17. Keine Gräber in Livorno

Von den Juden und ihren Lügen.

Das Buch stand mitten auf dem Küchentisch, gegen einen Kochtopf gelehnt, sodass es jedem entgegenblickte, der die Küche betrat.

An diesem Morgen betraten die drei Frauen gemeinsam den Raum, da sie, was ungewöhnlich war, auch gemeinsam auf dem Markt einkaufen waren. Sie stellten ihre voll beladenen Körbe mit ihren Vorräten auf die Bänke an der Seite der Küche. Crestina schob ihre Ölkanne mitten auf den Tisch, geriet dabei an den Kochtopf, sodass es ein schepperndes Geräusch gab. Dann entdeckte sie das Buch.

»Was ist das?«, fragte sie irritiert in die Runde. »Woher stammt das?«

Lea, die als Letzte schwer atmend in den Raum gekommen war, legte ihren Beutel ab, kniff die Augen zusammen und holte dann umständlich ein Augenglas hervor.

»Also jetzt auch hier. Manchmal denke ich, er verfolgt mich überallhin«, murmelte Margarete zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Lea hatte inzwischen das Augenglas aufgesetzt und starrte Margarete entsetzt an.

Die schüttelte den Kopf.

»Nun, du darfst ganz sicher sein, dass es nicht von mir stammt«, sagte sie dann tonlos.

»Das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Lea hastig.

»Die Frage bleibt, wie dieses Buch hier auf diesen Küchentisch kommt«, sagte Crestina entschieden. »Das sollte sich doch wohl feststellen lassen, schließlich war das Haus verschlossen. Und natürlich interessiert mich, von wem es stammt.«

Lea nahm das Buch in die Hand, blätterte darin, dann nickte sie. »Es stammt aus der Bibliothek, die ich soeben bearbeite, hier oben in der rechten Ecke auf dem hinteren Blatt steht der Name des früheren Besitzers.«

»Und wie gelangte es in die Küche?«, wollte Margarete wissen, noch immer bleich im Gesicht.

»Das wird sich ganz rasch feststellen lassen«, sagte Lea zornig und stand auf. Sie verließ die Küche, stellte sich auf die unterste Treppenstufe zur sala und brüllte Moises Namen in einer Lautstärke nach oben, als wolle sie diesen Jungen von der anderen Seite der Lagune zurückrufen.

Und Moise kam. Er kam viel zu schnell, sodass offensichtlich war, dass er auf diesen Ruf gewartet hatte. Er lächelte freundlich in die erstarrten Gesichter der Frauen und zugleich so, dass niemand den Eindruck haben konnte, dass es sich hier um den Sündenbock handelte.

»Weißt du, woher dieses Buch stammt?«, fragte Lea streng.

Moise ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er nahm das Buch in die Hand und begann zu buchstabieren.

»L, u, t, h, e, r, M, a, r, t, i, n. Martin Luther. Es stammt von Martin Luther«, erklärte er dann mit sanfter belehrender Stimme, so, als seien diese drei Frauen seine Schüler, die ihre Hausaufgaben nicht sorgfältig genug gemacht hätten.

»Ich habe nicht gefragt, wer es geschrieben hat«, sagte Lea ein zweites Mal, und unterdrückte dabei nur mühsam ihren Zorn, »ich will wissen, woher du es hast.«

Moise sah sie verblüfft an.

»Nun, woher wohl? Von deinen Bücherstapeln im Kaminzimmer. Oder im salotto. Von deiner Bibliothek, die du zurzeit bearbeitest. Du hattest mir erlaubt, dass ich mir die Bücher alle anschauen darf, alle«, wiederholte er mit erhobener Stimme. »Oder?«

Lea schluckte. »Das habe ich«, gab sie dann zu.

»Du hast auch gesagt, dass ich immer fragen darf, wenn ich etwas nicht verstehe.« Moises Stimme wurde um eine Tonlage höher. »Das hast du doch auch gesagt, oder?«

Lea schluckte ein zweites Mal. Moise hatte den Eindruck, dass sich sein Terrain verbreiterte.

»Und ich habe nicht verstanden, was das heißt, diese Sachen mit den Lügen und den Juden. Deswegen habe ich das Buch hierher gelegt. War das falsch?«, fragte Moise, als verkünde er soeben einen der Texte der Gesetzestafeln. »Ich dachte, irgendjemand von euch könnte mir das erklären«, fuhr er dann mit zusammengekniffenen Augen fort.

