8. Das Ghetto

Was im Ghetto geschah, schwappte in den nächsten Wochen in den Palazzo herein – durch Bianca. Sie wurde der Kurier des Messias. Alles, was sie hörte und sah, verkündete sie ihrer Familie. Meist beim Mittagessen, weil sie da sicher sein durfte, dass sie die ungestörte Aufmerksamkeit aller auf sich lenken konnte.

»Sie bereiten jetzt Pessach vor«, sagte sie, »aber es gibt kein Purim-Fest mehr.«

Fragte Ludovico, weshalb Purim nicht mehr gefeiert wurde, so ließ Bianca eine Suada ab, die dauerte und dauerte und ihre Mutter irgendwann vom Tisch aufstehen ließ, weil sie das Gespräch nicht mehr ertrug.

Bianca war eine gute Berichterstatterin. Sie erzählte alles so, dass Crestina manchmal das Gefühl hatte, als sei sie es, die in diesen Zeiten im Ghetto lebte, die betete, fastete, hoffte, verzweifelt um eine Antwort rang, die der Messias geben wollte.

Es gab keinen Zweifel, dass es in diesem Ghetto, das die Juden auch Chazer nannten, was ›Hof‹ bedeutete, brodelte. Dass Realität und Gerüchte sich in einem Maße mischten, dass niemand mehr wusste, was wirklich geschah oder was lediglich erhofft wurde. Oder vielleicht auch nur an den Rändern anklang.

Moise war inzwischen nach Rom abgereist, was Lea zu wilden Zornesausbrüchen trieb und ganz gewiss auch zu Gebeten, die eher einem Fluch glichen denn einem Gebet: Sie wollte sie auf keinen Fall, diese Schwiegertochter. Eine Frau, die vermutlich ebenso wenig an den Messias glaubte wie Moise. Und Rom schien ohnehin kein guter Ort für Propheten zu sein, da bereits zwei von ihnen, David Reubeni und Salomon Molco, ungehört vorübergegangen waren.

Crestina besuchte Lea von Zeit zu Zeit, aber sie hatte zunehmend den Eindruck, dass sie im Ghetto nicht mehr gern gesehen wurde in diesen Tagen. Christen überhaupt nicht. Sie hatte früher nie zuvor das Gefühl gehabt, dass sie als Beobachter betrachtet wurde. Nun hatte sie es. Als sei sie ein Spion. Und Lea schien eine Mauer um sich herumzubauen, ließ Fragen nicht mehr zu, die ihr unangenehm waren. Sie begann zu stöhnen, drückte die Hand auf ihren Fuß und schloss die Augen, wenn sie etwas nicht hören oder beantworten wollte. Sie verbrachte die meiste Zeit auf ihrer Schlafbank, gab vor, dass der gebrochene Fuß noch immer Schmerzen bereitete, obwohl der Unfall inzwischen Monate zurücklag. Und ließ sich von ihrer Freundin Diana versorgen. Oder von Bianca, die dies mit Inbrunst tat. So eine Schwiegertochter wäre genau das, was sie sich erhoffte, sagte sie nicht nur einmal, wenn Crestina zu Besuch war.

Und Bianca tat genau das, was sie ihrer Meinung nach am besten in die Rolle der Schwiegertochter hineinwachsen ließ.

»Wie wird es sein, wenn wir irgendwann einmal heiraten?«, fragte sie eines Tages und ließ Lea damit doch ein kurzes Erschrecken zeigen.

»Du meinst …«, fragte Lea zögernd, »… du meinst, wenn du Moise heiratest?«

Bianca schaute sie verblüfft an.

»Natürlich Moise, wen denn sonst?«

Lea, die soeben dabei war, Wäsche zusammenzulegen, strich über das leinene Hemd, das sie soeben hochgenommen hatte, einmal, zweimal, dann zerrte sie es ein drittes Mal in die Breite.

»Das geht immer noch ein, obwohl ich es schon x-mal gewaschen habe«, sagte sie dann verärgert, ohne dabei aufzublicken. »Man sollte es immer gleich aufhängen, wenn man es gewaschen hat, und sofort zurechtziehen«, fuhr sie dann fort, in einem Tonfall, als wolle sie in der Jeschiwa einem Schüler irgendwelche Gesetzestexte eintrichtern.

»Ich wollte ja nur wissen, wie so eine Hochzeit abläuft, damit ich mich darauf einstellen kann«, versuchte Bianca zu erklären.

