7. Der Messias

Crestina hätte später nicht einmal sagen können, wie und wann alles begonnen hatte. Sie war lediglich sicher, dass die ganze Sache schleichend angefangen haben musste.

Zunächst hatte Bianca sich angeboten, Moise beim Ordnen der Bücher zu helfen, da ein Termin bevorstand, den Lea nicht einhalten konnte. Da Moise bereits seit Jahren für seine Mutter tätig war, war dies kein ungewöhnlicher Wunsch.

Bianca hatte zunächst also bei bestimmten hebräischen Büchern, die sie einordnen sollte und für die sie Karteikarten anlegte, sich nach deren Inhalt erkundigt. Moise hatte bereitwillig Auskunft gegeben, auch wenn der Zeitverlust durch diese Art des Bücherordnens beträchtlich war. Irgendwann einmal hatte er dann lachend gesagt, er habe inzwischen den Eindruck, er sei Lehrer in einer Jeschiwa.

Das sei genau das, was sie sich sehnlichst wünsche, hatte Bianca rasch erwidert.

»In einer Jeschiwa zu lernen?«, hatte Moise zögernd gefragt.

»Bei Euch, mit Euch, von Euch in einer Jeschiwa zu lernen«, hatte Bianca erwidert und ihn dabei eindringlich angesehen. Besonders über die Kabbala, die interessiere sie am meisten.

Natürlich hätte Moise an diesem Punkt bereits wachsam sein müssen, aber er wollte die Sache nicht zu ernst nehmen und hatte gelacht.

»Sicher wärst du eine gute Schülerin, aber ich wäre gewiss ein miserabler Lehrer. Ich kann dich zwar in die Kunst des hebräischen Buchdrucks einweisen, dir davon bis ins letzte Detail berichten, aber über die Kabbala kann ich dir ganz gewiss nichts erzählen. Zumindest nicht so, wie man es lehren müsste. Dazu braucht es Jahre, ich würde vorher alt.«

»Ich habe diese Jahre«, sagte Bianca mit aller Entschiedenheit. »Ich bin jung.«

Moise lachte wieder, strich dabei burschikos über ihre Haare, ohne seine Hand länger als eine Sekunde auf ihrem Kopf zu lassen.

Bianca schnappte nach dieser Hand, hielt sie fest.

»Weshalb habt Ihr Angst vor mir?«

Moise starrte sie an, entzog ihr die Hand mit einem Ruck und stand auf.

»Ich muss ins Ghetto«, sagte er dann abrupt, »es wartet auch dort Arbeit auf mich. Und ich habe gewiss keine Angst vor dir.«

»Das ist genau das, was ich meine«, sagte Bianca leise, als er zur Tür ging. »Ihr beweist es soeben, dass Ihr Angst habt vor mir. Sonst würdet Ihr nicht vor mir flüchten.«

Es geschah Tage später, als Crestina auf dem Weg zur Küche plötzlich ein seltsames Geräusch hörte, das ihr wie das Reißen von Stoff erschien. Da sie mit dem Geräusch nichts anzufangen wusste, ging sie ihm nach, bis sie am Eingang der Tür zu Leas Räumen stand. Sie blieb stehen, blickte dann irritiert die Freundin an, die tatsächlich soeben dabei war, einen ihrer Röcke der Länge nach zu zerreißen. Sie ließ die zerstörten Teile auf den Boden fallen, griff dann nach dem Oberteil, bei dem die eine Hälfte bereits ebenfalls auf dem Boden lag, und machte mit der Schere einen Schnitt, vermutlich, um die nächste Seite zu zerstören.

Crestina räusperte sich, um Lea auf ihre Gegenwart aufmerksam zu machen, aber Lea schien wie in Trance zu sein. Sie starrte mit Inbrunst auf die Reste des Oberteils, schien begierig auf das Geräusch beim Reißen des Stoffes zu warten. Dann warf sie einen hastigen Blick auf den Rest des Kleides, das auf einem Schemel lag und vermutlich den gleichen Weg gehen sollte, wie es bei den übrigen Teilen bereits der Fall war.