Crestina drehte sich um, Margarete nahm ein Holzbrett von der Wand, begann den Kopf des Fisches abzuschneiden, den sie gekauft hatte, und warf ihn in einen Eimer neben dem Spülstein. Lea setzte sich auf den Stuhl und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann zog sie ein Tuch aus ihrem Kleid und wischte über den Tisch, an dem es nichts zu wischen gab.

»Aber ihr wollt mir gar nichts erklären«, sagte Moise zornig und schlug mit einem Kochlöffel auf einen umgedrehten Kochtopf. »Meine Fragen stören euch. Und niemand von euch kann mich leiden.« Er machte eine Pause und starrte Margarete feindselig an. »Und du wohnst mit diesem Luther, der dieses Buch geschrieben hat, zusammen im fondaco.«

»Ich mache was?«, fragte Margarete empört. »Luther ist bereits seit über neunzig Jahren tot.«

»Aber in deinem Kopf lebst du doch mit ihm zusammen«, sagte Moise mit zornigen Augen, »oder etwa nicht?«

»Wer sagt das von Luther und dass Margarete mit ihm zusammenlebe?«, wollte Crestina wissen.

Aber Moise war zu keiner Antwort mehr bereit.

»Und außerdem stehlt ihr mir meine Mutter«, sagte er dann böse und warf den beiden Frauen einen feindseligen Blick zu. »Früher hatte sie viel mehr Zeit für mich. Seit sie hier bei euch ist, hat sie keine Zeit mehr! Nur noch für diese alten Bücher!« Dann stampfte er mit dem Fuß auf den Boden und rannte schreiend vor Wut aus der Küche.

»Du musst ihm nachgehen«, sagte Crestina nach einer Weile, als Moises schrille Schreie noch immer durch den Palazzo dröhnten, »sonst wird er sich wieder in dieser alten Gondel vergraben, die er seit der Rückkehr in dieses Haus als sein ureigenes Refugium betrachtet. Dorthin zieht er sich immer mit seinen Büchern zurück, wenn ihm der Palazzo zu groß erscheint und er sich nach der Enge des Ghettos sehnt.«

»Nein«, erwiderte Lea hart, »er muss sich selber zurechtfinden und vor allem muss er lernen, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Und er muss begreifen, dass er so etwas nicht ein zweites Mal machen darf. Wenn er schon in meinen Büchern herumstöbert –«

»Ich denke, du hast es ihm erlaubt«, wagte Crestina einzuwenden, »und jetzt musst du ihm einfach helfen.«

Lea band resolut ein großes Küchentuch um ihren Leib und zog ihren Korb zu sich heran.

»Er wird schon zurückkommen. Ich weiß, was er macht«, murmelte sie dann vor sich hin.

»Und? Was macht er?«

Lea sah Crestina an. »Er ist in deiner Rumpelkammer.«

»Rumpelkammer«, sagte Crestina verblüfft. »Was soll das sein? Und wo soll das sein? Ich wusste gar nicht, dass ich so etwas besitze.«

»Nun, auf deinem solaio«, erwiderte Lea. »Ich dachte mir schon, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Da gibt es einen Verschlag, in dem steht ein uraltes Bett, ein paar Weinflaschen, eine Schüssel und ein Regal.«

Crestina runzelte die Stirn.

»Das stammt vermutlich noch von Jacopo, aus den Zeiten der Pest. Er hatte sich eine Kammer eingerichtet, damit wir keine Mühe mit ihm haben sollten, wenn es ihn erwischt. Aber natürlich kam alles anders. Und was macht Moise dort?«

»Irgendjemand von euch muss früher einmal Tierskelette gesammelt haben«, sagte Lea zögernd, »alles Mögliche, Vögel, Mäuse, Ratten, Falken, was weiß ich alles. Ich habe es mir nie genau angesehen, weil es mich ekelt.«

Crestina verzog das Gesicht.

»Das war Bartolomeo, er hatte den makabren Hang zu solchen Dingen und hatte seine ganze Kammer voll gestellt mit diesen Skeletten. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie noch existieren.«

»Nun, das haben sie vermutlich auch nicht«, erwiderte Lea, »es waren zu Beginn nur noch Reste vorhanden, die kreuz und quer übereinander lagen. Aber Moise hat sie geordnet, wieder zusammengebaut, und sie dann in dieses Regal in dem Verschlag gestellt. Damit spielt er jetzt.«

»Mit den Skeletten?«, fragte Margarete verblüfft. »Was kann man damit spielen?«

Lea schmunzelte vor sich hin.

