5. Besuch aus Nürnberg

Sie stand vor der Tür, auf dem Kopf ein kostbares Gebilde aus Perlen und Spitzen, in dem eine blaugrüne Feder wippte, die blonden Haare waren in dicken Flechten um den Kopf gelegt, auf ihrem Gesicht lag ein leichtes Lächeln. Das lange rote Samtkleid, das die Besucherin trug, war an den Ärmeln geschlitzt und ließ weißen Satin hindurchscheinen, um den Hals trug sie eine grünschwarz schillernde Perlenkette.

Crestina kannte die Frau nicht. Sie erschien ihr ziemlich jung, fast noch ein Mädchen, und sie fand die Kleidung etwas stutzerhaft für dieses Alter.

»Ihr möchtet gewiss zu Mona Livortasso«, sagte sie freundlich, nachdem die Fremde sie weiterhin anlächelte. »Sie wohnt gerade ein Stockwerk unter mir.«

Das Gesicht der Fremden verzog sich etwas, das Lachen wurde deutlicher. »Nein, ich möchte gewiss nicht zu Mona Livortasso«, sagte sie dann mit einem deutlichen Akzent, und Crestina erkannte, dass es sich um jemand handeln musste, der nicht aus Venedig stammte, mit Wahrscheinlichkeit nicht einmal aus diesem Land. Sie versuchte in ihrem Gedächtnis eine Spur zu finden, irgendwo flammte eine Erinnerung auf, verlosch aber sogleich wieder.

»Risi e bisi und die Pegnitz im Rücken«, sagte die Fremde jetzt in gestelztem Ton und begann laut zu lachen, »erinnerst du dich nicht mehr?«

»Margarete?«, fragte Crestina verblüfft, »du kannst nur Margarete aus Nürnberg sein!« Dann riss sie die Fremde in die Arme, umarmte sie, als wolle sie sie nie mehr loslassen.

»Du verdrückst meine kostbare Kopfbedeckung«, wehrte sich Margarete lachend. »Ich habe sie erst vor einer halben Stunde gekauft. Für dich. Damit du dich auch wirklich wunderst.«

»Bestimmt bei Zentano?«, fragte Crestina amüsiert. »In der Nähe der Rialto-Brücke?«

Margarete lachte.

»Genau dort. Und jetzt würde ich eigentlich gerne hereinkommen dürfen.«

Crestina schob Margarete in den Raum, räumte hastig einen ihrer Stühle leer, die mit Büchern bedeckt waren.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Acht Tage«, sagte Margarete und legte den kostbaren Kopfputz behutsam auf den Tisch.

»Und weshalb hast du mich nicht eher besucht?«

»Weil ich Mühe hatte, dich zu finden«, antwortete Margarete. »Im Palazzo öffnete niemand, außer den Tauben auf dem Dach war nichts Lebendiges zu entdecken. Irgendwelche Nachbarn behaupteten, der Palazzo gehöre dir schon lange nicht mehr, du seist bereits vor Jahren ausgezogen und nicht mehr in der Stadt. Andere sagten, du seist auf Torcello, auf Murano, irgendwo an der Brenta in einer Villa. Aber keiner wusste Genaues. Die Letzten, die ich fragte, sagten, du wohnst auf der Giudecca bei einer Fischersfrau, seist mit einem Fischer verheiratet, und als ich die Fischerhütte nach langem Suchen endlich fand, hieß es, du seist vielleicht noch in Cannaregio, aber keinesfalls mit einem Fischer verheiratet. Und du seist vermutlich hier oben …«, Margarete stippte sich an die Stirn, »… leicht gestört, weil du dich durch die ganze Stadt hindurchgewohnt hättest.«

»Das stimmt in etwa alles«, sagte Crestina seufzend. »Bis auf die Villa an der Brenta. Das war die limonaia. Und Gott sei Dank ist hier oben …«, sie stippte sich ebenfalls an die Stirn, »… noch alles in Ordnung.«

