11. Briefe an einen Toten

»Du warst an seinem Grab«, sagte Ludovico zornig, als Crestina eines Tages durchweicht in den Palazzo zurückkehrte. »Du konntest nicht schnell genug zu ihm kommen! Du hast dir nicht einmal die Zeit genommen, auf Sonne zu warten. Existiert die Insel überhaupt noch? Oder sind dir die Leichen entgegengeschwommen? Wie damals bei der Überschwemmung, als Margaretes Familie Hals über Kopf die Stadt verließ und nach Nürnberg zurück flüchtete?«

Crestina blickte an ihrem Sohn vorbei und stieg wortlos die Treppe empor.

»Falls du den geteilten Würfel suchst, den haben gewiss längst die Mäuse zernagt«, schrie ihr Ludovico hinterdrein, »da bin ich ganz sicher.«

»Welchen geteilten Würfel, bei den Göttern?«, fragte Bianca verstört, die im gleichen Augenblick die Treppe emporkam.

»Den Würfel, den unsere Mutter vermutlich mehr als zwanzig Jahre irgendwo aufbewahrt hat, noch immer in der Hoffnung, dass die beiden Hälften irgendwann einmal wieder zusammenfinden würden. In Äonen. Den von Plato«, erklärte Clemens, der inzwischen hinzugekommen war, bereitwillig. »Der Würfel, mit dem sich Generationen von Menschen schon meschugge gemacht haben! Den sich dieser Plato ausgedacht hat. In irgendeinem seiner Texte. Ich glaube, es war das ›Gastmahl‹, da kannst du es ohne weiteres nachlesen.«

»Seine Bücher sind ja im ganzen Haus verteilt, wie ich inzwischen festgestellt habe, vermutlich jedes zweimal. Damit es von Riccardo und unserer Mutter auch gleich zweimal gelesen werden konnte«, sagte Ludovico schroff.

Bianca fragte sich, woher Ludovico sein Wissen hatte. Das mit den herausgeschwemmten Leichen hatte Crestina ihren Kindern zwar einmal erzählt, und das Gespräch über diesen Bruder Riccardo, der an der Pest gestorben war und ganz offensichtlich nie vergessen wurde, erklärte auch vieles, nachdem sie mit Clemens einmal darüber gesprochen hatte und er ihr von einer geheimen Kammer berichtete, die es da angeblich auf dem Speicher gab, irgendwo, hinter verschlossenen Schranktüren.

Es hatte diese Gespräche natürlich nicht offen innerhalb der Familie gegeben. Es gab sie lediglich verschlüsselt und unterdrückt, so, als seien sie eben keine Familie. Es schien, als seien sie alle, seit sie wieder in dieser Stadt lebten, zu Feinden geworden. Als sei eine Axt vom Himmel gefallen, habe sich zwischen sie geworfen und keinerlei Bande mehr heil gelassen. Als seien alle Wunden, über die seit Jahrzehnten nicht gesprochen werden durfte, nun plötzlich mit einem Mal wieder aufgebrochen.

»Und außerdem schreibt sie Briefe, Briefe an einen Toten. Und neulich fand ich ein angefangenes Sonett«, flüsterte Ludovico.

»Briefe an unseren toten Vater?«, fragte Bianca verstört.

»Nein, natürlich nicht an unseren Vater. An ihren Bruder Riccardo, der schon seit Jahrhunderten tot ist«, erwiderte Ludovico zornig.

Hätte jemand gewagt, diesen Satz, dass Riccardo bereits seit Jahrhunderten tot sei, zu Crestina zu sagen, so hätte sie ihn ganz gewiss mit einem versteinerten Blick fixiert und wäre dann zur Tagesordnung übergegangen. Dann hätte sie vermutlich beim nächsten Besuch Lea gefragt, wie lange ihr an der Pest verstorbener Mann Abram tot sei und gehört, dass er in Wirklichkeit gar nicht tot sei. Ganz gleich, was irgendwelche Leute darüber reden würden. Tot ist man, wenn niemand mehr an einen denkt, hätte die Freundin dann vermutlich mit aller Selbstverständlichkeit erklärt. Und damit wäre das Gespräch beendet gewesen.

Dass es irgendwo in diesem Haus Briefe an diesen Riccardo geben sollte, ließ Bianca keine Ruhe. Sie überlegte sich, wo sie nach diesen Briefen suchen sollte, aber außer einer verschlossenen Schatulle in einer Truhe im Zimmer ihrer Mutter, wäre ihr kein Platz eingefallen, an dem sie diese Briefe vermuten konnte.

Ludovico schüttelte den Kopf, als sie ihn danach fragte, und gestand, dass es keine ganzen Briefe gewesen seien, lediglich Bruchstücke, die er gefunden hatte.

