23. Spiel mit den blauen Palästen

Sie starrten sich eine ganze Weile an, bevor etwas geschah. Sie schüttelte den Kopf, wischte sich über die Augen, versuchte dann etwas zu sagen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht und wurde zu einem Flüstern.

»Leonardo.«

Er lachte.

»Schau mich nicht an wie einen Geist, ich bin quicklebendig.«

»Aber nur ein Geist konnte mich hier aufstöbern«, gab sie zurück, »wie sonst solltest du diese Insel finden, auf der du nie warst?«

Leonardo lächelte sie verlegen an.

»Du hast vergessen, dass dein Bruder auch fast mein Bruder war, und diese halb abgesunkene Insel kannte ich natürlich. Ich kannte sie früher, als du sie kanntest, weil ich sie mit Riccardo zusammen entdeckt hatte. Du erfuhrst erst später von ihr, als ihr«, er schmunzelte, »die Lagune und das jährliche Absinken der Stadt messen wolltet. Verrückt wie Riccardo war, suchte er ja immer Dinge, mit denen er dich beeindrucken konnte.«

Sie starrte ihn noch immer an. Er hatte sich nicht sehr verändert, war nur schmaler geworden.

»Haben sie dir in Basel nur Wassersuppen gegeben?«, wollte sie dann wissen.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Wassersuppen, aber ich war längere Zeit krank. Und danach hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich jetzt lange genug fort gewesen war und es Zeit war, nach Hause zu kommen, nachdem ich all das erreicht hatte, was ich erreichen wollte. Und natürlich wollte ich auch wissen, wie es dir und deiner Familie inzwischen geht, nach dieser langen Zeit.«

»Meiner Familie?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen und machte das gleiche Ritual wie kurz zuvor, bog einen Finger nach dem anderen zurück.

»Meine Familie, das bin ich. Alle anderen haben Venedig verlassen.«

Leonardo strich ihr leicht über den Arm.

»Nun, zumindest ein Mitglied deiner Familie habe ich vorhin kennen gelernt, Clemens.«

Sie winkte ab.

»Er wird nicht mehr lange hier sein. Er ist schon auf dem Sprung nach Alexandria. Oder nach Konstantinopel. Oder sonst wohin.«

»Nun ja, aber deine beiden Freundinnen, Lea und Margarete, wird es ja wohl noch geben.«

»Es gibt sie schon noch, aber für den Augenblick sind sie genauso weg wie meine beiden Kinder Ludovico und Bianca. Die Vorstellung, Kinder zu haben, dauert auch nur so lange, wie sie im Haus sind. Hast du welche?«, fragte sie dann rasch.

»Kinder, ich?«, fragte er dann so, als habe sie nach dem Mond gefragt und ob er ihn in der Tasche mit sich trage.

»Nun ja, du könntest ja schließlich geheiratet haben. Und dann sind Kinder doch …«

Er sah sie eindringlich an und schüttelte den Kopf.

»Ich habe nie geheiratet, das solltest du doch eigentlich wissen.«

Er machte eine Pause und schaute über das Wasser.

»Und habe auch keine Kinder.«

»Ach so«, sagte sie etwas ratlos, als sei sie an diesem Zustand schuld, dass Leonardo weder geheiratet noch Kinder bekommen hatte. »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fuhr sie dann fort. »Ich habe niemandem gesagt, wo ich hinfahren wollte.«

»Clemens meinte, du hättest heute Morgen beim Morgenessen ein Gesicht gemacht, als wolltest du einen Spaziergang im Orkus machen.«

Sie lachte.

»Nun, ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein, aber ich sagte ihm, dass ich den Maskareta, den Jagdkahn, nehme. Daraus schloss er dann vermutlich, dass ich zur laguna morta fahren wollte, nachdem wir neulich erst darüber gesprochen hatten. Aber er wusste natürlich nicht, wo genau ich hinwollte, weil er nie dort war.«

»Aber ich wusste es«, sagte Leonardo und blickte sich um, »schließlich habe ich damals mitgeholfen, die Insel so zu machen, wie sie später war.«

»Was meinst du damit?«, fragte sie irritiert.

