19. Sulzburg

»Meine Mutter geht mit einem Bündel wie ein Handwerksbursche. Konntest du nicht wenigstens eine Truhe nehmen und wenn sie auch noch so klein gewesen wäre?«

Moise stand vor Lea, schüttelte empört den Kopf und starrte auf das Bündel, das Lea soeben zusammengeknüpft hatte.

»Deine Mutter geht mit einem Bündel, wie Juden immer gegangen sind«, sagte Lea ruhig und blickte ihren Sohn prüfend an. »Hast du das vergessen?«

»Ich habe es nie erlebt«, gab Moise zurück und hob das Bündel in die Luft. »Was hast du überhaupt da drin? Goldbarren?«

Lea lachte.

»Dein Gedächtnis ist offenbar nicht mehr gut. Erinnerst du dich nicht mehr an jenen Tag, als du dieses Bündel mitten in der Nacht unter einer der Schlafbänke hervorgezerrt hast und mit mir zusammen aufmachtest?«

»Das liegt Jahre zurück«, wehrte Moise ab. »Ich erinnere mich nur noch daran, dass du wie üblich tausend Ängste hattest, der Staub könnte mir schaden. Ein Schofa-Horn war drin«, sagte er dann zögernd, »und Mesusot.«

»Nicht nur Mesusot, auch ein Chanukka-Leuchter, den du in der Jeschiwa als kleiner Junge gemacht hast, ein Jad, eine kleine Thora, eine Purim-Ratsche von euch Kindern, eine Chamsa und ein Davidstern.«

Moise stellte das Bündel auf den Boden.

»Mir hast du nie eines gemacht«, sagte er dann vorwurfsvoll und runzelte die Stirn.

»Du wolltest dann eines, als du angenommen hast, es könnte eines Tages wieder eine der Inseln untergehen, so wie damals Malamocco. Und diese Idee, die dich ständig als Albtraum überfiel, wollte ich nicht noch dadurch festigen, indem ich dir auch noch ein Bündel machte, um für alle Fälle zu einer Flucht bereit zu sein. Und nach Livorno bist du ja damals auch ganz gut ohne Bündel gekommen.«

Moise lächelte vor sich hin, dachte an seine mehr als verrückte Fahrt als Sechsjähriger nach Livorno, um seine Familie zu finden und Steinchen auf ihre Gräber zu legen, die es gar nicht gab. Dann blickte er Lea prüfend an.

»Wie hast du dir die ganze Sache überhaupt vorgestellt? Dieses Sulzburg liegt ja nicht gerade bei Burano oder Murano oder sonst wo vor der Haustüre unserer Stadt.«

»Nein, das liegt es nicht«, räumte Lea ein und zog ein zusammengefaltetes Papier aus ihrem Gewand, »aber ich werde trotzdem hinkommen.«

»Mit deinen kranken Beinen?«, zweifelte Moise und deutete auf Leas ständig geschwollene Füße. »Wer soll sie dir unterwegs wickeln?«

»Ich will ja nicht laufen«, sagte Lea fröhlich. »Ich fahre. Und überdies habe ich einen Stock.«

»Jaja, du stellst dich an die Straße und wartest, bis jemand kommt, der von Venedig nach Sulzburg fährt und Lea Coen mit seiner Kutsche oder seinem Wagen mitnimmt?«, spottete Moise.

Lea breitete das Papier vor Moise aus und fuhr mit dem Finger auf der Karte eine Strecke ab, die mit roter Farbe eingezeichnet war.

»Woher hast du diese Karte?«, fragte Moise misstrauisch.

»Die habe ich mir gemacht«, erwiderte Lea nicht ohne Stolz.

»Und woher hast du gewusst, wie sie aussehen muss?«

»Bin ich jetzt bei einem Verhör der Inquisition?«, fragte Lea verärgert.

»Entschuldige«, sagte Moise leise und strich Lea über den Arm. »Also, wie willst du fahren?«

»Zunächst von Venedig nach Padua mit einem Nürnberger Händler, den ich von meiner Arbeit her kenne. Dann geht es weiter nach Mailand, weil der Händler einen zollfreien Ort wollte, aber es ist ja kein großer Umweg. Weiter nach Norden, dann Ravensburg, von da aus nach Basel mit einem Buchhändler, der nach Frankfurt zur Buchmesse fährt. Den verlasse ich in Müllheim. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung bis Sulzburg. Für diese kurze Strecke habe ich bis jetzt noch keine Fahrgelegenheit«, gestand Lea leicht verlegen. »Aber die werde ich ganz gewiss finden«, fuhr sie dann selbstbewusst fort.

Moise verfolgte die Strecke mit dem Finger, sah Lea misstrauisch an.

»Und wer hat dir das alles gesagt und erklärt? Zu mir bist du damit ja nicht gekommen, wie es sich gehört hätte. Und Abram ist tot.«

»Er ist nicht tot«, sagte Lea mit Bestimmtheit und zog aus einem Beutel einen capel nero hervor, den sie Moise triumphierend entgegenhielt.

Moise zuckte zusammen, weigerte sich, den Hut der Venezianer, den Juden nicht tragen durften, diesen capel nero, in die Hand zu nehmen.