»Nun, er lässt die Tiere miteinander reden. Auch kämpfen. Wenn eines dabei kaputtgeht, baut er es wieder zusammen.«

»Und woher weiß er, wie diese Skelette zusammengehören?«, wollte Crestina wissen.

»Nun, woher wohl«, antwortete Lea mit einem Anflug von Stolz. »Schließlich ist er ein Kind, das mit und zwischen Büchern aufwächst. Wenn er niemand zum Spielen hat, hockt er stundenlang zwischen meinen Büchern und betrachtet sie. Dabei fand er auch Tierbücher mit den Skeletten, für die er sich besonders interessierte.«

»Ein seltsames Kind«, sagte Crestina nachdenklich, »man fragt sich nur immer wieder, was eines Tages aus ihm werden wird.«

»Andere Jungen bauen Schiffsmodelle«, verteidigte Lea Moise, »er interessiert sich für Tiere. Was soll denn schlimm daran sein?«

»Natürlich nichts«, meinte Crestina. »Ich denke nur, dass es für dich nicht einfach ist, mit einem solchen Kind und seinen Ideen zurechtzukommen.«

Lea seufzte.

»Nun ja, manchmal wünsche ich mir mehr Ruhe. Nur einen einzigen Tag, an dem nichts geschieht, nichts zu entscheiden ist, nichts zu begradigen, kein Gespräch mit irgendwelchen Leuten, um zu erklären, dass ein Kind kein Baum ist, den man in die Erde setzt, und da bleibt er dann gehorsam sitzen. Aber wenn ich mich abends auf meine Schlafbank legen kann und die ganz große Hiobsbotschaft ist ausgeblieben, bin ich schon zufrieden.«

Aber die nächste Hiobsbotschaft erreichte den Palazzo nur wenige Tage später. An Leas Kochtag, der sie stets schon früh am Morgen in Nervosität versetzte, weil sie sich nie sicher war, was sie ihren Freundinnen vorsetzen sollte. Und diesmal hatte sie ihre Planung bereits dreimal umgeworfen, schon bei den Suppeneinlagen.

Für die gebackenen Lokschen konnte sie sich nicht entscheiden, weil die Ringform, mit der sie aus dem Strudelteig winzige Ringe ausstechen musste, an einer Stelle gerissen war und sie fürchtete, dass die Ringe nun keine perfekten Ringe mehr sein würden. Außerdem brauchte das Ruhen des Teigs bereits zwanzig Minuten, das Austrocknen des Strudelteigs für die Nudelstückchen nochmals dreißig Minuten und die Zubereitung der Rinder- oder Hühnersuppe nahm weitere Zeit in Anspruch. Irgendwann entschloss sie sich dann für Teiglech, da sie diese für eine klare Suppe in schlichtem Salzwasser garen konnte.

Bei der Vorbereitung des Hauptgerichts war sie dann erneut in Zwiespalt geraten. Sie hatten die Absprache getroffen, dass jede der drei Frauen ihren Tag auch selber finanzieren sollte und da sich keine von ihnen nachsagen lassen wollte, dass sie knauserig war, konnten sich ihre Essen stets sehen lassen. Lea hatte sich also diesmal für ein im Topf gebratenes Huhn entschieden, aber sie hatte Schwierigkeiten mit der Entscheidung, ob sie das Huhn füllen sollte, weil das die Mahlzeit natürlich strecken würde. Es musste zwar nicht unbedingt als solches betrachtet werden, man konnte es ohne weiteres auch einfach als eine andere Form eines Hühnerbratens gelten lassen, aber sie war trotzdem unsicher gewesen. Als sie sich am Tag zuvor dann endlich für einen Hühnerbraten nach jüdischer Machart entschieden hatte, hatte sie bereits in aller Frühe mit dem Kochen begonnen, damit noch genügend Zeit für den Pflaumen-Feigen-Zimmes blieb, für den sie die getrockneten Früchte bereits über Nacht eingeweicht hatte.

Als der Türklopfer jetzt gegen die Haustüre fiel, hatte sie soeben den Zimmes fertig gestellt und hob einen Löffel davon Margarete entgegen, die soeben mit einem Wäschekorb auf die Altane hinaufsteigen wollte, um die Wäsche aufzuhängen.

»Ich geh rasch aufmachen«, sagte Margarete bereitwillig.

»Lass nur, ich kann das auch«, erbot sich Crestina, und stellte ihren Besen zur Seite, mit dem sie soeben das androne auskehrte. Sie band ihre Schürze ab und öffnete die Tür, vor der ein Junge stand. Ob er Mona Lea sprechen könnte, sagte er und drehte verlegen an seiner Mütze, die er abgenommen hatte.