»Nun, diese Insel war eine Insel wie all die anderen auch hier um uns herum: halb abgesunken, vom Schilf umwuchert, irgendwelche Farne darauf. Aber du«, er stockte, »du bist schon immer ein besonders wissbegieriges Kind gewesen, und vor allem wolltest du wissen, was vor dieser Stadt war, in der wir heute leben. Und«, er stockte ein zweites Mal, »so trugen wir die Reste dieser Besiedlung von einst zusammen. Hier die Überreste einer zerborstenen Säule, da ein paar zerbrochene Ziegel mit einer römischen Inschrift. Ich fand einmal einen steinernen Kopf mit einer halben Nase, der ebenfalls von den Römern stammen konnte. Wir trugen alles von den anderen Inseln zusammen und hofften, dass es dir Freude machen würde. Und das tat es ja dann auch.«

»Also eine künstliche Insel«, sagte Crestina, halb enttäuscht, halb verblüfft. »Und gar nicht in allem von Riccardo.«

Leonardo ergriff ihre Hand und küsste sie.

»Natürlich auch von Riccardo, von mir war der kleinste Teil der Sammlung. Und ich weiß wirklich nicht mehr genau, was es war. Ich glaube, eine halb zerbrochene Marmorplatte, die inzwischen auch schon wieder irgendwohin abgesunken ist. Riccardo war es egal, wer von uns fündig wurde, es sollte dir Freude machen. Und ist das eigentlich schlecht, zu wissen, dass man von mehr Menschen geliebt wurde und wird, als man sich vorstellen kann?«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Crestina zu sagen und schaute sich um. »Und es ist natürlich schön, dass du auch daran Teil hattest. An dieser Insel.«

Leonardo wandte sich um und ging zu seinem Boot zurück.

»Es gibt noch etwas, was dich vielleicht interessieren wird. Deswegen bin ich heute Morgen in erster Linie zu dir in den Palazzo gegangen.«

Er kam zurück mit einer Mappe unter dem Arm, der er ein Buch entnahm. Ein in blaues Leder eingebundenes Buch, das er Crestina in den Schoß legte.

»Ein Buch«, sagte sie verblüfft, »ein blaues Buch.«

»Ja, ein blaues Buch, dessen Blätter ich erst vor kurzem wieder gefunden habe«, sagte Leonardo und hob ihr den Lederrücken an die Nase. »Weißt du noch? Bücher mit dickem Lederrücken mochtest du doch immer. Besonders die mit den Kalbslederrücken.«

»Und was ist drin, in deinem blauen Buch?«

»Schau rein«, forderte Leonardo sie auf.

Crestina öffnete das Buch und stieß dann einen schrillen Schrei aus.

»Unsere Kinderpalazzi! Leonardo, unser Spiel von früher! Unsere Zeichnungen, die wir damals gemacht haben, Riccardo, du und ich.«

»In eurer palastlosen Zeit«, bestätigte Leonardo. »Du erinnerst dich ja noch sicher. Deine Stiefmutter war so versessen auf einen Palazzo, dass sie nur bereit war, deinen Vater zu heiraten, wenn er es ermöglichen würde, so viel Geld zu haben, dass es für ein solches Haus reichte. Ohne die Mumien und Reliquien hätte er das nie geschafft.«

Crestina schüttelte sich.

»Einmal wäre ich fast gestorben vor Angst, als er im Mezzanin gerade eine neue Ladung von Mumien untergebracht hatte, die er zum Verkauf anbieten wollte.«

»Damit hat er ja wohl in der Hauptsache sein Geld gemacht«, sagte Leonardo. »Und deiner Mutter war es völlig egal, womit er diesen Palazzo bezahlte.«

Crestina blätterte inzwischen in dem Buch, schüttelte dann den Kopf.

»Ich habe schon so oft daran gedacht, wo sie wohl geblieben waren, unsere Bilder.«

»Ja, Palazzi mitten in den Gemüsegärten der Giudecca, Palazzi in den ärmsten Teilen der Stadt, mitten zwischen halb zerstörten Häusern, wo es gewiss nie welche gab. Palazzi schwimmend wie Schiffe draußen auf dem Meer, Palazzi auf den winzigsten Inseln, die nie einen Namen hatten, Palazzi auf dem Mond, auf der Sonne, selbst auf irgendwelchen Kometen, auf denen sie durch das Weltall rasen konnten und die Welt beglücken mit ihrer Schönheit. Es gab kaum einen Ort, den wir nicht für würdig erachtet hätten, einen Palazzo zu besitzen«, sagte Leonardo lächelnd.