»Und womit hast du deine Tage verbracht?« Margarete zog ihre Handschuhe aus und zählte an den Fingern. »Die ungefähr zweitausend Tage, in diesen fünf Jahren, die wir uns nicht gesehen haben?«

»Möchtest du einen Grappa?«, fragte Crestina und bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Wenn wir beide einen nötig haben, weshalb nicht? Auch wenn ich am frühen Morgen sonst nichts trinke, da brauche ich einen klaren Kopf.«

Crestina nahm zwei Becher aus dem Regal, füllte sie, schob einen davon zu Margarete.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie dann, »dafür brauche ich Stunden. Vielleicht erzählst du zunächst einmal, wie es dir ergangen ist. Willst du unser Land kennen lernen, bist du mit einer Lehrerin hier, mit deiner Familie?«

Margarete lachte laut.

»Nein, weder Lehrerin noch Familie und schon gar nicht als Reisende. Ich bin Geschäftsfrau.«

»Geschäftsfrau?« Crestina verschluckte sich fast an ihrem Grappa. »Wieso das?«

»Nun«, Margarete gab der gebogenen Feder ihrer Kopfbedeckung eine andere Richtung und blickte Crestina an.

»Wie du weißt, waren wir doch immer eine Familie, die Geschäfte macht, oder hast du das etwa vergessen? Mein Vater machte Geschäfte, meine Mutter machte Geschäfte, Schreck machte Geschäfte, mein Bruder Lukas versuchte es ebenfalls, auch wenn er früher noch nicht so gut darin war. Dir hat das damals ja alles nie so ganz gefallen. Ich vermute, Nürnberg war für dich und deinen Bruder Riccardo ein Ort des Schreckens. Nichts mit Geist in unserer Familie, keine klugen Bücher, niemand konnte Latein oder Griechisch.«

»Und Lukas?«, fragte Crestina verlegen, die sich nur ungern an jene verquälten Tage in dieser Familie erinnerte, in die sie damals hätte einheiraten sollen.

»Ja, natürlich Lukas«, sagte Margarete bedeutungsvoll. »Er ist inzwischen in der Familie der größte Geschäftemacher. Er ist Waffenhändler geworden und bei uns zu Hause wird nun bei sämtlichen Mahlzeiten über nichts anderes mehr gesprochen, als über die Unterschiede zwischen dem minderwertigen Kölner Harnisch und dem hervorragenden Nürnberger Harnisch und dass der herkömmliche Fußknechtsharnisch jetzt endlich von einem tausendmal besseren überholt worden sei.«

»Nicht mehr über Zima des Taquila, Zima Duschkani, Zima des Bullia«, zählte Crestina lachend auf und fuhr dann stockend fort, »Terra dorta, Catalon, Mettel, Morokin, Mendis, Proventisch?«

»Nein, nicht mehr über Zima Duschkani und Terra dorta und Morokin«, seufzte Margarete, »und viel behalten hast du ganz offensichtlich von diesen Safransorten nicht – du wirfst sie alle durcheinander, die französischen, die italienischen und die spanischen.«

»Und wer kümmert sich dann um den Duschkani und den Morokin und all diejenigen, die ich über einen Haufen werfe?«, wollte Crestina wissen.

Margarete wog den Becher in ihrer Hand.

»Ich«, sagte sie dann lächelnd. »Zumindest für den Augenblick. Aber natürlich gibt es auch noch einen Faktor, mit dem ich mich gut stellen muss.«

»Du gehst in den Spuren eines Safranhändlers?« Crestina fragte zweimal, weil es ihr kaum glaubhaft erschien.

Margarete lachte.

»Zumindest mal auf Probe. Wenn du zufällig am fondaco tedesco vorbeikommst, kannst du mich ganz gewiss im Innenhof sehen, wie ich irgendwelche störrischen Maulesel anbrülle oder saftige Flüche auf die Ballenbinder hinunterlasse, weil etwas nicht so geht, wie ich es will. Fluchen kann ich nämlich inzwischen so gut wie meine Mutter. Oder mein Onkel Schreck. Sogar auf Italienisch.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Crestina ungläubig.