Margarete hatte ihren Korb abgestellt und kam hinzu. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass mit diesem Jungen etwas nicht stimmte, und fragte, ob sie etwas ausrichten könnten, Mona Lea sei gerade beschäftigt.

Der Junge nahm die Mütze in die andere Hand und zog an einem Faden, der herunterhing. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Nase und sagte entschieden, er habe etwas auszurichten. Persönlich.

»Wer ist es denn?«, fragte Lea aus der Küche und wischte sich die Zimmes-Spritzer aus dem Gesicht.

Crestina zuckte mit der Schulter.

»Vielleicht solltest du besser kommen.«

Aber der Junge konnte ganz offensichtlich seine Ungeduld nicht länger bezähmen.

»Er ist nach Livorno gegangen«, sagte er dann hektisch, »nach Livorno.« Dann wandte er sich hastig um und rannte davon.

Lea hatte sich inzwischen die Hände an der Schürze abgewischt und kam zur Tür. Dann stutzte sie. Sie sah einen wegrennenden Jungen, den sie nicht kannte, und hatte zugleich das Gefühl, dass sie ihn doch kannte. Sie hatte sogar das unheilvolle Gefühl, dass er aus dem Chazer stammen könnte.

»Was hat er gesagt?«

Crestina sah Margarete an, Margarete sah Crestina an. Auch wenn kein Name genannt worden war, war ihnen klar, was gemeint war.

Er sei nach Livorno gegangen, erklärte Crestina schließlich.

»Was hat er … was hat er sonst … sonst noch gesagt?«, fragte Lea erregt.

»Nichts«, sagte Margarete.

»Nichts«, wiederholte Lea tonlos.

Sie warfen dieses ›nichts‹ wie einen Spielball einige Male zwischen sich hin und her, dann gab Lea nach.

»Also nach Livorno. Endlich.«

»Was will er denn in Livorno?«, fragte Crestina alarmiert und erinnerte sich an das Gespräch, das sie erst vor kurzem mit Lea geführt hatte.

»Vermutlich will er Steinchen auf ein Grab legen. Ein Grab, das überhaupt nicht existiert«, murmelte Lea. »Auf das Grab seiner Eltern, seiner richtigen Eltern«, fügte sie hinzu, als sie Margaretes verblüfftes Gesicht sah.

Sie wandte sich um, stapfte in die Küche zurück und hängte ihr Küchentuch an den Nagel.

»Ich fahre zu ihm. Jetzt. Sofort.«

Dass aus diesem ›sofort‹ dann der nächste Tag wurde, hatte mit den beschwörenden Fragen der beiden anderen Frauen zu tun.

»Weißt du eigentlich, wo dieses Livorno liegt?«, wollte Margarete wissen.

»Und ist dir klar, dass du dahin über den Apennin musst?«, wollte Crestina wissen.

»Weißt du, wie viele Reisetage das sind?«, fragte Margarete und berichtete, dass sie auf ihrer Reise nach Rom einmal drei Tage länger gebraucht hatte, weil sie in den Bergen vom Schnee überrascht worden war.

Lea musste zugeben, dass sie gar nichts wusste. Nicht, wo Livorno lag, nicht, wie lang man dorthin brauchte, nichts über den Apennin. Er hätte geradeso gut am Nordpol liegen können oder in der Wüste.

»Ich hatte Abram für solche Sachen«, verteidigte sie sich trotzig, »er hat so was gemacht, nicht ich.«

»Abram ist tot«, stellte Margarete nüchtern fest, »du musst schon selber entscheiden, was du tun möchtest.«

»Abram ist nicht tot«, widersprach Lea heftig, »genauso wenig wie Riccardo tot ist, oder?«, wandte sie sich an Crestina, da ihr klar war, dass sie von ihr hier in jedem Fall Hilfe erwarten konnte.

Nachdem die beiden Frauen sich darauf geeinigt hatten, dass weder Riccardo noch Abram tot waren, sondern dass die beiden lediglich ›gegangen‹ waren, hatte Lea sich so weit beruhigt, dass man entschied, am nächsten Tag zu fahren. Das sparte eine Übernachtung. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sie alle fahren würden. Alle.

Es gab eine halb warme Suppe mit zerstörten Ringen, zu denen sie sich später doch noch entschlossen hatte, ein verbrutzeltes Huhn und angehängtes Zimmes. Als sie in der Küche, nicht, wie sonst üblich in der sala, die Mahlzeit einnahmen, war Lea bereit, Dinge zu erklären, die zumindest für Margarete nicht verständlich sein konnten.