»Und was ist das?«, fragte Crestina verblüfft, als sie zu einem Bild mit einer halb eingeschlagenen Seite kam.

Leonardo lachte.

»Das war einer, den du gemalt hattest. Bei dir reichte doch meist nie das Papier, und wir mussten den Rest des Hauses immer ankleben. Du warst ja der Meinung, dass je größer ein Palazzo sei, umso glücklicher seien die Menschen, die darin wohnen.«

Crestina seufzte.

»Das war die Zeit, in der ich als Kind alles glaubte, was man mir erzählte. In der ich mir eine Welt wünschte mit glücklichen Menschen und der Meinung war, man müsse nur ganz fest daran glauben, dann sei es auch schon so. Aber natürlich weiß ich inzwischen, dass das nicht stimmt.«

Die nächste Seite zeigte einen Palast, der, kaum als solcher erkenntlich, halb unter dem Wasser verborgen schien.

»Sieht aus wie die laguna morta, oder?«

»Nein, das nicht. Es soll Malamocco sein. Du wolltest, dass diese schon vor langer Zeit untergegangene Insel nicht ohne Palast sein dürfe.«

Sie saßen auf dieser Säule, blätterten in dem Buch, und irgendwann schien es Crestina, als habe sie den Anlass vergessen, weswegen sie an diesem Morgen hier auf ihr Inselchen gekommen war.

»Du weißt noch, weshalb wir sie die ›blauen Paläste‹ genannt haben, die es ja schließlich gar nicht gab?«, fragte Leonardo nach einer Weile.

Sie lachte.

»Nicht mehr in allen Einzelheiten, erzähl du.«

»Nun, es gab einen palazzo Cad'oro in unserer Stadt, einen goldenen Palast, aber für den interessiertest du dich nicht. Du wolltest einen blauen Palast, weil Blau deine Lieblingsfarbe war. Und weil du der Meinung warst, dass Paläste nur blau sein konnten, um wirklich märchenhaft zu wirken, malten wir sie eben blau. Ich glaube, es waren Jahre, in denen wir sie malten, wir betrieben dieses Spiel selbst dann noch weiter, als die palastlose Zeit für euch längst vorüber war und ihr nun selber einen besessen habt. Und das Verrückteste dabei war –«

»Wir schenkten diese Paläste irgendwelchen Leuten«, unterbrach Crestina Leonardo eifrig. »Also nicht die Grimaldi, Mocenigo, Foscari sollten unsere blauen Paläste besitzen, nicht die Gritti, Loredan, Barbaro, sondern irgendwer aus dem Volk. Ein Drucker aus der Druckerei, ein Gondoliere, ein armer Student, eine Fischfrau, ein Lastenträger.«

»Es war eine verrückte Idee, die von dir stammte«, sagte Leonardo, »aber wir, Riccardo und ich, fanden sie natürlich wunderbar, auch wenn wir beide vermutlich nie auf solch eine Idee gekommen wären. Aber wir fühlten uns wie Krösus, dass wir solche grandiosen Geschenke machen konnten und niemand wusste davon.«

Crestina hielt das Buch geöffnet auf ihrem Schoß und blickte über die Lagune.

»Wie oft in all den Jahren in fremden Städten habe ich daran gedacht, ob sie wohl noch existieren, unsere blauen Paläste. Ich nahm an, sie seien längst verschollen, irgendwo, als Bartolomeo damals unseren Palazzo an sich gerissen hatte.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm.

»Du hattest sie aufgehoben«, sagte sie dann leise.

»Ich hatte sie aufgehoben. Und irgendwann gedruckt. Und ich ließ sie binden, bevor ich jetzt von Basel zurückkehrte und erfuhr, dass du wieder in der Stadt bist. Heute war einer meiner ersten Gänge in die Stadt.«

»Und, und«, Crestina stockte, »soll das nun ein Geburtstagsgeschenk sein? Dann müsste ich noch lange warten, mein Geburtstag ist erst in fünf Monaten.«

Leonardo lachte.

»Das weiß ich. Nein, es sollte eigentlich kein Geburtstagsgeschenk sein, sondern ein Hochzeitsgeschenk«, sagte er dann ernst und legte Crestina die Hand auf den Arm.

Crestina starrte ihn verblüfft an.