»Er beißt nicht«, spottete Lea, »und ich habe ihn dir schon einmal angeboten. Aber du hast ihn ja auch damals nicht gewollt. Obwohl er mich auf immer mit Abram verbinden wird.«

Moise schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Ich denke, dass es wohl ein roter Hut ist, der dich für immer mit Abram verbinden müsste«, sagte er dann zornig. »Der rote spitze Hut, den wir Juden tragen müssen, den auch Abram tragen musste. Und du wolltest ihn dazu überreden, dass er diesen Hut trägt, diesen verbotenen Hut, für den man ihn bestraft hätte?«

»Ich wollte nur, dass er ihn einmal trägt, ein einziges Mal«, verteidigte sich Lea. »Und ich –«

»Ich weiß bis heute nicht, woher du diesen Hut eigentlich hast?«, unterbrach sie Moise.

»Ich hatte ihn auf seinen Sarg gelegt, als wir zum Friedhof auf die Insel fuhren. Aber dann wehte ihn der Wind ins Wasser. Samson fischte ihn heraus und gab ihn mir. Später, obwohl ich ihn da nicht mehr wollte. Aber nun hebe ich ihn eben auf. Für irgendjemand, der ihn eines Tages will.«

Moise nahm den Hut und legte ihn auf Leas Schlafbank, was wohl die endgültige Entscheidung für diesen Hut sein sollte.

»Auch wenn ich diesen Hut weder damals noch heute nehmen werde, so frage ich mich immer noch, weshalb du nicht zu mir gekommen bist mit deinen Plänen?«

»Du hättest mir das Ganze doch sofort auszureden versucht«, verteidigte sich Lea. »Aber ich bin im Kopf ja noch ganz gut, wenn auch nicht mehr auf den Füßen. Und ich muss ja nicht laufen.«

Moise schüttelte ungläubig den Kopf, schluckte dann und schüttelte ihn wieder. »Nein, ich sage ja gar nichts mehr«, erwiderte er dann, als Lea ihn abwartend ansah.

»Und Abram ist nicht tot«, wehrte sich Lea mit aller Bestimmtheit. »Er ist immer bei mir, wenn ich ihn brauche.«

Moise warf die Hände über den Kopf.

»Natürlich ist er das. Und eines Tages macht ihr miteinander Gilgul. Er von Venedig und du von Sulzburg, nach Jerusalem«, spottete er dann.

»Hör auf zu spotten!«, sagte Lea zornig. »Darüber macht man sich nicht lustig. Und wenn der Messias jetzt nicht gekommen ist, dann kommt er eben später. Irgendwann. Er wird kommen. Auch zu jenen, die so ungläubig sind wie du.«

»Aber du hast doch keinerlei Ahnung, was du in Sulzburg vorfinden wirst. Ob du überhaupt dort wohnen kannst. Ob das Haus deines Großvaters noch besteht, ist doch gar nicht sicher.«

»Seine Backstube steht ganz gewiss noch«, sagte Lea mit Entschiedenheit.

»In der Backstube kannst du nicht wohnen.«

»Aber ihren Friedhof werden sie auch noch haben«, meinte Lea in aller Gelassenheit.

»Lea, dieses Sulzburg hast du doch nie gesehen«, sagte Moise behutsam, »du hast davon deinen Kindern erzählt, aber gesehen hast du es nie.«

»Auch Dinge, die man nicht gesehen hat, können wahr sein«, erwiderte Lea. Und ihre Kinder hätten sich nach diesen Geschichten gesehnt.

»Aber du weißt nicht, ob Juden dort wieder wohnen dürfen, verjagt ist verjagt.«

»Nichts ist für die Ewigkeit. Auch Verbote nicht. Auch hier in Venedig wird eines Tages nichts mehr so ein, wie es jetzt ist. Die Tore werden fallen.«

»Jaja, die Tore werden fallen, weil du es so willst und geträumt hast«, sagte Moise gutmütig. »Natürlich werden sie eines Tages fallen. Es fragt sich nur, wann.«

»Die Bilder liegen in einer Mappe unter meiner Schlafbank«, erklärte Lea sachlich, als sie das Gefühl hatte, dass alles gesagt war, was hatte gesagt werden müssen. »Nur für den Fall, dass sich eines Tages jemand für sie interessiert.«

»Welche Bilder denn?«

»Die Bilder, die der Onkel gemalt hat. Die Bilder von unserer Familie. Und dann die Bilder, die Margarete gemacht hat. Diese lustigen Bilder von uns drei Frauen. Du kennst sie nicht, aber irgendwer wird ganz gewiss einmal wissen wollen, wer das war.«

Moise seufzte.

»Ja, ganz gewiss. Irgendwer. Irgendwann.«

Lea verließ das Haus, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie trug ihr Bündel auf dem Rücken, obwohl Moise ihr angeboten hatte, sie zu der Stelle zu bringen, von der der Kaufmannszug aufbrechen würde. Am fondaco.

»Nur keinen Abschied«, hatte sie ebenfalls nahezu panisch abgewehrt, als Crestina angeboten hatte, sie in die Kutsche zu setzen. Wobei Crestina den Verdacht hatte, dass Lea verschleiern wollte, dass es sich um keine Kutsche handelte, sondern lediglich um einen Wagen, auf dem Waren transportiert wurden.

»Nur keinen Abschied. Abschiede sind das Dümmste, was sich irgendwer einmal ausgedacht hat. Bei den Indianern gibt es das überhaupt nicht. Die gehen einfach weg«, sagte sie mit aller Entschiedenheit.

Crestina schüttelte hilflos den Kopf.

»Bei den Indianern vielleicht, aber bei den Juden?«

Aber Lea schien in diesem Augenblick bereits weit weg zu sein von ihrer Heimatstadt und ihren Freunden. Und Crestina hatte den Eindruck, dass ihr in dieser Minute egal war, wofür sie von der ganzen Welt gehalten wurde. Für eine Indianerin oder eine Jüdin.