Lea legte das Hemd auf den Stapel und lachte.

»Nun, zunächst braucht man dazu einen Bräutigam«, sagte sie dann und nahm das nächste Wäschestück zur Hand.

Bianca lachte nicht, sondern schaute Lea nur ernst an.

»Weißt du, so eine Hochzeit ist natürlich meist überall ein wenig anders«, wich Lea aus.

»Aber es muss doch Rituale geben, die gleich sind«, beharrte Bianca, »die Ketubba, der Ehevertrag, der Baldachin und –«

»Ja, natürlich«, unterbrach Lea sie hastig, »natürlich ist die Ketubba etwas, was in jedem Fall zu einer Hochzeit dazugehört, ein Dokument, in dem zum Beispiel steht, wie der Unterhalt in der Ehe geregelt ist. Der Baldachin hängt davon ab, ob er in der Synagoge oder im Freien steht.«

»Wie war es denn bei Samson, bei Aaron oder bei Diana, bei deiner Freundin?«

»Nun, Samsons Hochzeit fand nicht hier statt, sondern im Serraglio in Rom. Und was dort war, ich meine, was sie dort zugelassen haben, weiß ich nicht«, sagte Lea abwertend, so, als habe diese Hochzeit auch geradeso gut unter einem Kreuz stattfinden können. »Und Aaron ist überhaupt nicht verheiratet«, sie zögerte, »zumindest nehme ich das mal an. Schließlich lebt er schon seit Jahren im Heiligen Land, in Safed, und studiert die Heiligen Schriften.«

»Er dürfte doch aber verheiratet sein«, fragte Bianca irritiert, »er ist doch nicht etwa zum Christentum übergetreten und Priester geworden?«

Lea schüttelte entsetzt den Kopf.

»Wo denkst du denn hin? Natürlich nicht. Das heißt nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört habe.«

Bianca nahm das nächste der Wäschestücke aus dem Korb und zog es gerade.

»Dann erzähl mir doch einfach, wie es bei dir war«, schlug sie vor, »daran wirst du dich ganz gewiss ja noch erinnern.«

Lea schmunzelte.

»Und ob ich mich daran erinnere, und ob! Und Abram war natürlich –«

»Wie hast du ihn überhaupt kennen gelernt, diesen Abram?«

»Kennen gelernt«, Lea besann sich einen Augenblick, dann begann sie lauthals zu lachen.

»War das so lustig?«, wunderte sich Bianca.

Lea bekam beinahe einen Lachanfall, sodass ihr Bianca schließlich irritiert auf den Rücken klopfte.

»Du wirst es ja nicht glauben, aber wir haben … nun, wir haben um ihn gewürfelt.«

Bianca ließ einen Tallit, den sie zusammenlegen wollte, auf den Boden fallen.

»Wie bitte?«

»Also, es war das Nüssespiel, bei dem ich ihn gewann. Indirekt. Eigentlich hätte er gar nicht mir gehören dürfen.«

»Wie kann man denn einen Mann beim Würfelspiel gewinnen?«

»Nun, wir haben um Freier gewürfelt«, erwiderte Lea heiter, nur mühsam das Lachen verhindernd.

»Um Freier gewürfelt?«

»Also, das war so. Du kennst ja Diana, meine Freundin. Sie war von jeher die mutigere von uns beiden, sie fragte nie lange, wie etwas ausgehen konnte. Sie tat es einfach. Und wenn es dann anders wurde, als sie es sich vorgestellt hatte, so wurde es eben anders, ohne dass sie lange darüber nachdachte oder sich am Ende gar grämte.«

Lea machte eine kurze Pause und fuhr dann in ernsterem Ton fort.

»Wir saßen also unten am Wasser, es war Purim, und alle Leute waren fröhlich an diesem Tag. Eltern gingen mit ihren Kindern, die alle maskiert waren, spazieren. Junge Leute zeigten ihr Verliebtsein in aller Öffentlichkeit, alte Leute saßen vor ihren Häusern und erzählten sich von ihrer Jugend, dass sie genauso glücklich waren, wenn sie ein Paar wurden. Wir aber, Diana und ich, waren noch ungebunden. Es standen auch keine Männer zur Debatte, die bereit gewesen wären, mit uns zusammenzukommen. Also schlug Diana vor, dass wir uns doch endlich selbst um Freier bemühen sollten. Sie mussten ja nicht unbedingt gleich unsere Ehemänner werden, sollte es uns nicht gefallen, was dabei herauskam. Und wir erinnerten uns an dieses alte Nüssespiel, das junge Leute schon früher angewandt hatten, um endlich zu einem Partner zu kommen. Wir kauften uns also Walnüsse und schrieben auf sie Namen. Irgendwelche Namen von irgendwelchen Männern, die wir von der Synagoge her kannten. Natürlich nur die Namen von unverheirateten Männern. Diana wollte zunächst überhaupt nur die Namen von wohlhabenden Männern nehmen, von solchen etwa, die in der Levante Geschäfte machten und ständig in vornehmen Kleidern durch den Chazer spazierten. Aber mir war das eigentlich egal. Also, nicht ganz egal – ich wollte natürlich auch nicht gerade einen Knochenkocher oder einen Straßenkehrer.«

