obligatorische Zigarre im Aschenbecher ab.

»Schön, dass Sie es einrichten konnten, mein lieber Mikail.«

»Bitte die Verspätung zu entschuldigen, Herr Marschall. Ich wurde im Lagezentrum aufgehalten.«

General Pjotrew setzte sich zu den anderen. Admiral Hershew und der neue Luftwaffenbefehlshaber Ansgar Ruetli saßen bereits gegenüber dem Marschall am gläsernen Besprechungstisch.

»Und, Mikail, wie weit sind wir?«

Die Stimme des Marschalls klang genervt, unruhig, und hatte eine seltsame Vibration, die Pjotrew von ihm sonst nicht kannte. Auch seine Gesichtszüge wirkten seltsam gehetzt, tiefe Falten furchten die hohe Stirn des Oberbefehlshabers. Ein leichter Hauch von Whisky hing in der Luft, obwohl keine Gläser auf dem Tisch standen. Der russische General antwortete seinem Vorgesetzten pflichtbewusst.

»Die Teams Alpha bis Charly sind voll einsatzbereit. Je zwölf Mann mit Erfahrung im Häuserkampf. Die Seals gehen zuerst rein, dann folgen die SAS-Männer und unsere SpezNas-Einheit, die in Tschetschenien sehr erfolgreich war. Ziemlich harte Burschen, wenn ich das so sagen darf.«

»Das sind die Amerikaner und die Briten auch.«

»Sicher«, bestätigte Pjotrew, »unbestritten sind sie das, schließlich sind die Männer noch am Leben. Ich kenne diese Einheiten nur nicht.«

Gärtner grinste versöhnlich.

»Mein lieber Mikail, wenn ich Sie nicht hätte. Und die dicken Kartoffeln …«

Er lachte laut und irgendwie vulgär. Das Odeur schottischer Destillerieprodukte nahm mit einem Mal deutlich mehr Raum ein als noch kurz zuvor. Der Marschall wandte sich an den kleinen, gedrungenen Schweizer, der in der Mitte des Tisches ihm vis-à-vis gegenüber saß.

»Also, General Ruetli, was haben Sie für mich?«

»Ja, da wären vier Black Hawk Sikorsky UH-60 mit jeweils doppelter Zwanzig-Millimeter-Gatling und drei Sea King Sikorsky S-61 von der Marine, od’r?«

»Was, oder?«

»Äh, nein, Verzeihung, Herr Marschall. Das sagt man bei uns in der Schwyz so, od’r …«

»Das gewöhnen Sie sich mal gleich ab. Wo wird zum Auftanken gelandet?«

Der Schweizer General schaute etwas verwirrt, fasste sich aber sogleich wieder.

»Auf dem Flughafen Genf gibt es eine Notbesatzung und ausreichende Kraftstoffreserven. Dort könnten die Piloten auftanken.« Diesmal kein od’r.

»Gut, wir starten morgen Mittag. Die Einsatzgruppe übernachtet am Flughafen, der Kampfeinsatz beginnt am Ersten um Null-Sechs-Hundert. Wenn die Zielpersonen lokalisiert und in Gewahrsam sind, wird das Dorf komplett terminiert. Ich will keine Überlebenden. Dann suchen die Teams nach den Forschungsunterlagen, Proben und allem, was wir sonst noch so brauchen. Später lassen wir von einer C160 eine Aerosolbombe abwerfen. Ich will, dass dieses Dorf von der Landkarte verschwindet.«

Der Schweizer nickte diensteifrig.

»Zu Befehl, Herr Marschall.«

Dann meldete sich Admiral Hershew, der sonst bei Besprechungen stets eher still blieb, zu Wort.

»Wenn wir die Zielpersonen und die Forschungsergebnisse hier haben, Herr Marschall, wie geht es weiter?«

Der Marschall lehnte sich in seinem knirschenden ledernen Stuhl zurück und paffte an seiner Cohiba.

»Wir werden die Forschungen zum T93-Komplex intensivieren. Da wir unsere führenden Wissenschaftler ja durch einen bedauerlichen Unfall verloren haben, werden die Forscher aus Frankreich für sie in die Bresche springen. Sobald das Gegenmittel zu den T93-Nebenwirkungen synthetisiert ist, werden wir verdienten Bürgern der New World eine Reproduktionserlaubnis erteilen und auf den Trümmern der alten Welt eine neue, sinnvolle und arbeitsame Zivilisation errichten.«

Pjotrew intervenierte. »Ist es nicht sinnvoll, zum Erhalt des Genpools umgehend allen gebärfähigen Frauen das Kinderkriegen zu ermöglichen, Herr Marschall?«

»Um Gottes Willen! Wo denken Sie hin, Mikail. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir eine dermaßen nutzbringende Ausgangssituation. Man könnte es schon fast als göttliche Fügung betrachten, dass wir nun in der Lage sind, auszuwählen, wie der Genpool des neuen Menschen, des Homo Superior, aussehen wird. Diese ganzen minderbemittelten Untervölker und ihre nutzlosen Gene brauchen wir nicht länger in der Ahnenkette! Es wird einen totalen Neubeginn für die menschliche Rasse geben.«

»Und das Fräulein Radler ist unsre Eva?«

»So kann man sagen, Mikail, ja.«

Die nächstliegende Frage zu stellen, traute sich der General nicht. Er ließ es damit auf sich beruhen. Das war besser für das Klima im Raum und für die Restlebenszeit des Russen. Gärtner gefiel sich in der Rolle des Lebensborn-Kreators.