»Und wo?«, wollte Bianca wissen.

»An tausend Orten«, erklärte der Bruder widerwillig und in einem Tonfall, dass Bianca bereits an dem Wahrheitsgehalt der Aussage zu zweifeln begann.

»Zerknäult in einem Kohlenbecken«, sagte er schließlich vage, »in irgendeinem der Kamine, in einem Papierkorb, einer war hinter die Kissen eines Sessels gerutscht.«

»Und wo können wir dann jetzt noch suchen?«, beharrte Bianca, trotz aller Zweifel.

Ludovico nahm sie am Arm und schob sie die Treppe hinauf in einen kleinen Raum, der kaum einen Ausblick auf den schmalen Seitenkanal hatte. Vor dem Fenster war ein Klapptisch angebracht, in der Ecke stand ein Kohlebecken mit einem kleinen Häuflein Asche. Ludovico beugte sich hinter dem Becken in die Ecke und zog einen Sack mit zerknäulten Papieren hervor, die er auf den Tisch kippte. Bianca griff eines der Papiere heraus, das irgendeine Abrechnung von einem der Schiffe gewesen sein konnte. Beim folgenden Zettel handelte es sich um Seidenstoffe, die Crestina in einem Geschäft billiger bekommen hatte, was sie mit einem roten Stift markiert hatte, dann schob ihr Ludovico triumphierend drei halb zerrissene Papiere entgegen, die er zusammenzusetzen versuchte.

»Lies!«

»Riccardo, manchmal glaube ich, dass ich eigentlich jeden Tag diesen weiten Weg machen müsste, um dich zu besuchen. Dort in deiner Grube auf dieser Pestinsel. Wo du aber gewiss schon längst nicht mehr bist, deine Seele nicht mehr ist. Dann wiederum denke ich, dass ich nur ein paar Treppen emporgehen müsste, um dich dort zu finden, in diesem Raum, der einst unsere Heimat war, in dem wir lebten. Ich kann diesen Raum riechen, kann ihn zu jeder Sekunde für mich greifbar machen, ich muss nur deine Pfeife berühren und schon bist du mir nah. Oder dieses Bild, das Leonardo einst von dir gemalt hat. Erinnerst du dich, wie wir darüber lachten, dass er dir schwarze Haare malte, weil ich mir immer wünschte, dass du schwarze Haare hättest und wir uns dadurch noch ähnlicher würden? Und, Riccardo, als du –«, der Rest des Briefes fehlte, aber Bianca fand einen anderen Teil, der zwar nicht zu diesem passte, der ihr aber ebenfalls wichtig erschien.

»Nürnberg! Du hättest mir diese Stadt ersparen können, da du ohnehin wusstest, dass ich diesen Lukas Helmbrecht nie heiraten würde. Du hättest mir ersparen können, in diesen tiefen Keller mit seinen Essigdüften hinunterzusteigen, seine widerlichen Küsse ertragen zu müssen, die ich noch stundenlang auf meinem Mund spürte, obwohl ich mir mit Seife fast die Lippen wund gerieben hatte. Riccardo, du hättest –«, auch hier fehlte die Fortsetzung. Dagegen gab es einen Brief, der zwar vollständig erhalten, aber an Kürze kaum zu überbieten war.

»Dass du in den ›Stufen‹ warst, Riccardo, habe ich dir nie verziehen!!!«

»Stufen?«, fragte Bianca ratlos.

»Der Ort, an den Männer gehen, die eine Frau brauchen und keine zur Hand haben, wenn sie eine brauchen«, sagte Ludovico brüsk.

Eine Weile war Stille. Sie saßen vor den Bruchstücken eines Lebens, das vor ihrer Zeit stattgefunden hatte und an dem sie keinen Anteil hatten.

»Weshalb wirft sie sie weg, diese Briefe?«, fragte Bianca ratlos, als sie das Zimmer verließen.

»Was soll sie denn sonst damit tun?«, erwiderte Ludovico grob, »etwa auf sein Grab legen? Ein Grab, zu dem sie vermutlich pausenlos pilgert, ohne dass wir es wissen?«

Niemand von ihrer Familie wusste, dass Crestina nicht an Riccardos Grab gewesen war an jenem Tag, an dem sie völlig durchnässt in den Palazzo zurückkehrte. Zwar war sie aufgebrochen mit dem Vorsatz, dorthin zu fahren, aber dann hatte sie die Idee so lange in ihrem Kopf gewälzt bis sie verwässert, abgestanden und unbrauchbar geworden war. Sodass ihr nichts anderes geblieben war, als stundenlang durch den Regen zu rennen und zu grübeln.