Bianca hatte längst mit dem Zusammenlegen von Wäschestücken aufgehört und hing wie gebannt an Leas Mund.

»Und dann? Was geschah dann?«

»Nun, wir hatten also eine ganze Reihe von Namen auf diese Nüsse geschrieben: Giuseppe, Antonio, Giulio, Michèle, Daniello, auch einige Namen, die wir nur so vom Hörensagen kannten. Es gab da zum Beispiel im ghetto vecchio einen Stuhlrestaurateur, von dem Diana irgendwann gehört hatte und für den sie sich begeisterte, kaum dass sie ihn einmal gesehen hatte. Er hatte lockige schwarze Haare, eine breite Brust und schlanke Hüften – genauso, wie Frauen sich Männer erträumten. Sein Name war David.«

»Und jede von euch sollte sich den Männern, deren Namen auf den Nüssen standen, um die ihr gewürfelt hattet, nähern?«

»Nicht nur nähern, wir sollten natürlich um sie werben. Richtig werben. Sie wissen lassen, dass wir an ihnen interessiert waren. Nicht anders, als das Männer auch mit Frauen machten.«

»Und du solltest dich um Abram bemühen?«

Lea wehrte ab.

»Abrams Name hatte gar nicht auf den Nüssen gestanden. Aber lass mich weitererzählen. Diana ging also dann ziemlich oft an dem Geschäft des Stuhlrestaurateurs vorbei und betrachtete seine reparierten Stühle, die er vor dem Laden stehen hatte. Und da dieser David dies natürlich irgendwann merkte und sich geschmeichelt fühlte – wobei er natürlich glaubte, das Interesse dieser jungen Frau gelte seinen Stühlen und nicht ihm –, ergaben sich Gespräche und –«

»Vergiss nicht Abram«, mahnte Bianca, »er muss doch irgendwann auch auftreten. Und um welche Namen hattest du eigentlich gewürfelt?«

»Die Namen, um die ich gewürfelt hatte, weiß ich ganz gewiss nicht mehr, außerdem hatte ich ohnehin nie den Mut, das zu tun, was Diana tat. Ich hätte es vermutlich schon gar nicht fertig gebracht, dieses Werben. Aber nun gib Acht, weil jetzt nämlich wirklich Abram auftaucht. Diana hatte mich eines Tages mitgenommen zu ihrem Stuhlrestaurateur, weil sie mir zeigen wollte, wie man bei diesem Werben vorging, so etwas macht. Also einen Mann auf sich neugierig machen. Ich stand an der Tür der Werkstatt und Diana kroch halb unter den ausgestellten Stühlen herum, um ihr Interesse zu signalisieren, obwohl David sich im Hintergrund des Ladens mit jemand unterhielt. Und nicht über Stühle. Sondern über irgendeine religiöse Sache, die ich nicht beurteilen konnte, weil die Stimmen zu weit weg waren. Die Männer diskutierten also, erst sanft, dann lauter, wobei dieser discorso dann irgendwann fast in einen Streit ausuferte, weil man sich nicht einigen konnte, wann das Buch des Sohar, also das wichtigste Buch der Kabbala, überhaupt aufgeschrieben worden war. Ob in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Tempel, also ungefähr in der Zeit fünfhundertsechsundachtzig bis fünfhundertfünfzehn vor oder erst etwa einhundertfünfzig nach eurer Zeitrechnung. Und vor allem, wann es wieder aufgefunden worden war und wo.

Da sich die beiden Männer ganz offensichtlich nicht einigen konnten, an welchem Ort dieser mehr als kostbare Fund wiederentdeckt wurde – nämlich als ein Kabbalist beim Fischkauf von einem Araber plötzlich entdeckte, in welches Papier seine Fische eingewickelt waren –, entstand plötzlich eine Stille. Und in diese Stille hinein sagte ich: ›Das war in Safed.‹ Und dann zitierte ich einige Sätze aus diesem Buch.

