20. Messiasträume

Am Abend im Palazzo spielte sich stets das gleiche Abschiedszeremoniell ab: Moise rannte die sala entlang, die endlos erscheinende Strecke hin, dann zurück, wieder hin, und zurück – gewiss mehr als zehnmal.

»Hier kann er endlich richtig rennen«, sagte Lea entschuldigend zu den beiden Frauen, »im Ghetto zwischen all den Hunderten von Leuten auf dem einzigen großen Platz, den wir überhaupt besitzen, ganz gewiss nicht. Aber jetzt wird es Zeit!«, rief sie dann Moise entgegen, als er sie beinahe umwarf mit seinem wilden Lauf.

Moise ignorierte Leas Schlusswort, begann von neuem seinen Wettlauf zu den großen Fenstern am Kanal und zurück zu den großen Fenstern auf der Landseite. Als Lea schließlich die Treppe hinunterstieg und bereits zur Haustüre ging, rannte Moise ihr zornig nach.

»Du lässt mich zurück«, sagte er wütend, »du hast mich allein zurückgelassen.«

»Ich lasse dich nicht zurück«, widersprach Lea, »ich will nur nicht wieder rennen müssen, um das Tor zum Ghetto rechtzeitig zu erreichen. Ich will keine Strafe zahlen müssen.«

»Sie werden uns schon hereinlassen«, sagte Moise zuversichtlich und hüpfte im Zickzack vor ihr die enge calle entlang. »Wir haben ja keine Uhr an der Kette wie die Adligen und können die Zeit ablesen.«

»Aber wir haben Ohren, um zu hören«, widersprach Lea, »die Marangonaglocke ist laut genug, dass man sie hört.« Sie blieb für einen Augenblick stehen, um Atem zu holen. »Lauf schon vor«, sagte sie dann mühsam, »sag ihnen, dass ich auch gleich komme.«

»Das habe ich schon beim letzten Mal gesagt, dann haben sie gesagt, dass wir dann eben früher aufbrechen müssten. Und heute ist sowieso der Pockennarbige am Tor, zumindest an unserem Tor, der nur darauf wartet, dass wir zu spät kommen und bezahlen müssen.«

Als sie die Rialtobrücke erreichten, stolperte Lea, ihr Korb kam ins Wanken, zwei der Äpfel rollten unter den Bretterstapel eines Gemüsestandes.

»Lass sie liegen«, sagte Lea und hastete weiter. »Ein Kind wird sich darüber freuen.«

»Ich bin das Kind«, sagte Moise, kroch unter die Bretter und kam mit einem Loch in der Hose wieder zurück, was er zu verbergen suchte. »Ich will überhaupt nicht, dass du immer rennen musst«, sagte er dann aufsässig und stampfte mit dem Fuß, »ich will kommen, wann ich will, und gehen, wann ich will.«

»Das kannst du, wenn du fünfundzwanzig Dukaten Strafe zahlen willst«, sagte Lea keuchend im Weitergehen.

»Ich will keine Strafe bezahlen, ich will keine Tore, die geschlossen werden, ich will keine cattaveri, die uns bewachen, und ich will kein Buch, in das die Christen einschreiben, wann wir kommen und gehen. Und ich will böse sein dürfen. So böse, wie Christen auch sein dürfen.«

Lea war nahe daran zu explodieren, wenn sie das Gefühl hatte, dass Moise beabsichtigte, wieder eine seiner Debatten zu beginnen.

»Lauf jetzt«, drängte sie daher noch einmal, »sag ihnen, dass sie einen großen Fisch bekommen, wenn sie uns ohne Strafe hineinlassen.«

»Dann brauchst du aber zwei Fische, und diese Fische sind unser Nachtmahl.«

»Ich mach dir auch Pomeranzengemüse«, schmeichelte Lea, »und du darfst die Schnipsel machen.«

Moise lachte auf. »Und dann zwölfmal waschen? Da können wir heute Abend verhungern.«

»Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass die Christen böse sein dürfen?«

»Sie waren böse«, sagte Moise zornig, »sehr böse, bei den Kreuzzügen.«

Lea runzelte die Stirn. »Und woher weißt du das schon wieder? Lernt ihr diese Sachen in der Jeschiwa?«

»Nicht alles. Manches weiß ich auch so«, sagte Moise und sah Lea prüfend an. »Von Isaak«, stieß er dann triumphierend hervor und spielte damit seine stärkste Waffe aus.

