15. Tod einer Passiflora

»Was hattest du heute Vormittag auf meinem Schiff verloren?«

Crestina erschrak so sehr, dass ihre Tasse mit Tee, die sie soeben auf ihrer Bank am Seerosenbecken trinken wollte, überschwappte und die Flüssigkeit zur Hälfte in das Becken kippte.

»Das werden deine Fische wohl kaum mögen«, bemerkte Bartolomeo grinsend und warf eine welke Blüte in einen Abfalleimer, der neben dem Becken stand.

»Ich hatte auch keinesfalls vor, sie damit zu füttern«, sagte Crestina zornig. »Außerdem wüsste ich gerne, was du hier auf meiner Terrasse verloren hast? Und vor allem, was du hier gerade mit meiner Passiflora veranstaltest?«

»Ich habe nur eine verblühte Blume ordnungsgemäß in den Abfalleimer gelegt«, sagte Bartolomeo mit einer grandiosen Handbewegung und deutete dabei auf den Eimer, der neben dem Becken stand. »Ich nahm an, dass es in deinem Sinne ist, nachdem hier ja nun offensichtlich ein anderer Geist herrscht.«

Crestina hatte die Terrasse bei ihrer Rückkehr in einem Zustand vorgefunden, der annehmen ließ, dass hier über Jahre hinweg niemand das Gefühl gehabt hatte, zu diesem Palazzo gehöre auch ein Minimum an Gespür für einen Garten und für Schönheit. Sie hatte Jacopo das nahezu fast völlig verfallene Becken wieder herrichten lassen, hatte Seerosen und Fische hineingesetzt und außerdem eine im Laufe der Zeit völlig verwilderte Passiflora, die eine Säule umrahmte, gebändigt. Eine der Blüten hatte sie in eine Schale zwischen weißen Kieseln angeordnet, die in der Mitte eines kleinen Tischchens stand. Und genau diese Blüte hatte Bartolomeo soeben in den Eimer geworfen.

»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Crestina erbost und holte die Blüte aus dem Eimer zurück.

»Sie war welk«, erwiderte Bartolomeo irritiert.

»Ob welk oder nicht welk, ich habe sie beobachten wollen. Und es war nicht deine Passiflora.«

»Ja, ja, ich weiß. Nicht meine Passiflora, nicht meine Bank, nicht meine Terrasse. Aber doch wohl mein Schiff, auf dem du heute Morgen warst, oder?«

»Ich habe sie beobachten wollen«, wiederholte Crestina hartnäckig.

»Beobachten? Eine welke Passiflora?« Er verzog das Gesicht. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

»Ich wollte sehen, wie lange eine Blüte geöffnet bleibt, nachdem man sie abgeschnitten hat«, sagte sie widerstrebend.

»Und, wie lange bleibt sie geöffnet?«, fragte Bartolomeo ernsthaft.

»Eben das weiß ich ja nun nicht, weil du sie in den Eimer geworfen hast«, sagte Crestina erbost. »Vermutlich nur einen Tag.«

»Gut, ich hoffe, du kannst deine Versuche über den Todeskampf von Passiflorablüten mit Erfolg weiter fortführen. Und dabei deinen sentimentalen Erinnerungen nachhängen.«

Crestina kniff die Augen zusammen.

»Was meinst du damit?«

»Nun, früher hatte Riccardo dir jeden Morgen eine soeben frisch gepflückte Blüte in eine Wasserschale neben deinen Teller gelegt. Ihr habt gemeinsam das Öffnen der Blüte beobachtet und anschließend fielst du ihm jedes Mal um den Hals und beteuertest ihm deine Liebe. Da diese Geste der morgendlichen Blüte neben deinem Teller in deinen Augen die durch nichts zerstörende überdauernde Liebe zwischen euch beiden war.«

Er lachte auf.

»Ohne all das, was normalerweise zwischen Liebesleuten dazugehört.«

»Das ist nicht wahr«, wehrte sich Crestina, aber wenig überzeugend.

»Es ist sehr wohl wahr, schließlich saß ich jedes Mal daneben. Und hätte mich genauso wie du über eine soeben geöffnete Blüte gefreut oder deine Arme um meinen Hals gespürt, natürlich nur, falls ich der vornehme Kavalier gewesen wäre, der schon am frühen Morgen seiner Herzallerliebsten ein Präsent macht.«

Bartolomeo ging ein paar Schritte auf der Terrasse entlang und kehrte wieder zurück.