»Weshalb nicht? Eine Frau, die in unserem Gewerbe nicht flucht, kommt nicht weit. Und mein Vater ist bereits drei Jahre tot, ich werde in seine Stelle ganz langsam hineinwachsen. Hoffe ich zumindest, wenn mir nicht noch etwas anderes einfällt. Zum Beispiel etwas, was nur mir gehört, etwas, was ich mir selber ausgedacht habe.«

»Aber du warst doch immer diejenige, die aus allem herauswollte, du warst diejenige, die sich wehrte, die eine eigene Welt aufbauen wollte, nicht in das große Geld einsteigen wollte. Du wolltest selbstständig sein«, sagte Crestina irritiert, »hast du alle deine Träume aufgegeben?«

Margarete zuckte mit den Schultern.

»Ich bin selbstständig, und ich mag Geld, ich habe nichts dagegen. Wenn ich Ovid übersetze, kann ich nicht davon herunterbeißen. Meine Träume muss ich deswegen noch lange nicht aufgeben.«

Crestina verkniff es sich zu sagen, dass sie dies mit ihren Übersetzungen sehr wohl könne. Auch wenn die Happen kleiner waren als mit dem Verkauf von Armbrüsten und Hellebarden.

»Und Agnes, was ist mit ihr?«

»Sie versorgt den Haushalt. Und betreut die Zwillinge.«

»Welche Zwillinge?«

»Lucas hat geheiratet, auch eine Geschäftemacherin, er hat zwei Kinder, seine Frau ist im Kindbett gestorben. Und im Übrigen redet er noch immer von dir. Er hat ganz fest vor, bald einmal zu kommen.« Sie lachte auf. »Meine Mutter übrigens auch. Sie hatte außerdem die verwegene Idee, einen Palazzo zu kaufen und dort ein Geschäft aufzuziehen, so wie es dein Vater einst hatte. Sie liebäugelt sogar mit der Idee, das Geschäft zu vergrößern. Sie wäre außerdem bereit, in das Reliquiengeschäft einzusteigen und im Mezzanin Mumien zu stapeln, so wie dein Vater in jener Zeit. Und in ihren völlig abgehobenen Wünschen sieht sie Lukas bereits dort einziehen, da sie der Meinung ist, dass die Zwillinge in der sala endlich einmal den rechten Auslauf zum Toben hätten und damit endlich zu kräftigen Kindern heranwachsen würden.«

Crestina zuckte zusammen, als habe ihr jemand mit einer Keule über den Kopf geschlagen, auch wenn keinesfalls ihr Palazzo gemeint war.

»Ich denke, jetzt brauchst du einen zweiten Grappa«, sagte Margarete, als sie sah, wie Crestinas Gesicht sich langsam verfärbte und einen gräulich blassen Ton annahm.

»Keine Angst, sie kommen gewiss nicht so bald«, sagte sie dann und goss Crestina ein. »Und im Übrigen habe ich jetzt genug von mir erzählt. Was machst du? Wie lebst du? Arbeitest du etwas, hast du viele Freunde?«

»Freunde? Du meinst männliche Freunde?«

Margarete lachte.

»Natürlich meine ich männliche Freunde. Es gibt wunderschöne Männer hier in der Stadt, jeden Tag kommen welche in den fondaco zu mir und wollen mit mir Geschäfte machen.«

Crestina hatte das dringende Gefühl, den Raum verlassen zu müssen. Sie stand auf, öffnete das Fenster, atmete mit tiefen Atemzügen ein und aus.