»Isaak?« Lea schüttelte verärgert den Kopf. »Natürlich wieder von Isaak. Woher kommt er eigentlich?«

»Aus Spanien«, erklärte Moise bereitwillig.

»Aha«, sagte Lea unbedacht und sah erleichtert die eine der Brücken zum Ghetto bereits vor sich liegen.

»Was heißt ›aha‹?«, fragte Moise misstrauisch und betrachtete Lea wie ein Hund, der endlich eine Gelegenheit sieht, seinen schon lange beobachteten Knochen zu schnappen. »Seine Vorfahren sind von dort vertrieben worden.«

»Das weiß ich auch«, erwiderte Lea hastig und verfiel dabei unüberlegt ins Jiddische. In der Sorge, es könnte sich bereits wieder ein Verhör anschließen, ob sie Juden, die nicht in die aschkenasische Synagoge gingen, die nach einem anderen Ritus beteten, eine andere Sprache sprachen etwa geringer einschätze.

»Sprich nicht immer so, dass ich dich nicht verstehe«, sagte Moise dann jedes Mal zornig, wenn Lea in diese Sprache überwechselte, da er sie nur unvollkommen beherrschte.

Als sie das Tor zum Ghetto endlich erreichten, war der eine der Wächter, der Pockennarbige, bereits gegangen. Der andere packte soeben seine Sachen zusammen. »Ihr kommt spät«, sagte er dann und blickte prüfend auf Leas Korb.

»Gerade ein paar Minuten«, erwiderte Lea und überlegte, ob es sich lohnte, für diese wenigen Minuten einen ihrer beiden Fische zu opfern. Also versuchte sie es mit einem kleinen Beutel mit Kichlech, die sie am Morgen gebacken hatte.

Der Mann murrte unfreundlich vor sich hin, dass er das süße Zeug nicht möge, und ließ Lea im Zweifel, ob er ihren Namen nun doch noch eintragen würde, sodass Lea sich schweren Herzens von einem ihrer beiden Fische trennte. Und überschlug, dass fünfundzwanzig Dukaten allemal ein größerer Verlust waren als ein gepökelter Fisch.

»Sag's mir, was da in seinem Buch steht«, sagte Moise wissbegierig, als sie jetzt gelassen über den Platz des ghetto nuovo gingen, über die Ponte di Ghetto Vecchio und dann gemächlich ihrem Haus zustrebten.

»Nun, er hat uns ja nicht eingetragen«, sagte Lea mit einem Gefühl von Stolz, dass sie diese schwierige Situation mit den Behörden wieder einmal gemeistert hatte. Auf ihre Art und Weise.

»Aber was hätte denn da gestanden, wenn du keinen Fisch gehabt hättest?«, bohrte Moise nach. »Nicht alle Frauen haben gleich einen Fisch in ihrem Korb, wenn sie zu spät kommen.«

»Nun, es hätte gestanden, dass wir zu spät nach Hause gekommen sind.«

»Nein, sag's richtig«, beharrte Moise, als ginge von diesem Satz ein Zauber aus, den er sich für immer und alle Zeiten zu merken habe.

Lea blieb stehen.

»Es hätte gestanden: Lea Coen und Moise Coen sind hinausgegangen an der Brücke von San Girolamo. Und zurückgekehrt an der Fondamenta di Cannaregio. Und dann beide Male die Uhrzeit.«

»Sie haben also den Morgen auch eingetragen, obwohl wir da gar nicht zu spät kamen?«, empörte sich Moise.

Lea wehrte ab. Genau genommen wusste sie nicht mehr, wie die Formulierung wirklich lautete. Es war Abram gewesen, der über all diese Dinge Bescheid gewusst hatte. Sie hatte sich vor seinem Tod kaum für solche Sachen interessiert.

Aber Moise hatte den Satz bereits aufgegriffen. Er hüpfte vor Lea die calle entlang und sang ihn vor sich hin, so, als wolle er einen Gegenzauber ausprobieren. »Lea Coen ist zurückgekehrt an der Fondamenta die Cannaregio. Hinausgegangen an der Brücke von San Girolamo. Moise Coen ist zurückgekehrt an der Fondamenta di Cannaregio. Fondamenta di Cannaregio. Fondamenta di Cannaregio.«

In der Nacht darauf dann sein üblicher Albtraum.