»Wir werden kräftige, intelligente und schöne Menschen schaffen, die ein neues, ein goldenes Zeitalter bringen und die Menschheit in eine Ära von Zufriedenheit und Glück führen. Und sie, meine Herren, gehören zu den Architekten des neuen Tempels, in dem die New World aus der Asche aufersteht, wie einst der legendäre Vogel Phönix.«

Pjotrew ertappte sich dabei, dass er sich fragte, ob diese Form des Irrsinns eine speziell deutsche war, oder ob das allgemein bei größenwahnsinnigen Diktatoren auftrat. Ihm wurde beim Anhören dieser Phrasen zusehends übel. Er überlegte, ob er sich unter einem Vorwand aus dieser Besprechung davonstehlen sollte, oder ob es nötig sein würde, sich in den Papierkorb zu erbrechen. Aber Gärtner ließ nicht locker. Wie weiland Adolf Hitler in seinen gefürchteten Teerunden, dozierte der Führer der modernen Welt weiter in Richtung Übermenschentheorie.

»Unsere Gene, also jene, die wir an die nachfolgende Generation weitergeben, werden der Grundstock für eine moderne und produktive Gesellschaft sein, eine soziale Gemeinschaft, die sich der Bedrohung durch die Zeds furchtlos und kampfwillig entgegenstellt. Nicht länger werden wir flüchten, Gejagte sein, meine Herren. Die Auseinandersetzungen an der Ostfront werden in diesem Zusammenhang eine Auslese bewirken, die uns dem Ziel einen guten Schritt näher bringt. Wir müssen hier in der Feste Rungholt, die quasi den Olymp der Neuen Welt bildet, die besten Genträger auswählen und deren Erbgut als Quelle der Erneuerung für unsere fruchtbaren Frauen, die ebenso wertvolles Erbgut tragen, nutzbar machen.«

Admiral Hershew wurde wach.

»Samenabgabe bei den Marines? Also, wenn wir ein paar Hot Chicks besorgen, machen die Männer das jeden Tag freiwillig.«

Als Gärtner ihn anblickte, fiel die gefühlte Raumtemperatur augenblicklich auf das derzeitige Niveau von Novosibirsk. Der Marschall räusperte sich leise und fuhr in seinem Monolog fort.

»Ich beliebe nicht zu scherzen, Admiral. Verstehen Sie denn nicht die historische Bedeutung dieses Moments? Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren wir einem evolutionären Quantensprung derart nahe. Das Ziel der Evolution ist immer die Perfektion, meine Herren. Und diesmal ist es nicht der Zufall, dem die Ehre der Entscheidung über Gelingen oder Versagen zuteilwird. Nein, vielmehr haben wir die einmalige Gelegenheit, mittels Intellekt und Willenskraft die Evolution auf ihrem Weg zu beschleunigen. Bereits vor vielen Dekaden versuchten deutsche Wissenschaftler, im Rahmen des Programms zur sogenannten Reinerhaltung der arischen Rasse ähnliche Schritte zu gehen, die jetzt vor uns liegen. Ich möchte nicht so weit gehen, diese simplen Zuchtmethoden meiner Vorväter einfach zu wiederholen. Mit dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der seit den alten Tagen stattgefunden hat, öffnen sich uns Türen, die früher verschlossen blieben. Humangenetik, Engineering, Klonung, dies alles sind wissenschaftliche Disziplinen, die uns zu Schöpfern werden lassen. Wir stochern nicht mehr blind im Nebel der Mendelschen Regeln herum, wir schreiben diese Regeln neu! Wir fügen die besten Faktoren unseres Erbgutes zusammen und bilden damit einen Grundstock für die Zukunft einer überlegenen Menschheit. In absehbarer Zeit, wenn der ewige Winter ein Ende nimmt, wird das Gebiet der New World ein Garten Eden werden für die Kinder der neuen Menschen, die hier in Eintracht und Glück leben sollen.«

General Ruetli räusperte sich deutlich hörbar. Der Marschall sah ihn an und faltete seine Hände. Glied um Glied verschränkte er langsam und symmetrisch seine Finger. Dann zog er demonstrativ die buschigen Brauen hoch.

»Sie wollten etwas anmerken, General?«

»Wenn es gestattet ist, Herr Marschall …«

Speichellecker! dachte Pjotrew, hoffentlich od’r-t er nicht wieder. Der Marschall nickte dem Schweizer langsam mit fast gnädiger Miene zu. Ruetli sprach mit dünner, beinahe schon fisteliger Stimme.

