15. Moschus, Ovid und die Kabbala

Drei Tage später zogen sie ein.

In großen Körben schleppten sie Mörser, Trichter, Mischflaschen in das Haus. Flakons hatte Margarete bereits einen Tag zuvor durch einen Mann der Glasbläserei in Murano anliefern lassen. Crestina hatte ihr die Räume gegeben, die dem Kanal zulagen, sodass sie lüften konnte, wenn irgendetwas mit ihren Versuchen nicht ganz so lief wie erwartet. Margarete baute eine Apparatur auf, die beide Frauen an eine Alchemistenküche erinnerte.

»Der Duft, der durch den Palazzo zieht, wird jeden abschrecken, der glaubt, er sei hier in einer Bibliothek, in der es Bücher gebe, die auf den Index gehören«, sagte Lea lachend.

»Bergamotte, Orangenblüten, Mandelöl, Myrrhe, Eukalyptus lassen das wohl kaum vermuten«, erwiderte Crestina heiter.

»Wartet nur, bis ich meine Moschuskörner erst einmal im Hause habe«, warnte Margarete. »Meine negativen Erfahrungen mit Zibet will ich ganz gewiss nicht wiederholen.« Dann vergrub sie sich in ihre Arbeit, schloss die Tür und war für niemanden mehr zu sprechen.

Crestina hatte sich angeboten, für diesen ersten Tag das Kochen zu übernehmen, da sie bereits einen großen Plan in der Küche aufgehängt hatten, auf dem der Wechsel der Köchinnen, der alle drei Tage stattfand, aufgezeichnet war.

»Damit sich jeder von uns auch in die Kochkunst des anderen einleben kann«, hatte sie vorgeschlagen. »Drei Religionen, drei unterschiedliche Köche, ich denke, es wird spannend werden.«

Den ersten Abend zelebrierten sie gemeinsam in der sala. Lea hatte ihr bestes Tafelleinen und Silberbesteck, das noch aus Deutschland stammte, mitgebracht, da sie die Einzige war, die einen kompletten Haushalt besaß. Margarete hatte sich für die Tischdekoration zuständig erklärt und einige ihrer Flakons mit Blumen und Gräsern gefüllt. Und Crestina hatte sich entschlossen, ihren nicht existierenden Haushalt mit einigen Teilen eines neuen Geschirrs zu beginnen, das sie je nach ihrer finanziellen Situation zu jeder Zeit vervollständigen konnte.

Und im Übrigen wollte sie in sich das Gefühl stärken, dass sie von jetzt ab so tun würde, als wolle sie für den Rest ihres Lebens in dieser casa leben. Ob allein oder nicht, war ihr für den Augenblick nicht wichtig. Sie wollte leben. Nichts als dies. Das Gefühl, dass dieses Leben ein neues Leben, ein ungewohntes Leben, sein würde, hatten sie an diesem Tag gleich mehrere Male: Keine von ihnen hatte je einen Türklopfer besessen. Und so war das Erlebnis gleich ein Dreifaches. Sie rannten alle aus unterschiedlichen Richtungen an die Haustüre, rissen sich den Griff nahezu aus der Hand und schauten dann verblüfft drei kleinen Jungen hinterdrein, die davonrannten.

»Nicht schon wieder die ›Stufe‹«, stöhnte Crestina und erzählte die Geschichte von einem ihrer ersten Besuche in diesem Haus.

Das zweite Mal war es ein junger Mann aus Murano, der weitere Glasutensilien für Margarete brachte, und beim dritten Mal ein kräftiger Mann mit einem Karren, der Leas angekaufte Bibliothek ins Haus schleppte. Sein Boot sei leider heute nicht benutzbar, entschuldigte er sich, aber morgen, morgen, sei es ganz gewiss wieder in Ordnung und er könne dann den Rest bringen. Er schleppte die Bücher in Körben in das piano nobile, trug sie von dort in den salotto und füllte damit Tische, Stühle und den Boden, sodass Lea nur die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Die Vorstellung, dass am nächsten Tag noch weitere Bücher kommen würden, erfüllte sie allerdings mit Neugier und Vorfreude, da sich darunter auch drei unterschiedliche Ausgaben der Kabbala befinden sollten, die sie zuvor noch nicht gesehen hatte.

Crestina hatte die wenigste Arbeit mit der Gestaltung ihres Raumes. Sie hatte sich im Dachgeschoss eingerichtet und brauchte außer ihren Büchern für die Übersetzungen lediglich einen großen Tisch, einige Stühle und ein Bücherregal.

Der Abend brachte für alle das entschiedene Gefühl, das Richtige getan zu haben: Lea hatte Moise erlaubt, zum Essen zu kommen. Aber bevor es dazu kam, hörten sie von der Küche her das Scheppern von irgendwelchem Geschirr und dann das pausenlose Rennen von Moise, der das androne der Länge nach durchrannte. Einmal, zweimal, dreimal. Irgendwann hatten sie das Gefühl, es müsse hundertmal sein.

»Er hat nie rennen dürfen«, entschuldigte sich Lea verlegen.

»Nie?«, wagte Margarete zu fragen. »Nie in der Galle del Forno oder in der Straße des ghetto vecchio? Oder auf dem riesigen Platz des ghetto nuovo?«

»In der calle des ghetto vecchio befindet sich der Bäcker, der Metzger, der Weinhändler, der Gasthof. San Marco ist leise dagegen. Und auf dem großen Platz des ghetto nuovo schon gleich gar nicht. Sechzig Buden, drei Banken und zwei Synagogen und hunderte von Menschen. Wo soll da ein Kind rennen dürfen?«

Also ertrugen sie Moise sanftmütig, sein Rennen und vor allem seine Beine, die sogar beim Essen nie auch nur eine Sekunde Ruhe gaben.

»Es ist, wie es ist«, sagte Lea ergeben, sie müsse es ebenfalls ertragen. Und sie sei schon glücklich, wenn sie keine Nachrichten aus der Jeschiwa hören müsse, keine von irgendwelchen Nachbarn, dass ihr Sohn schrecklich laut sei, und keine von ihrer Freundin Diana, wenn sie Moise an manchen Tagen dort unterbrachte, weil sie zu arbeiten hatte und über Land musste, um ihre Bücher anzubieten. Und schließlich sei es doch etwas Schönes, wenn man die Freude eines Kindes miterleben dürfe. Vor allem dann, da Moise sich inzwischen ereiferte und jedes Mal von neuem vorschlug, wohin man denn den Tisch aufstellen solle. Er wolle es so haben, wie es früher gewesen sei, wie er gehört habe.

Am Abend, als Lea mit Moise längst den Palazzo verlassen hatte und Margarete in ihren Kammern im fondaco sein musste für ein Gespräch mit dem Faktor, saß Crestina auf der Altane und schaute auf den Kanal hinunter. Sie beobachtete die Boote, sah auf die Gondeln hinab, auf die Schiffe, die noch zu irgendwelchen Inseln unterwegs waren, und hatte das Gefühl, dass ihr Kopf zu klein war, um all das Glück, das sie in diesem Augenblick empfand, auch wirklich aufnehmen zu können.

Irgendwann ertappte sie sich dabei, dass sie mit sich selber redete, wie sie es gewohnt war. Sie hielt mitten im Satz inne und starrte vor sich hin.

»Du lebst nicht mehr allein«, sagte sie dann laut. »Die Zeit der Selbstgespräche ist vorüber.«