Moise hatte seine Schlafbank verlassen, kroch weinend zu Lea hinüber, was Lea stets in Bedrängnis brachte, weil sie annahm, sie habe irgendeine Schuld auf sich geladen mit diesem Kind und ihm möglicherweise nicht alle Liebe zukommen lassen, zu der sie fähig war. »Hast du wieder geträumt?«

Moise schluchzte und nickte.

»Malamocco?«, fragte Lea behutsam, so, wie Abram sie einst gefragt hatte, ob es der Traum vom capel nero sei, der sie quäle.

Moise nickte wieder.

»Sie haben heute schon wieder eine Decke eingezogen«, sagte er dann schluchzend. »Und es sind neun neue Leute eingezogen. Laute Leute.«

Lea versuchte Moise zu erklären, dass sie in diesem Ghetto keine andere Möglichkeit hätten, als immer neue Stockwerke zwischen die alten zu bauen, weil das Ghetto längst zu klein war für alle Juden in dieser Stadt.

»Fünftausend Menschen«, sagte Moise erregt und begann an seinen Fingern abzuzählen, so, als müssten sie ausreichen, um diese gigantische Zahl darzustellen. »Fünftausend.«

Lea nahm seine Hand in ihre und streichelte Moise liebevoll.

»Wir werden trotzdem alle Platz haben. Auch wenn es noch mehr werden sollten.«

»Wir werden eines Tages untergehen«, sagte Moise hoffnungslos, »alle fünftausend. Stell dir nur vor, was die wiegen, fünftausend Menschen,«

Lea lächelte, sah an sich hinunter und seufzte.

»Es sind nicht alle so dick wie ich«, sagte sie dann entschuldigend. »Es gibt auch welche, die wiegen kaum etwas.«

»Aber wenn wir untergehen, ich meine im Wasser, kriegt doch niemand mehr Luft, oder? Dann ersticken wir doch, oder?«

»Hat das wieder dieser Isaak gesagt?«

»Nein«, erwiderte Moise ernsthaft, »das weiß ich von mir selber.«

»Ich verspreche dir, dass das Ghetto nicht untergehen wird«, sagte Lea laut und strich die feuchten Haare aus Moises Gesicht.

»Aber Malamocco«, schluchzte Moise erneut, »Malamocco ist doch auch untergegangen.«

»Das war vor hunderten von Jahren«, versuchte Lea zu trösten, wohl wissend, dass die Zeit des Untergangs einer Insel kaum ein Trost sein konnte gegen die Ängste dieses Kindes.

»Und weshalb kann so etwas heute nicht mehr geschehen?«, wollte Moise wissen.

»Weil der Messias uns behütet«, sagte Lea zögernd. Und war mit sich im Unklaren, ob sie dem Messias diese ungeheure Bürde aufladen und dieses Kind mit etwas belasten durfte, was es noch kaum verstand. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie einmal belauscht hatte, als Moise vor ihrer Ladentüre spielte und die Kinder ihn gefragt hatten, was er eines Tages werden wolle. Sie erinnerte sich auch an das ungebärdige Gelächter der Kinder, als Moise voller Ehrfurcht den Namen ›Messias‹ genannt hatte. Und an seinen Zorn, mit dem er sich in eine Prügelei eingelassen hatte und blutverschmiert in den Buchladen gerannt kam.

»Wirst du immer bei mir sein?«, flüsterte Moise.

»Natürlich werde ich immer bei dir sein«, sagte Lea voller Gewissheit und so, als wisse sie über ihre Unsterblichkeit.

»Du wirst also mit mir zusammen sein, wenn es so weit ist und wir untergehen?«

Lea lachte.

»Ich werde mit dir etwas völlig anderes tun: Wir beide werden eines Tages zusammen mit vielen anderen Menschen die Ghettotore niederreißen und sie auf dem großen Platz des ghetto nuovo verbrennen. Und jeder wird dann dort wohnen dürfen, wo er will.«

»Du meinst, dass es dann keine christlichen Wächter mehr geben wird, die uns um Mitternacht wieder in den Käfig sperren und die wir dann auch noch bezahlen müssen?«, fragte Moise ungläubig.