Die beiden Männer starrten mich an, als sei ich vom Himmel herabgefallen. Sie vergaßen ihren Streit, dann sagte dieser andere Mann im Hintergrund der Werkstatt mit seiner sanften Stimme: ›Sie hat Recht, so steht das im Sohar. Und natürlich war es Safed.‹

›Frauen ist es verboten, die Kabbala zu studieren‹, hatte David sofort vorwurfsvoll erwidert.

›Aber wenn sie weiß, was an dieser Stelle im Sohar steht, will ich mit ihr reden.‹ Das war wieder der andere. Er sagte es energisch, trat aus dem Dunkel der Werkstatt hervor, schob mich hinter ein Stehpult, das David gerade restaurierte, und forderte, dass ich meinen Satz nochmals laut und deutlich wiederholte. Ich geriet ins Stocken, weil ich noch nie in meinem Leben hinter einem Stehpult gestanden hatte, wie es die Lehrer benutzten. Dieser Mann, von dem ich seinen Namen erst später erfuhr – du hast es längst erraten, es war natürlich Abram –, behandelte mich von da ab, als sei ich ein Schüler in der Jeschiwa, oder gar ein Lehrer. Er stellte mir Fragen, korrigierte mich lächelnd, nickte bisweilen zustimmend und plötzlich stieg auch David in das Gespräch ein. Und dann unterhielten wir uns in aller Ernsthaftigkeit über die Kabbala. Ich, eine Frau, diskutierte mit diesen beiden Männern über die Kabbala. Obwohl es angeblich für Frauen verboten war, die Kabbala zu studieren.«

»Das ist ungeheuerlich«, sagte Bianca voller Ehrfurcht. »Aber woher wusstest du das eigentlich alles?«

»Nun, ich hatte in meiner Familie ja nur Brüder. Von denen nahm mich keiner ernst. Mein Vater natürlich auch nicht. Aber ich hatte einen Onkel, der selber keine Kinder hatte, und dem gefiel meine Neugier in all diesen Dingen. Und der unterrichtete mich. Meist heimlich.«

»Ich kann mir schon vorstellen, wie es weiterging«, sagte Bianca.

»Nein, das kannst du eigentlich nicht«, wehrte Lea ab, »ich hatte nämlich plötzlich zwei Freier, und es war klar, dass das meine Freundschaft mit Diana fast zum Bruch brachte. Schließlich hatte sie die Nuss gewürfelt, die nun möglicherweise Erfolg haben würde. Sie hatte die Annäherungsversuche gemacht, sie hatte mich überhaupt erst in diese Werkstatt gebracht. Aber die beiden Männer gebärdeten sich bei diesem ersten Treffen so, als gäbe es Diana nicht mehr.

›Inzwischen kenne ich diese reparierten Stühle vor dem Laden nicht nur von oben, sondern auch von unten so gut, dass David mich schon als Lehrling einstellen könnte‹, beschwerte sie sich später bei mir.

Und von da ab lief alles ohnehin völlig anders, als von uns geplant. Vor allen Dingen dann, als Abram mich zum ersten Mal in seinen Buchladen einlud, was Diana, da die Einladung natürlich nur mir galt, vollends verstimmte.«

»Und jetzt die Hochzeit«, forderte Bianca erregt. »War sie hier im Ghetto?«

Lea lachte.