»Und jetzt würde ich wirklich gern wissen, was du heute Morgen auf meinem Schiff gemacht hast, wen oder was du dort ausspionieren wolltest? Du hattest kein Recht, es zu betreten. Ich nehme an, als Frau eines Reeders weißt du das.«

»Und ich würde gern wissen, wie du in mein Haus gekommen bist«, forderte Crestina. »Doch ganz gewiss nicht mit einem Schlüssel? Oder gar wieder mit einem Dietrich, wie schon einmal?«

»Wie sollte ich hereingekommen sein?«, fragte Bartolomeo verblüfft, »natürlich durch die Tür, wie jeder Besucher. Ich ließ den Löwenkopf auf die Platte fallen und kam herein. Ohne jedwede Schwierigkeiten.«

»Und wer hat dir geöffnet?«

»Nun wer wohl? Die beiden Sklavinnen.«

»Nur gut, dass ich das weiß«, sagte Crestina verärgert, »sie lassen einen wildfremden Mann einfach in mein Haus herein.«

»Ich bin kein wildfremder Mann für sie. Ich habe sie damals aus Afrika mitgebracht, und ich bin auch hier immer noch ihr Herr, auch wenn sie verkauft sind. Ganz gleich, wo sie sich befinden, die Türen sind mir offen. So auch hier.«

Er machte eine Pause und sah Crestina abwartend an.

Sie ließ sich auf die Bank nieder und schüttelte den Kopf.

»Ich suchte Ludovico«, sagte sie dann müde.

»Und das ausgerechnet bei mir?«, wunderte er sich.

»Ich war auf dem Weg zu Clemens, dabei fiel ich über deine Ketten. Und die interessierten mich dann.«

Bartolomeo zuckte mit den Schultern.

»Was soll dabei schon interessant sein? Ketten sind Ketten.«

»Aber diese hatten Ringe, für Arme und Beine.«

»Womit sonst soll man Sklaven festhalten? Meinst du, sie bleiben freiwillig stehen, wenn man sie eingefangen hat?«

»Ich sah auch die Brenneisen. Die Mundtrichter. Und ihre Blechnäpfe. Es waren so viele, dass du eine ganze Armee damit ausrüsten könntest.«

»Das musst du auch können, woher soll sonst denn der Profit kommen? Doppelt so viele Sklaven wie Platz und Essen für sie vorhanden ist, das ist es. Der Kapitän würde sich schön beklagen, wenn neben dem normalen Lohn nicht auch noch ein extra Bonus für ihn herausspringen würde.«

Crestina schaute ihn an, nahm sein – vermutlich vom Wein – gerötetes Gesicht wahr, die schlaffen Wangen, die entzündeten Augen, sein wabbelndes Doppelkinn. Sie erinnerte sich an früher, an seine Gier, die er zu allen Zeiten beim Essen gezeigt hatte: Er konnte einen halben Zickleinkopf essen, zusammen mit Gallerte, Rübensalat, Schweinezunge, gekochten Drosseln, dazu vier Unzen Brot und indisches Huhn. Und zum Nachtisch getrocknete Feigen und Eierkuchen. Aber die Zickleinköpfe aß er mit Vorliebe, besonders dann, wenn er merkte, dass die übrigen Tischgäste sich dabei schüttelten. Und das Rezept für die gekochten Drosseln gehörte ebenfalls mit zu den Tischgesprächen, die er der Runde ungefragt anbot und aufdrängte.

»Kannst du eigentlich noch in den Spiegel sehen, bei all dem, was du mir da erzählst?«

Bartolomeo schüttelte verwundert den Kopf.

»Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit dir und deinem absonderlichen Kopf«, sagte er dann, »aber ich hielt das früher immer für eine Sache, die mit deiner Jugend zu tun hatte und deiner unvorstellbaren Naivität. Aber wie ich sehe, wirst du vermutlich auch noch mit hundert so verquer denken wie jetzt.«

Sie legte die halb geschlossene Passiflora in die Schale zurück und lächelte ihn dann an.

»Ich denke, dass du dir kaum Gedanken um meinen verqueren Kopf machen musst. Er kommt schon allein zurecht. Falls du allerdings versuchen solltest, deine Ideen auch in den Kopf meines Sohnes Ludovico einzupflanzen, würde ich dir empfehlen, vorsichtig zu sein.«

Bartolomeo lachte auf und wandte sich zur Tür.

»Dein Sohn ist erwachsen. Und ich bin ganz sicher, dass er sich sehr genau überlegen wird, was er eines Tages tun will.«

Crestina blieb sitzen auf ihrer Bank neben dem Seerosenbecken, aber sie wusste später nicht mehr, wie lange sie hier mit halbgeschlossenen Augen gesessen und auf diese welke Passiflora gestarrt hatte. Und vor allem, wozu. Sie ertappte sich nur irgendwann dabei, dass sie die Hände gefaltet hatte und betete. Am helllichten Tag und in keiner Kirche. Und sie war ganz sicher, dass sie nicht für jemanden gebetet hatte, sondern gegen jemanden. Und sie hoffte, diesen Jemand nie wieder zu sehen.

Aber Wünsche schienen nicht immer in Erfüllung zu gehen, auch wenn es Wünsche waren, die ob ihrer Inbrünstigkeit eigentlich hätten erfüllt werden müssen.