»Es wird keine christlichen Wächter mehr geben«, sagte Lea entschieden und strich Moise zärtlich übers Haar.

»Und woher weißt du das so sicher?«

»Ich habe es geträumt.«

»Geträumt?«, fragte Moise noch ungläubiger als zuvor.

»Nicht nur einmal«, erklärte Lea siegessicher, so, als habe sie soeben eine Veröffentlichung der Stadt an der Anschlagsäule am Rialto gelesen, die dies für den nächsten Tag ankündigte. »Ich habe es unzählige Male geträumt. Und sogar aufgeschrieben.«

»Unzählige Male?«, fragte Moise schläfrig und stapfte gähnend zu seiner Schlafbank hinüber. »Dann muss es ja wohl stimmen.«

Lea deckte ihn liebevoll zu und ging erleichtert zu ihrer Schlafstätte zurück. Aber kaum hatte sie das Gefühl, dass sie diese neuerliche Hürde mit Malamocco wieder einmal wunderbar gemeistert hatte, riss Moise noch einmal die Augen auf und sprang aus dem Bett.

»Ich weiß, was wir tun werden!«, sagte er mit Entschiedenheit und rannte an Lea vorbei. »Wir werden gewiss nicht untergehen. Wo hast du dein Bündel?«

»Mein was?«, fragte Lea verstört und richtete sich abrupt auf.

»Nun, dein Bündel«, wiederholte Moise ungeduldig. »Diesen Wäscheklumpen mit den Sachen, die man braucht, wenn man unterwegs ist. Du hast es mir nie gezeigt.«

»Mein Bündel«, sagte Lea erschreckt, »was um alles in der Welt willst du mitten in der Nacht mit meinem Bündel? Und …«, Lea plusterte die Backen auf, »… woher weißt du überhaupt davon?«

»Von deiner Freundin, von Diana«, sagte Moise und zeigte eine winzige Spur von Verlegenheit, sodass Lea annahm, er kenne dieses Bündel längst. »Es ist wichtig für mich«, drängte Moise, als Lea keinerlei Neigung zeigte, sich auf die Suche zu begeben. »Man muss doch wissen, was man mitnimmt, wenn man eines Tages schnell wegmuss. So, wie du damals aus diesem Salzburg.«

»Sulzburg«, korrigierte Lea verstört. »Es war Sulzburg. Und es gab mich damals noch gar nicht. Und jetzt ist es mitten in der Nacht, und ich weiß nicht einmal, wo es ist.«

»Aber ich weiß es«, sagte Moise freudig erregt, so, als habe er soeben einen Barren Gold in diesen ärmlichen Räumen gefunden. »Es ist unter Abrams Bank.«

»Und sicher voller Staub«, sagte Lea entsetzt, »ich habe es jahrelang nicht mehr hervorgeholt, wozu auch?«

Aber Moise, der sich noch nie in Leas Gesetzen über Staub zurechtgefunden hatte, war bereits in den Nebenraum gestürzt und zog ein schwarzes Wäschebündel hinter sich her, aus dem echter Staub aufwirbelte, und nicht nur jener, den Lea sich ständig einbildete.

»Du beschmutzt dein Nachtgewand«, sagte sie vorwurfsvoll, als Moise das Bündel auffordernd vor ihr auf den Boden fallen ließ.

»Das macht nichts«, erwiderte Moise fröhlich und summte vor sich hin.

Lea wälzte sich ergeben wieder von ihrer Schlafbank und legte sich eine Jacke um die Schultern. »Zieh dir was an!«, befahl sie dann. »Es ist kalt.«

Moise zog ohne Widerrede eine Jacke an und hockte sich erwartungsvoll vor Lea auf den Boden. So, als habe es in dieser Nacht nie einen Albtraum gegeben und als sei das Öffnen dieses Bündels, das Lea bei ihren zahlreichen Fluchten einst quer durch die Lande geschleppt hatte, das größte Abenteuer, das es gab.

»Was steht auf den Zetteln?«, wollte Moise wissen, als Lea den Ballen behutsam und unter ständigem Prusten geöffnet hatte und einen Packen von Zetteln herausnahm, die eng beschrieben waren. »Was ist das?«

»Das sind die Orte, durch die wir gegangen sind«, sagte sie dann, nahezu andächtig. »Bremgarten, Müllheim, Wolfenweiler.«

»Wo war das?«, fragte er.