»Ein was?«

»Nun, ein Hochzeitsgeschenk«, erwiderte Leonardo, stand auf, machte eine Verbeugung und setzte sich wieder. »Andere Männer schenken der Frau, die sie lieben, wertvollen Schmuck oder kostbare Pelze, teure Kleider. Ich mache Bücher. Also schenke ich dir ein Buch. Ein blaues Buch mit blauen Palästen.«

Crestina schluckte.

»Weißt du eigentlich, wovon du da sprichst?«

Leonardo lachte.

»Natürlich weiß ich das. Ich weiß sogar noch viel mehr. Ich weiß zum Beispiel, was du mir nun zur Antwort geben wirst.«

»Und was werde ich dir zur Antwort geben?«

»Nun, dass wir inzwischen schon alte Leute sind, dass wir unser Leben schon weitgehend hinter uns haben, dass wir keine gemeinsamen Kinder mehr haben können. Aber das brauchen wir ja auch nicht. Du hast Kinder und bei der Pflege der deinen kann ich dir ganz gewiss behilflich sein.«

Crestina schaute vor sich hin, dann liefen ihr plötzlich Tränen die Wangen hinunter.

»Um Himmels willen, was hast du?«, fragte Leonardo bestürzt.

Crestina ließ sich an Leonardos Schulter sinken und schluchzte stärker.

»Mein Sohn Ludovico ist mit einem Sklavenhändler nach Barbados abgesegelt, meine Tochter Bianca liebt einen Mann, der sich ganz gewiss nichts aus ihr macht, außerdem ist sie viel zu jung zum Heiraten. Meine Freundin Lea aus dem Chazer hatte neulich die Idee, zum Islam überzutreten, weil der Messias wieder einmal der falsche Messias war und weil sich dieser Sabbatai Zwi vor den Schergen Konstantinopels nur dadurch retten konnte, dass er Moslem wurde. Meine andere Freundin Margarete hat vor, ins Weihrauchland zu reisen und will meine Tochter Bianca mitnehmen und in Zelten schlafen lassen, damit sie diesen Mann, der sie nicht gebrauchen kann, vergisst. Und mein ältester Sohn Clemens hält es nicht mehr zu Hause aus in all dem Streit und hat sich neulich überlegt, ob er die Salzfelder, die schon seit Hunderten von Jahren im Besitz der Familie meines verstorbenen Mannes Renzo sind, verkaufen und einfach mit einem unserer Schiffe nach Konstantinopel zurückgehen soll. Was er inzwischen natürlich alles allein entscheiden kann, da ich ihm die Reederei übergeben habe.«

»Und du, was möchtest du?«, fragte Leonardo sanft.

»Ich möchte, dass es jemanden gibt, der mir Ratschläge gibt, was ich mit diesem ganzen Tohuwabohu anfangen soll.«

»Nach was riechst du eigentlich?«, fragte Leonardo plötzlich, und zog die Nase hoch. »Die ganze Zeit über denke ich schon, was das für eine Pflanze ist. Es riecht sehr exotisch. Was ist das für ein interessanter Duft?«

»Zibet«, murmelte Crestina und schüttelte sich, »aber glaub nur nicht, dass ich freiwillig nach dem Duft der Analdrüsen irgendwelcher Zibetkatzen in Afrika riechen möchte. Alle paar Tage werfen Margaretes Helferinnen irgendein anderes Flakon auf den Boden oder kippen eine brodelnde Essenz aus. Bei uns riecht es die meiste Zeit wie in einem Bordell. Und da diese Mädchen oft unterwegs sind, kann ich die Scherben wegkehren, weil sie mich ganz offensichtlich immer noch für eine niedere Dienstmagd halten und sich selber für die Hüterinnen dieses Palazzos.«

Leonardo lachte und zog Crestina zu sich herüber.

»Also, ich sehe, dass du wirklich jemanden brauchst, der dir bei deinem Tohuwabohu hilft. Sicher bin ich nicht in der Lage, dir in jedem Fall zu helfen, aber eines kann ich dir schon erzählen: Ludovico ist nicht auf einem Sklavenschiff, sondern in Padua. Und –«

»Ludovico ist sehr wohl auf einem Sklavenschiff«, empörte sich Crestina, »und weißt du auch, wem es gehört?«

Leonardo schüttelte den Kopf.