»Und weshalb überhaupt Livorno?«

»Moise kam zu uns, weil die Familie unserer Tochter in Spalato lebte. Sie hatten den Jungen in einem Haus gefunden. Seine Eltern waren dort vermutlich gerade zu Besuch gewesen. Die Leute, die Hausbesitzer, waren bereits alle an der Pest gestorben, und das Kind war mehr tot als lebendig. Also nahmen sie es auf in ihr Haus. Aber dann starben sie selber, und das Kind blieb ein zweites Mal zurück. Nachbarn, die überlebt hatten, brachten Moise zu Samson, so kam er nach Venedig, aber natürlich wusste niemand, wo er eigentlich hingehörte. Jeder nahm an, er stamme aus Spalato. Und dort ließen wir auch nach seinen Angehörigen suchen.«

»Aber doch nicht ganz gründlich«, warf Crestina ein.

Lea blickte nach unten.

»Nicht ganz gründlich, vielleicht.«

»Weshalb?«, wollte Margarete wissen.

»Weil Lea einen Jungen im etwa gleichen Alter verloren hatte. Sie verstand es so, dass, nun …«, Crestina stockte.

»Gott hatte ihn uns geschenkt«, verteidigte sich Lea, »weshalb hätte er ihn uns sonst auf diesem umständlichen Weg geschickt?«

Crestina warf Margarete einen Blick zu, und sie verstand. Für Lea lag alles in Gottes Hand, wenn es in ihre Planung passte. Ihre Fantasie fand keine Grenzen, wenn es galt, Dinge so hinzubiegen, dass sie mit ihnen glücklich sein konnte. Moise empfand sie als Geschenk des Himmels, und so war sie bereit, dieses Himmelsgeschenk in einem Maße zu verwöhnen, wie sie dies mit ihren eigenen Kindern nie getan hätte.

»Auf welches Grab will er denn die Steinchen legen?«, fragte Margarete irritiert. »Gibt es überhaupt eins? Ich meine eines, das seinen Eltern gehört, allein? Ich dachte immer, wer in der Pestzeit gestorben ist, hatte kein eigenes Grab.«

»Natürlich gibt es keine Einzelgräber«, sagte Lea erregt, »zumindest nicht hier bei uns in Venedig. Ich weiß natürlich nicht, wie es in Livorno ist oder in Spalato, ich war nie dort. Aber vermutlich werden sie auch in Livorno den Pesttoten keine eigenen Gräber gegeben haben. Genau wie bei uns. ›Hebrei‹ haben sie später irgendwann auf einen Grabstein geschrieben und die Jahreszahl, sonst nichts. Irgendwer hat dies getan, gewiss keine Juden, weil nämlich sonst ganz gewiss der übliche Segensspruch darauf gestanden hätte. Aber dieser schreckliche Junge im Ghetto, der Moise ständig quält und anstachelt, hat Moise vermutlich so lange zugesetzt, bis er glaubte, dass auch seine Eltern ein richtiges Grab haben müssten. Er hat mir einmal erzählt, dass dieser Junge ihn mitgenommen habe auf den jüdischen Friedhof auf dem Lido und ihm das Grab seiner Eltern gezeigt hat, auf das er Steinchen legen konnte. Es war ein Ort, an dem er trauern konnte. Aber diese Eltern sind nun mal nicht an der Pest gestorben, sondern irgendwann an einer anderen Krankheit. Und jetzt glaubt Moise nun eben, dass auch er das Recht hat, Steinchen zu legen auf ein Grab, das es nicht gibt. Und in Livorno schon gleich gar nicht, weil die Eltern zu jener Zeit zu Besuch in Spalato waren.«

»Hast du eigentlich nie versucht, ihm diese ganze schreckliche Situation wirklich deutlich zu machen?«, wollte Margarete wissen, als sie am anderen Morgen auf dem Weg waren.

Crestina und Lea lachten auf.

»Ihr Sohn, Samson, hat uns bereits dafür verrückt erklärt, was wir alles getan haben«, antwortete Crestina. »Wir haben ihn mitgenommen auf die Pestinsel, ihm das Grab Riccardos gezeigt, dieses Massengrab. In San Nicole auf dem Lido haben wir ihn an das jüdische Pestgrab geführt –«

»Das hat ihn eher verstört«, unterbrach Lea erregt, »erinnerst du dich? Dass kein Segensspruch auf dem Grab stand, dass hier hunderte von Toten liegen sollten, einer auf dem anderen, mit Kalk bestreut und –«

»Es waren diese pizzigamorti, die ihn verstörten«, unterbrach Crestina, »die Männer, die die Pesttoten forttrugen, sie in die Gruben warfen und sie dann mit Kalk bestreuten. Und er stellte sich vor, dass sie eines Tages ihn genauso mit Kalk bestreuen würden, weißt du noch?«

Lea nickte müde.