Als Crestina sich ein zweites Mal räusperte, entdeckte sie ihre Tochter, die in der Ecke des Raumes auf dem Boden saß und sich nun langsam erhob.

»Man schaut nicht zu«, flüsterte sie dann erregt und versuchte ihre Mutter aus dem Raum zu schieben. »Es gehört sich nicht. Und du gehörst nicht dazu.«

»Wozu?«

»Dazu«, sagte Bianca mit verschlossenem Gesicht und deutete auf Lea, die mit ihrem Zerstörungswerk fortfuhr, ohne wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

»Weshalb macht sie das?«, murmelte Crestina irritiert.

»Wegen des Messias. Und es ist uns wichtig, dass die Gojim davon so wenig wie möglich erfahren. Wir wollen das nicht.«

»Wir wollen das nicht«, wiederholte Crestina nahezu lautlos und schüttelte ratlos den Kopf. »Wir?«

Es war am gleichen Abend, als Clemens ohne anzuklopfen in ihren Raum kam.

»Ich denke, du solltest ganz rasch kommen.«

Crestina schreckte auf. »Was ist?«

»Komm einfach mit«, drängte Clemens und zerrte seine Mutter von ihrem Stuhl. »Beeil dich.«

Sie liefen die steile Treppe zu den Dachkammern hinauf. Die Türen standen offen und das Erste, was Crestina wahrnahm, war das Zerreißen von Stoff. Das gleiche Geräusch, das sie bereits am Morgen gehört hatte. Sie seufzte, ging rascher, aber sie kamen beide zu spät: Vor Bianca auf dem Boden lagen bereits die Reste von mindestens einem Kleid, einem sehr kostbaren.

»Es ist das Kleid, das dir dein Vater kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Du hast es geliebt«, sagte Crestina zornig.

»Nur wenn man etwas opfert, was man liebt, hat das Opfer einen Sinn«, erklärte Bianca ruhig.

»Und für wen opferst du dieses Kleid?«

»Für den Messias«, sagte Bianca leise und griff erneut nach der Schere.

»Nimm sie ihr ab!«, befahl Crestina und gab Clemens einen sanften Stoß. »Du wirst nicht noch mehr Kleider zerstören. Für eine Idee, die nicht die deine ist.«

Clemens trat unschlüssig einen Schritt näher, Bianca lächelte ihn an.

»Glaubt ihr im Ernst, dass ihr mich fern halten könnt von dieser Idee, die sehr wohl auch meine Idee ist, wenn ich dieses Kleid nicht zerschneide?«

Clemens starrte seine Mutter an.

»Ich glaube, ich sollte so bald wie möglich wieder mit einem unserer Schiffe auslaufen, nicht erst in einem Monat«, murmelte er dann vor sich hin. »Was hier geschieht, gefällt mir nicht mehr.«

»Es muss dir auch nicht gefallen, Bruder«, sagte Bianca freundlich und streckte ihm bereitwillig die Schere entgegen, »denn es hat mit dir nicht das Geringste zu tun. Du verstehst es einfach nicht. Und unsere Mutter versteht es noch viel weniger. Genau genommen versteht sie gar nichts von uns Kindern, zumindest von denen, die noch nicht vollständig in den Fußstapfen unseres Vaters stapfen und sich dem schnöden Mammon unterworfen haben. Von Ludovico und mir.«

Clemens wandte sich um und verließ den Raum, ohne seine Mutter noch einmal anzusehen.

»Und?«, fragte Bianca und streckte ihrer Mutter lächelnd die Schere entgegen. »Ich wette, dass du nicht den Mut hast, sie mir abzunehmen.«

Crestina folgte ihrem Sohn mit starrem Gesicht. Ohne Schere.