»Selbstverständlich ist die Schaffung eines solchen Garten Eden, wie Sie es nannten, eine höchst erstrebenswerte Leistung. Doch die aus dem Osten anrückenden Horden der Zeds sehe ich als deutliches Problem. Und ich befürchte, dass unsere Ressourcen zur Zeit nicht ausreichen, um diesbezüglich eine endgültige Lösung herbeizuführen.«

Um Haaresbreite entging General Pjotrew einem Wutausbruch. Im allerletzten Moment konnte er sich noch zusammenreißen. Erst faselte der eine von Rassenreinheit und Menschenzucht, dann kam der nächste mit Endlösung. Für einen stolzen Russen wurde die Luft hier langsam wirklich zu stickig. Dafür waren so viele seiner Landsleute im Großen Vaterländischen Krieg ums Leben gekommen, dass derselbe Mist nun wieder von vorn begann? Pjotrews Halsschlagader schwoll bereits auf Daumenstärke an. Und wieder schaffte der Marschall es, die schlimmsten Befürchtungen des Generals zu toppen.

»Es ist gut, dass Sie dieses Problem ansprechen, General Ruetli. Ich habe mir darüber auch bereits Gedanken gemacht. Zunächst wird der Grenzzaun im Osten befestigt. Wir werden eine ungefähr zehn Meter hohe Mauer mit Kronenverdrahtung etwa einhundert Meter hinter dem Zaun errichten. Darauf werden Selbstschussanlagen und Mikrowellenstrahler montiert, alles computergesteuert. Ebenso verfahren wir auf der Krim und am Ufer des Schwarzen Meeres bis Odessa. Dadurch können wir erhebliche Kräfte freisetzen, um die südliche Verteidigungslinie zu kontrollieren. Auch hier werden wir künftig die Errungenschaften der modernen Technologie vermehrt zum Einsatz bringen. Satellitenüberwachung, Bewegungsmelder, Richtmikrofone und Bodensensoren werden uns helfen, die Festung Europa zu sichern. Durch die Atomverseuchungen wegen der Kraftwerkshavarien in Spanien, Rumänien, Tschechien, Bulgarien und im Balkan werden diese Areale für uns nicht nutzbar sein. Unsere südliche Verteidigungslinie beginnt also in Odessa, setzt sich über die Nordgrenzen von Moldawien, Rumänien, Ungarn, Österreich und am Nordrand der Alpen fort und endet bei Bordeaux am Atlantik. Die Statistiker haben errechnet, dass die Bodenfläche der reformierten New World ausreicht, unser Volk zu ernähren, zumal Finnland, Schweden, Norwegen und Großbritannien noch hinzukommen. Mit den Nutztieren, die wir retten konnten und derzeit an geheimen Orten in Quarantäne halten, können wir neue Tierbestände aufbauen; der Fischreichtum unserer klassischen Atlantik-Fanggebiete dürfte in nächster Zeit erheblich zunehmen. Sie sehen, meine Herren, wir werden unseren Garten Eden gegen diese Kreaturen zu verteidigen wissen.«

Der Admiral bemerkte dazu noch:

»Unsere Marine erarbeitet derzeit umfangreiche Pläne, weitere Teile der weltweiten Handelsflotte zu requirieren, so dass große Teile unserer neuen Zivilisation auf dem Wasser leben können.«

Ruetli schaute erstaunt.

»Wieso? Wir besitzen doch mit Zentraleuropa eine ausreichend große Siedlungsfläche, um uns bequem einrichten zu können.«

General Pjotrew mischte sich ein.

»Sehen Sie, Ruetli, durch den Rückgang des atomaren Winters werden unglaubliche Mengen an Schmelzwasser freigesetzt, wir werden mit schwersten Überflutungen zu rechnen haben.«

»Und dazu kommt«, warf Gärtner ein, »dass unsere Fachleute in einigen Berechnungsmodellen zumindest potenziell die Gefahr einer Gletscherschmelze im gesamten Nordgebiet voraussagen. Diese Berechnungen sind noch nicht verifiziert, aber wir möchten für alle Fälle vorbereitet sein. Deshalb werden wir in den eisfreien Gewässern der Biskaya eine möglichst umfangreiche Flotte stationieren.«

»Eine neue Sintflut?«

Ruetli war völlig von der Rolle. Er bekam hektische Flecken im Gesicht und neigte zur Schnappatmung.

»So etwas ist zumindest denkbar, ja. Das würde uns auch in der Sache mit den Zeds durchaus weiterbringen. Die haben nämliche keine Schiffe.«

Der Marschall grinste und griff nach seiner Zigarre, deren Glut inzwischen erloschen war. Er zückte sein Feuerzeug, paffte ein paarmal und hüllte sich dann in Rauchwolken.

»Wie auch immer, meine Herren. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Teams morgen einsatzbereit sind und dass die Operation erfolgreich verläuft. Ich verlasse mich auf Sie. Das wäre dann erst einmal alles.«