»Natürlich weiß ich das noch. Aber das hat alles nichts genützt. Er wollte eine Familie.«

»Die er nicht mehr haben kann, weil alle an der Pest gestorben sind.«

»Seid ihr da ganz sicher?«, bohrte Margarete.

»Es hat geheißen, dass alle an der Pest gestorben sind.«

»Wer hat das gesagt?«

»Samson hat sich erkundigt«, erregte sich Lea, und Crestina berührte Margaretes Arm. »Lass sie in Frieden. Es ist alles getan worden, was getan werden konnte.«

Eine Weile war Stille. Lea verließ die Kutsche.

»Ich dachte nur, da es vielleicht einen Grund geben könnte, dass man eben doch nicht alles getan hatte, was getan werden konnte.«

Crestina sah Margarete misstrauisch an.

»Was meinst du damit?«

»Nun, vielleicht war Lea so glücklich darüber, dass sie nun wieder ein Kind hatte, dass man eben doch nicht bis zum Letzten versuchte, die Sache aufzuklären.«

Crestina streckte den Kopf aus dem Fenster. »Das sage nur nie laut«, flüsterte sie dann.

»Du meinst, weil es stimmen könnte?«

»Ich meine gar nichts«, wehrte Crestina ab. »Und im Übrigen kommt sie gerade zurück.«

Es war eine schweigsame Reise. Lea grübelte die meiste Zeit vor sich hin, warf dann unvermittelt irgendwelche Vermutungen in den Raum, auf die sie keine Antwort erwartete. Meist gab sie sich die Antworten selber.

Crestina und Margarete hingen ihren eigenen Gedanken nach, die sich mit Moise beschäftigten oder auch nicht.

Ich werde vermutlich den Duft der japanischen Wollmispel verwenden, überlegte sich Margarete, und natürlich könnte ich versuchen, ihn mit Bergamotte zu kombinieren. Und die Flakons müssen unterschiedliche Farben haben. Und Namen habe ich bisher auch noch nicht für all meine Kreationen.

Crestina versuchte, sich an diesen Mann zu erinnern, der sie zu carnevale eingeladen und ihr ein Fest versprochen hatte, wie sie angeblich nie zuvor eines erlebt hatte. Und sie versuchte, zu einer Antwort zu kommen, die sie diesem Mann geben konnte, ohne ihn zu sehr zu verletzen.

Sie verbrachten drei Nächte in wenig freundlichen Gasthöfen, die Betten ungelüftet, vermutlich die Bettwäsche nicht einmal frisch. Am dritten Tag erreichten sie in den Abendstunden Livorno.

»Wenn Abram noch lebte«, sinnierte Lea, »würde er vermutlich nun liebevoll spottend sagen, dass es Zeit wäre für meine ›tausend Augen‹. Sterne, von denen ich früher eine Zeit lang immer geglaubt hatte, dass die Venezianer sie an den Himmel gesteckt hatten, damit sie die Menschen in Venedig besser überwachen könnten.«

Crestina lachte.

»Wir werden wohl besser daran tun, uns zunächst eine Bleibe zu suchen, damit wir wissen, wo wir unsere müden Häupter hinlegen heute Nacht.«

»Ich werde vorher ganz gewiss in der Gemeinde nachfragen«, sagte Lea hartnäckig, »jetzt gleich, da ist immer jemand zu Hause. Er muss ja mit irgendeinem der Kaufleute gegangen sein, die hierher gefahren sind, mit wem sonst?«

»Ganz gewiss wird er nicht allein über den Apennin gestapft sein«, beruhigte sie Crestina.

»Was waren das eigentlich für Kaufleute, die Moise kannte, wie du uns erzählt hast?«, wollte Margarete wissen.

Lea lachte.

»Nun ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Sie transportierten Bücher oder druckten sogar welche.«

»Ich denke, Juden durften kein Handwerk ausüben«, wunderte sich Margarete.