Sie hatte tausend Ängste ausgestanden, wie sie den Ort vorfinden würde, den sie damals verlassen hatte, als sie Riccardo begraben hatten. Lazzaretto vecchio. Oder etwa lazzaretto nuovo? Für einen Augenblick war sie sogar unsicher gewesen, welche der beiden Inseln die Pestinsel gewesen war und welche die Quarantäneinsel, auf der sie später als Pflegerin den Kranken geholfen hatte. Sie hatte sich bemüht, in ihrem Kopf Klarheit zu schaffen, wie oder wo Riccardo gestorben war, obwohl sie natürlich genau wusste, dass es in jenem finsteren feuchten Gang gewesen war, in welchen sie ihren Bruder gebracht hatten, nachdem er in dem großen Krankensaal unruhig geworden war und seine Albträume die übrigen Kranken gestört hatten.

Sie hatte sich an ihre Gespräche erinnert. Ihre Gespräche über das, was sie sich nie erlaubt hatten, weil es jenen schrecklichen Namen hatte: Blutschande. »Weshalb hatte es keinen anderen Namen haben können, ›Stern unserer Zärtlichkeit‹ zum Beispiel«, hatte sie ratlos gefragt.

Dann wieder hatten sie über dieses Nürnberg gespottet, das überhaupt nur halbwegs erträglich gewesen war, weil es Margarete damals gegeben hatte, die aus dieser schrecklichen Familie ausgebrochen war.

Und wieder über die Seele. Sie hatte ihm Platos Gastmahl vorgelesen, ja vorlesen müssen, weil Riccardo es sich gewünscht hatte. Die Stelle mit dem Menschen, der das Gegenstück ist zum anderen, weil sie wie die Schollen aus einem Stück in zwei Hälften geteilt werden und dass die Hälften nun ewig die jeweils andere suchen.

Und mit den albernen Nürnberger Sprüchen, die auf dem Kachelofen gestanden hatten, hatten sie sich die Zeit vertrieben: »Nachlässigkeit in allen Dingen, wird dich in großen Schaden bringen.«

»Eigensinn und Aberglauben können jede Lust dir rauben.«

»Wie man die Aussaat hier bestellt, so erntet man in jener Welt.«

Manchmal dachte sie, sie würde sich besser fühlen, wenn sie wenigstens ihrem ältesten Sohn von Riccardo erzählen würde, so, wie es wirklich gewesen war. Wenn sie dadurch verhindern konnte, dass ihre Kinder sich in etwas verrannten, was sie ihre Mutter hassen ließ. Aber sie war unfähig dazu. So unfähig, wie in jenen Raum zu gehen, den sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr betreten hatte, obwohl sie es manchmal nicht ertrug, ihn dort oben zu wissen. Verborgen hinter dicken Schränken, die niemand verschieben konnte.

»Sie muss unter dem Dach sein, irgendwo«, sagte Ludovico hartnäckig, als er sich zusammen mit seiner Schwester einige Tage später erneut auf die Suche begab, diese geheime Kammer zu finden. Aber nach etlichem vergeblichen Suchen wehrte sich Bianca, weitere Treppen emporzusteigen.

»Sie muss in einem der Seitengänge sein, da, wo unser Großvater einst seine Mumien aufbewahrte.«

Bianca schüttelte sich.

»Du kannst allein weitersuchen, ich habe kein Verlangen nach Mumien. Und außerdem habe ich auch keine Zeit.«

»Es gibt doch keine Mumien mehr«, sagte Ludovico und tippte sich an die Stirn. »Und überdies ist er heute Nachmittag ohnehin nicht im Haus. Also hast du Zeit.«

Bianca starrte ihren Bruder an.

»Wer?«

»Nun, wer wohl? Der Mann, den du dir ganz gewiss nicht einfangen kannst, auch wenn du ihn inzwischen auf Schritt und Tritt verfolgst. Und alles nachahmst, was es nur nachzuahmen gibt. Ich frage mich schon, ob du dir nicht inzwischen überlegst, wie Juden schlafen, auf der linken Seite ihrer Schlafbank oder auf der rechten. Ich sag's ja niemandem weiter«, fuhr Ludovico hastig fort, als er das zornige Gesicht seiner Schwester bemerkte.

»Da tust du auch gut daran«, erwiderte Bianca hart, »sonst bleibt dein Geheimnis genauso wenig ein Geheimnis wie meines.«

»Welches Geheimnis?«, fragte Ludovico gedehnt.

»Dein Bartolomeo-Geheimnis. Was meinst du, was Mutter sagen wird, wenn sie erfährt, dass du deinen Seesack bereits gepackt hast?«

»Jeder kann ein Reisegepäck packen, deswegen muss er es noch lange nicht benutzen«, sagte Ludovico aufsässig. »Gib eher Acht auf dich und dieses ›Pestkind‹.«