»Überall«, erwiderte Lea ruhig. »Es war überall. Erst waren wir im Badischen, dann …«, sie schloss die Augen und murmelte vor sich hin, »… dann im Elsässischen: Rosheim, Dangoldsheim, Mittelbergheim. Dann hinunter ins Eidgenössische: Klingnau, Lenzburg, Rheineck und wieder ins Badische.«

»Hast du das auswendig gelernt?«, wunderte sich Moise.

»So was vergisst man nicht, auch wenn es einem später erzählt wird.«

»Da sind noch andere Sachen«, drängte Moise ungeduldig und grub seine Finger in das Bündel.

»Solche Sachen brauchen Zeit«, sagte Lea vorwurfsvoll. »Jedermann würde uns ohnehin für verrückt halten, wenn er uns hier, mitten in der Nacht, vor einem Bündel sitzen sehen könnte, mit dem ich einst mit meiner Familie über Land gezogen bin wie ein Landstreicher.«

Das Nächste, was zum Vorschein kam, waren zwei geflochtene, halb abgebrannte Kerzen von einem bestimmten Sabbatabend, an den sich Lea jedoch nicht mehr erinnern konnte. »Vielleicht von meiner Bar-Mizwa«, vermutete sie. Dann eine Purim-Rätsche, die sie als Kind benutzt hatte, den Esther-Text, und, sorgfältig in einem Tuch eingewickelt, Mesusot.

»Eine Mesusa?«, fragte Moise neugierig. »Aber weshalb fünf?«

»Mein Großvater hatte in Sulzburg an jeder Tür eine«, erklärte Lea stolz. »Die hier war für die Tür meiner Schwester. Mein Großvater hatte den Text selber abgeschrieben.« Sie öffnete den Deckel des Glasröhrchens, zog die kleine Pergamentrolle heraus, strich über die Schrift. Eine Bewegung, die sie bereits vor Jahrzehnten nicht anders gemacht hatte. Sie nahm die nächste Mesusa und vollzog den gleichen Vorgang.

»Es ist immer der gleiche Text«, sagte Moise ungeduldig. »Er verändert sich doch nicht.«

Lea lächelte. »Stell dir vor, das weiß ich.«

Moise strich Lea zärtlich über das Gesicht. »Entschuldige.«

Dann kam der Schofar des Großvaters, dessen Horn abgewetzt war vom vielen Blasen, der Talmud, und dann eine Mappe mit Bildern. Menschen, die der Urgroßonkel einst gemalt hatte, Menschen, die keine Gesichter hatten, weil dies verboten war. Die Menschen trugen stattdessen Hüte: rote Hüte, gelbe Hüte, Hüte mit einer langen Spitze, gelbe Ringe auf der Brust, die Frauen hatten blaue Schleier.

»Du trägst keinen«, stellte Moise fest.

»Bei uns hier tragen nur die Männer diese roten Hüte. Aber erst nach ihrer Bar-Mizwa.«

»Ich werde keinen tragen«, wehrte sich Moise sofort.

Lea seufzte. »Vielleicht eines Tages nicht mehr, wenn ich das noch erlebe.«

Das Letzte, was Moise ausgrub, war ein Säckchen mit Sand aus dem Heiligen Land.

»Aaron ist dort?«, fragte Moise, der noch kaum eine Erinnerung hatte an Leas Sohn, der in Safed die Kabbala studierte. »Kommt er eines Tages zurück?«, wollte er dann wissen.

Lea seufzte ein zweites Mal.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Dann legte sie die Gegenstände sorgfältig nebeneinander, wickelte die Mesusot in ihre Tücher, schob die übrigen Gegenstände in Strümpfe und Unterkleider. Sie schlug das schwarze Tuch um das Bündel und verschnürte es wieder. Dann blieb sie einen Augenblick sitzen und sah Moise schweigend an.

»Zufrieden?«

Moise schluckte.

»Wenn die Stadt sinkt, können wir ja gehen«, sagte er zögernd. »Wir müssen nur noch für mich auch so ein Bündel machen.«

Lea nickte gottergeben.

»Ja, das müssen wir ja dann wohl. Aber es wird nicht so schwer sein, so etwas zu machen. Und vielleicht wird es ja auch nie nötig sein.«