»In Livorno schon«, gab Lea zurück, »da hatten sie ja diese seltsame costituzione livornina, die ihnen die Freiheit des Handels, des Aufenthalts und der Religion gewährte. Das galt genauso für die Juden. Es gab nie ein Ghetto hier.«

»Dann könnte Moise also überall Unterschlupf gefunden haben«, stellte Crestina fest. »Bei einem Händler genauso wie bei einem Bäcker.«

Lea seufzte.

»Das könnte er.«

Dass sie Moise in der ersten halben Stunde ihres Aufenthalts in Livorno entdeckten, noch bevor Lea die jüdische Gemeinde gefunden hatte, verdankten sie einer Fülle von Zufällen.

»Man hat sich auch schon in Jerusalem an der Westmauer getroffen, wenn man einen Zettel zwischen die Steine gesteckt und diesen Wunsch geäußert hat«, sagte Lea später glücklich und so, als sei es nichts Besonderes gewesen, dass sie plötzlich Moise singen hörten. Hinter einer Ladentür.

Lea blieb stehen, als habe sie ein Schlag getroffen. Sie hielt die beiden Frauen am Ärmel fest und zwang sie, stehen zu bleiben.

»Hört ihr? Er singt.«

Crestina, die Moise am längsten kannte, zuckte mit den Schultern.

»Bist du sicher?«

»Und wenn er der einzige Junge in Livorno wäre, der hier singt, wüsste ich es«, flüsterte Lea erregt.

Als Nächstes war eine Männerstimme zu hören, die denselben Text wiederholte. Perfekter natürlich und mit Unterbrechungen.

»Es könnte ein Kantor sein, der für den Sabbat übt. Oder einem Schüler beibringt, wie er zu singen hat«, sagte Lea leise, »falls er einmal Kantor werden möchte.«

»Kantor?«, fragte Margarete, »will er etwa Kantor werden?«

Lea seufzte.

»In diesem Alter wollen Kinder alles werden. Vom Kantor bis zum Gastwirt.«

Der Gesang hatte inzwischen aufgehört, Stimmengewirr und Lachen war zu hören, dann trat ein Mann vor die Tür und sah die Frauen fragend an.

»Ich bin Lea Coen aus Venedig«, sagte Lea mühsam. »Ich vermute …«

Was Lea vermutete, konnte sie nicht mehr sagen, da ein Junge wie ein Pfeil aus dem hinteren Teil des Raumes geschossen kam und sich in Leas Arme warf. Er zerrte an ihrem Umhang, schob sich darunter.

»Rate mal, mit wem ich hierher gekommen bin?«, fragte er dann lachend.

Wer immer auch angenommen hätte, dass dieses Gespräch anders verlaufen würde, dass vor allem Vorwürfe darin Platz haben würden, hätte sich getäuscht: Es war kaum anders, als sei Moise nur eben mal kurz über den Platz des ghetto nuovo gerannt und nun in den Buchladen zurückgekehrt.

»Du musst fragen, mit wem ich unterwegs war«, beharrte Moise, als sich inzwischen eine ganze Gruppe von Menschen um sie versammelt hatten, Frauen, Kinder, Jugendliche.

»Nun, mit wem warst du denn unterwegs?«, fragte Lea folgsam und fürchtete sich vor der Antwort.

»Mit einem Kaufmann, bei dem ich später, wenn ich groß bin, einmal in sein Geschäft eintreten kann. Und dann fahre ich mit ihm über die Meere. Natürlich nur, wenn ich das will«, sagte Moise ernsthaft.

»Das ist ja wunderbar«, erwiderte Lea heiter, drückte Moise immer wieder von neuem an sich und bemühte sich, Moises Zukunftspläne nicht zu zerstören. Auch wenn sie sich nicht mit ihren Plänen deckten, da sie immer noch auf einen Rabbi hoffte, auf den sie bisher nicht nur einmal gehofft hatte mit ihren Söhnen.

»Es ist ein jüdischer Kaufmann«, versuchte Moise Lea zu beruhigen, als er ihr Gesicht sah.

Lea sagte verlegen, dass ihr das egal sei, auch wenn es nicht stimmte. Es wäre ihr natürlich nicht egal gewesen. Aber das konnte sie im Beisein ihrer beiden Freundinnen gewiss nicht bekennen.

»Weißt du, sie haben in Livorno keine Marangonaglocke, nach deren Läuten sie die Tore schließen müssen«, sagte Moise eifrig. »Und nachts braucht man daher auch nie das Gefühl zu haben, dass man eingesperrt ist bis zum Morgengrauen. Wie in einem Gefängnis. Wie bei uns in Venedig.«

»Nein, sie haben hier keine Tore, die beim Glockenläuten verschlossen werden«, sagte Lea entschuldigend, so, als habe sie für Moise einst die falsche Stadt zum Leben ausgesucht und als sei nun zu erwarten, dass vor diesen Fremden nun eine ganze Serie von Untaten gebeichtet würden, die Christen Juden angetan hatten.