»Das schon, aber … ach, es gab so viele Zwischenfälle, dass ich schon gar nicht mehr daran glauben konnte, dass es sie geben würde. Also, selbstverständlich waren meine Eltern mehr als angetan von diesem Bräutigam, aber meine Mutter fand den Schleier nicht, den ich tragen sollte. Ihren Schleier, den sie an ihrer Hochzeit getragen und den schon ihre Großmutter getragen hatte. Wir waren damals ja durch so viele Orte geflohen – Einpacken, Auspacken, Einpacken, Auspacken –, dass niemand mehr recht wusste, was eigentlich in seinem Bündel gewesen war. Ich nahm das als schlechtes Omen, aber Abram schüttelte lächelnd den Kopf und sagte, ich solle diesen Aberglauben beiseite lassen, er werde von jetzt ab für mich da sein und dafür sorgen, dass alles seine Richtigkeit habe. Das sagte er bei den weiteren Vorbereitungen dann noch einige Male. ›Du kennst die Verse der Kabbala‹, pflegte er dann zu sagen, ›das zählt und sonst nichts.‹ Wofür meine Sulzburger Familie ihn zwar bewunderte, aber auch Zweifel hatte an seiner Ernsthaftigkeit, was das tägliche Leben anbetraf, wobei es hier bisweilen nur um lächerliche Kleinigkeiten ging: Meiner Familie war zum Beispiel der Ketubba, der Ehevertrag, nicht vornehm genug. Meine Mutter erzählte von den Blumenranken, den ihre Ketubba einst hatte, und dies sei auch bei ihrer Mutter so gewesen. Sie tat so, als hinge alles von der äußeren Form dieser Ketubba ab. Und zu allem Überfluss hatte dann der Schwiegervater, der zusammen mit meinem Vater den Bräutigam, den Chatan, zur Chuppa geleiten sollte, aus Versehen an eine der vier Stangen des Baldachins gestoßen, sodass die Chuppa zu wackeln begann und die Gäste erschrocken zur Seite sprangen.«

Bianca lachte. »Aber letztendlich wird ja wohl noch alles gut gegangen sein?«

»Natürlich ging dann alles gut. Ich wurde siebenmal um den Bräutigam herumgeführt, was ohne Schwierigkeiten ablief, der Rabbi sprach die ›Schewa Berachot‹, die sieben Segenssprüche, Abram und ich tranken Wein aus demselben Becher. Zum Schluss wurde dann ein Glas zertreten.«

»Von dem Glas habe ich noch nie gehört«, sagte Bianca verblüfft, »weshalb wurde es zertreten und von wem? Von dir?«

»Natürlich nicht von mir. Von Abram. Solche Dinge machen Männer. Und weshalb? Nun, damit man sich immer an die Zerstörung des Tempels von Jerusalem erinnert. Dann riefen uns alle ›Masel-tow‹ und ›Siman-tow‹ zu, also ›gute Aussichten‹, und danach wurde gefeiert, wild gefeiert, gesungen und ebenso wild getanzt, vor allem chassidische Tänze.«

Bianca schüttelte irritiert den Kopf und schaute auf Leas Hand.

»Es gab ja wohl doch auch einen Ring, oder? Und gegessen werdet ihr wohl auch haben?«

Lea lachte wieder.

»Natürlich haben wir gegessen, es war das schönste Mahl, das ich je gesehen hatte. Und diesen Ring«, Lea hielt ihn Bianca entgegen, »diesen Ring hat mir Abram über den Finger gezogen mit den Worten: ›Sei mir nach Moses und Israels Gesetz durch diesen Ring angetraut.‹ Nur Frauen bekommen einen Ring, Männer nicht.«

Eine Weile war Stille, Lea hing ganz offensichtlich ihren Träumen nach. Bianca starrte irgendwo in die Ferne.

»Genauso möchte ich es auch haben«, murmelte sie dann, »genauso. Und ich verspreche dir auch, ganz gewiss nicht abergläubisch zu sein. Und ein Nüssespiel muss ich ja auch nicht absolvieren. Ich habe ja schon gewählt.«

Diesen Satz konnte Lea inzwischen nur mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis nehmen.

Und sie fragte sich mit einem Mal erschrocken, ob sie sich Bianca gegenüber richtig verhielt. Ob sie auch wirklich alles erzählt hatte, was es zu erzählen gab, über diesen Messias. Ob sie nicht übertrieben hatte, ob Dinge, die sie so empfand, möglicherweise bei Bianca völlig anders ankamen. Schließlich war es ihre Religion, die eine lange Geschichte hinter sich hatte.

Die Hoffnung auf den Messias war immer allgegenwärtig gewesen, mal war sie nah, mal war sie fern. Zuletzt war es Sabbatai Zwi gewesen, der sich, unterstützt von seinem Propheten Nathan von Gaza, in Smyrna selbst zum Messias ernannt hatte und später für die Gläubigen eine abgrundtiefe Enttäuschung gewesen war: Als er in Konstantinopel eingetroffen und sofort festgenommen worden war, ließ ihm der Sultan nur die Wahl zwischen Folter und Tod oder dem Übertritt zum Islam. Sabbatai Zwi wählte den Islam.

Nun also Nathan aus Gaza, der kurz vor Pessach in Venedig ankam und sofort neue Unruhen hervorrief und die Menschen in höchste Erwartungsspannung versetzte.