»Wie sollte ich? Ich bin soeben erst in die Stadt gekommen und mit Sklaven hatte ich nie was zu tun, ich hatte nie welche.«

»Es gehört Bartolomeo!«

»Oh je, oh je, der Böse von einst. Gibt es den immer noch?«

»Und wie es ihn gibt, er ist inzwischen sogar ein reicher Mann und besitzt Schiffe. Mit denen er nach Afrika fährt, um dort Sklaven zu jagen und sie dann in Barbados zu verkaufen.«

»Nun, dabei kann ich dir vermutlich nicht allzu viel helfen«, gestand Leonardo, »schließlich ist der Sklavenhandel hier bei uns in der Stadt nicht eben unbekannt. Zweimal im Jahr gibt es Sklavenmärkte, und jenseits davon kannst du sie auch so kaufen: Tscherkessen, Georgier, Türkenmädchen, dann natürlich Gefangene aus irgendwelchen Kriegen. Du kannst sie schon für etwa zwanzig Dukaten bekommen, wenn sie kochen können, sind sie teurer.«

»Die unseren im Haus, die Margarete gehören, können es gewiss nicht«, sagte Crestina gereizt. »Und ganz offensichtlich lernen sie es auch nicht. Sie blockieren nach wie vor die gesamte Küche, wenn sie ihre ›Schlosserrieben‹ oder ›Schlosserbuben‹ oder was weiß ich zusammenwursteln.«

»Aber Ludovico ist wirklich in Padua«, kehrte Leonardo zum Gespräch von zuvor zurück. »Als ich mich nach dir in eurem Palazzo erkundigte, kam genau in dieser Minute ein Postbote und brachte eine Nachricht von deinem Sohn. ›Die Ketten haben mir doch nicht gefallen, gehe lieber nach Padua‹, las mir Clemens kopfschüttelnd vor, was immer das auch zu bedeuten hat. Und was diesen Bartolomeo betrifft: Auch das Böse vergilbt eines Tages. Vergiss ihn. Er wird nicht ewig leben. Und bedrohen kann er dich gewiss nicht mehr, wenn du erst unter meinem Schutz stehst. Und ich weiß auch schon gar nicht mehr, was du ihm alles vorwirfst.«

»Sein Sündenregister ist ellenlang«, empörte sich Crestina. »Zunächst hat er nur die Bewacher des Ghettos ausgehorcht, dann hat er den cattaveri gezeigt, wo die Denunzianten ihre Zettel in die Mauerritzen steckten, hat von diesen fünfhundert Dukaten, die es bei den Denunziä gibt, ein Drittel eingestrichen, hat Leute erpresst, wenn er sie nicht angezeigt hat, und jetzt steht er außerdem noch unter Mordverdacht.«

»Unter Mordverdacht? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, auch wenn ich mir ziemlich viel vorstellen kann. Aber wenigstens hat er Ludovico nicht bekommen«, versuchte Leonardo Crestina zu trösten. »Halt dich daran fest.«

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Zähle meine Falten«, sagte sie dann, »dann wirst du dir sehr genau überlegen, wem du Schutz gewähren willst und ob dies ein Hochzeitsgeschenk sein soll oder ob ich nicht doch besser auf meinen Geburtstag warte. Im Übrigen habe ich nur noch graue Haare und dünn sind sie auch.«

Leonardo schüttelte den Kopf, sodass seine Haare ihm um die Schultern flogen. Dann zog er eine Haarsträhne vor ihr Gesicht.

»Grau«, sagte er dann, »oder weiß, siehst du's?«

»Das stört nicht bei einem Mann! Das macht ihn allenfalls interessanter.«

»Nun, das hoffe ich doch sehr«, erwiderte Leonardo lachend, »dass ich noch interessant genug für dich bin. Aber die grauen oder dünnen Haare lasse ich ohnehin nicht als Antwort gelten. Was ist deine wirkliche Antwort? Die ›alten Leute‹ interessieren mich auch nicht. Für mich zählt nur, ob du immer noch bereit wärst, blaue Paläste zu malen, für die das Papier nicht reicht, und dass du dann immer noch so verrückt bist, sie einem Gondoliere oder einer Fischfrau zu schenken, die davon nie erfahren werden.«

Crestina lachte, hob das blaue Buch empor und schwenkte es übermütig in der Luft.

»Wenn es dabei nicht stört, dass ich graue und dünne Haare habe, dann soll's mir recht sein. Und ich schenke auch gerne einem Straßenkehrer oder einer Fischfrau einen blauen Palazzo, von dem sie nie erfahren werden.«