»Sie haben überhaupt keinen Chazer«, ereiferte sich Moise, »und es gibt ganz viele Volksfeste, zum Beispiel einen Merkurwagen oder eine macchina della cuccagna, das ist so etwas wie ein Schlaraffenland.«

»Aber eine Glocke haben wir schon«, mischte sich jetzt lachend der ältere Mann ein, dessen Stimme sie zuvor vermutlich gehört hatten, »und wir haben auch –«

»Und ich habe überhaupt auch eine Familie«, unterbrach Moise und schob seine Hand in die des Mannes. »Er ist einer meiner Onkel, und«, er lachte schelmisch und deutete auf die Leute hinter sich, »ich habe vier Tanten und viele Vettern und Cousinen. Eine große Familie.«

Alle lachten, eine der Frauen öffnete die Tür ganz und schob Lea und ihre Freundinnen in das Haus.

»Ich denke nicht, dass wir hier alles auf der Straße erzählen müssen. Kommt herein.«

Es wurde ein langer Abend, der damit endete, dass Lea Moise in ihren Gasthof mitnehmen konnte. Mit dem Versprechen, am nächsten Morgen noch einmal wiederzukommen.

»Ich durfte auch Steinchen auf Grabsteine legen«, berichtete Moise später schon halb im Einschlafen. »Es macht ja nichts, dass es nicht meine Eltern waren. Auf jeden Fall waren es Gräber meiner Familie. Und meine Bar-Mizwa darf ich in Livorno feiern, damit ich nicht diesen roten Judenhut tragen muss.«

Lea seufzte. »Ich denke, du solltest jetzt schlafen. Es ist ja noch lange Zeit bis dahin. Morgen reden wir weiter.«

»Morgen ist immer so schnell«, sagte Moise schläfrig. »Und mein Onkel Jonathan hat gesagt, dass er sich von jetzt an auch um mich kümmern wird. Und dass ich auch zu jeder Zeit Kantor werden kann, weil ich eine so wunderschöne Stimme habe.« Er blinzelte schon halb im Schlaf. »Du hast mir nie gesagt, dass ich eine wunderschöne Stimme habe«, sagte er vorwurfsvoll. Dann fielen ihm endgültig die Augen zu.

Lea seufzte ein zweites Mal. Es war klar, dass sie Moise von jetzt an zu teilen hatte. Mit seiner übrigen Familie. Die aus Bäckern, Kantoren, Kleiderverkäufern, Schreibern, Schammes, Briefträgern und Frauen bestand, die dieses neue Mitglied ihrer Familie mit seinen venezianischen Freunden mit Liebe aufgenommen hatten.

Die Heimreise war das genaue Gegenteil der Hinreise. Ständig redeten alle durcheinander, erzählten sich gegenseitig all das, was an diesem Abend nicht hatte zur Sprache kommen können und seltsamerweise jetzt auch kaum mehr jemanden interessierte. Wie lange Moise gebraucht hatte, um diese Reise im Geheimen vorzubereiten, ohne dass Lea davon erfuhr, und vor allem, wie der Händler sich zielstrebig mit dieser Familie in Verbindung gesetzt hatte, zu der Moises Eltern, die in Spalato umgekommen waren, einst gehört hatten.

Moise hatte sein Buch mit den Liedern aufgeschlagen und sang ihnen vor. Weil er ganz sicher war, dass er hoffte, einmal Kantor zu werden. Ebenso sicher wie mit diesem Kaufmann über die Meere zu fahren. Und natürlich wollte er Kastilisch lernen.

»Kastilisch?«, fragte Margarete verblüfft, »weshalb um alles in der Welt Kastilisch?«

Lea blies die Backen auf. »Kastilisch ist die Schriftsprache von Livorno«, erwiderte sie dann jedoch mit aller Selbstverständlichkeit. »Und die muss er natürlich kennen, da er nun dort eine Familie hat. Und die Sprache braucht er auch, damit er später einmal Grabsteine lesen kann, weil er sich dafür interessiert. Nichtjüdische Grabsteine. Hebräisch kann er ja bereits, um die jüdischen zu lesen. Genügt das?«

Margarete stupste Crestina lachend in die Seite.

»Können wir da nicht froh sein, dass wir noch ohne Ehemänner sind und ohne Kinder?«