»Was ist mit dir?«, fragte Margarete erschrocken. »Bist du krank? Meine Großmutter brauchte auch immer ein offenes Fenster für ihr Herz. Du musst ja nicht reden, wenn es dich aufregt«, sagte sie dann entschuldigend, »ich kann gehen und ein andermal wiederkommen.«

Crestina schüttelte den Kopf, sah in ihrem Spiegel, wie die Tränen ihr übers Gesicht liefen.

»Um Himmels willen!«, sagte Margarete betroffen und zog ein Taschentuch aus ihrem Kleid. »Komm, setz dich.«

»Du hast gefragt, was ich getan habe in dieser Zeit«, sagte Crestina mühsam und schloss das Fenster. »Nun, ich habe eine schwarzrote Rose bewässert, auf der einstigen Pestinsel. Das war so ungefähr alles in den vergangenen Jahren, was ich gemacht habe. Außer noch ein paar Nebensächlichkeiten.«

Margarete starrte Crestina an. »Falls das verschlüsselt heißen soll, dass du fünf Jahre um Riccardo getrauert hast und es immer noch tust, dann ist das entsetzlich.«

»Dann ist es eben entsetzlich«, erwiderte Crestina trotzig. »Und ich habe noch etwas getan.«

»Du hast also diese schwarzrote Rose auf seinem Grab bewässert?«, hakte Margarete nach.

»Nicht auf seinem Grab. Ein Grab, das er mit hunderten anderen Pesttoten teilt. Auf der Insel. Auf Lazzaretto veccio. Und was ich sonst noch getan habe, ist das, was du für überflüssig hältst: Ich habe Ovid übersetzt. Horaz. Cicero.«

Margarete strich Crestina eine Locke aus dem Gesicht.

»Ich fürchte, ich bin irgendwie abgestumpft«, sagte sie dann zögernd. »Ich lebe in den Tag hinein, freue mich meines Lebens, bin fröhlich, mache meine Geschäfte, bin stolz, dass sie mir gelingen, als Frau gelingen. Ich genieße, was immer ich genießen kann. Und ich liebe Feste.«

Drunten von der Straße drang lautes Gelächter herauf, dann waren Schalmeien zu hören, Kinder warfen Steine in den Kanal und versuchten sich zu übertrumpfen, wer es am weitesten schaffte. Margarete stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus und winkte den Kindern zu.

»Am liebsten würde ich dich natürlich fragen, welche Pläne du für carnevale hast, das hatte ich mir fest vorgenommen, auch wenn das gewiss der falsche Zeitpunkt ist und es vielleicht noch eine Weile dauert, bis du so weit bist«, sagte Margarete plötzlich.

Crestina schüttelte müde den Kopf.

»Du weißt, in Venedig feiern wir nahezu das ganze Jahr über carnevale. Eine bautta kannst du immer tragen bei uns, ohne aufzufallen.«

Margarete nahm ihren Hut vom Tisch, setzte ihn auf und betrachtete sich im Spiegel.

»In Nürnberg sind sie anders, die Kopfbedeckungen. Bescheidener, steifer«, sagte sie dann sinnend, »hier gefallen sie mir entschieden besser. Sie sind irgendwie lustiger.«

Crestina hatte das Gefühl, dass sie Margaretes Großmutter, die ständig nach Luft japste, auf einmal sehr nahe sei, als Margarete endlich unter vielen gut gemeinten Sätzen, die über sie hinwegstoben wie die Tramontana im November, die Wohnung verließ. Und sie dankte Gott, dass sie heute ungestraft sämtliche Safransorten, die sie damals in Nürnberg für die Safranschau hatte auswendig lernen müssen, durcheinander wirbeln durfte und es ihr erspart blieb, all die komplizierten Unterschiede zwischen Klingenschmieden, Papiermühlen, Drahtziehermühlen, Schleifmühlen und Hammerwerken zu kennen, wie man es von ihr erwartet hatte, als sie noch glaubte, dass sie in dieses ›Ferne Land‹, wie sie Nürnberg immer genannt hatte, würde einheiraten müssen.