Und Bianca fühlte sich ganz offensichtlich mittendrin in dieser Erwartung, ließ sich in diese Erregung hineinfallen, versank immer mehr in den Wunderglauben, klammerte alles aus, was ihrer Meinung nach dort nicht hingehörte. Sie schien kaum mehr zu bemerken, dass es um sie herum Menschen gab, die mit ihr litten und sie doch angeblich nicht verstanden.

Crestina vor allem fühlte sich an die Wand gestellt. Bianca sprach inzwischen meist nur noch vulgare, manchmal auch Jiddisch oder Hebräisch. Zumindest das, was sie dafür hielt. Sie gab vor, sie habe es in der Jeschiwa gelernt, obwohl sie ganz gewiss keinen Zutritt zu dieser Schule für jüdische Kinder gehabt hatte. Aber immerhin lernte sie mit unendlichem Fleiß die sechshundertdreizehn Gebote auswendig, und trug, wenn sie außerhalb des Hauses war, einen blauen Schleier, den Jüdinnen zu tragen hatten, aber den nicht einmal Lea trug. Clemens konnte seine Schwester gerade noch davon abhalten, sich die Haare abzuschneiden und eine Perücke zu besorgen. Die Bücher, die sich inzwischen neben ihrem Bett auftürmten, waren philosophische Bücher, der Talmud, kabbalistische Bücher, der Sohar, manchmal studierte sie offenbar die halbe Nacht hindurch, da ihre Kerze stets niedergebrannt war, wenn Crestina morgens in ihr Zimmer kam.

Es war Crestina klar, dass sie mit Lea reden musste, aber Lea lag inzwischen meist auf ihrer Schlafbank, entweder in einem apathischen Zustand, weil sie glaubte, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorstand, oder sie diskutierte mit Bianca über koschere Rezepte für den Sabbat. Für später dann, fügte sie meist besänftigend hinzu, nicht für jetzt, wenn Bianca drängte, dass es nun Zeit für ihren Übertritt sei. Jetzt war Buße angesagt, wobei Bianca wenig Ahnung hatte, wofür sie büßen sollte. Sie hatte den Eindruck, bis jetzt eigentlich nicht gesündigt zu haben. Aber da alle anderen im Ghetto Buße taten, hatte sie das Gefühl, dass sie sich nicht ausschließen durfte, wenn sie dazugehören wollte. Und irgendetwas würde ihr ganz gewiss einfallen.

Als Crestina sich endlich entschloss, mit Moise zu reden, hatte sie das Gefühl, dass das noch falscher war, als mit Lea zu reden.

»Ich habe nichts getan, wofür ich mich rechtfertigen müsste«, sagte Moise ruhig.

»Aber sie tut es doch für Euch«, beschwor ihn Crestina, »sie will Euch damit zu Gefallen sein.«

»Und wie stellt Ihr Euch vor, könnte ich Eure Tochter davon abbringen? Inzwischen wohne ich schon die meiste Zeit über bei einem Freund in der Stadt, weil ich nicht im Ghetto wohnen kann und ständig Fragen beantworten will, wann endlich die zwölf Stämme Israels hier eintreffen. Ich bin nur noch frühmorgens im Palazzo, weil ich weiß, dass Bianca dann noch schläft.«

»Aber Ihr müsst ihr doch irgendwann zu verstehen gegeben haben, dass Ihr sie mögt«, sagte Crestina gequält.

»Ich habe ihr nur zu verstehen gegeben, dass sie noch ein Kind ist und ich ein Mann, dass ich Erfahrungen habe, sie nicht.«

»Sie wird nicht wissen, was Ihr mit diesen ›Erfahrungen‹ meint«, wagte Crestina einzuwenden.

»Oh ja, das weiß sie sehr wohl«, stieß Moise hervor. »Auch ihre Brüder haben diese ›Erfahrungen‹ und daher weiß sie, worum es dabei geht. Das Schlimme dabei ist, dass sie diese Erfahrungen auch machen möchte.«

»Mit Euch?«

»Ja, natürlich mit mir.«

Crestina seufzte.

»Was soll ich tun? Wisst Ihr einen Rat?«

»Gebt sie weg aus der Stadt. Irgendwohin. Weit weg von hier. Vor allem weit weg vom Ghetto. In diesem Augenblick, in dem man meint, dass die Welt untergeht, wenn dieser Messias diesmal nicht das bringt, was man von ihm erwartet.«