20. Der Mord in der ›bautta‹

Crestina kannte die Frau nicht, die vor ihrer Tür stand. Sie konnte in ihrem Alter sein, war etwas zu vornehm gekleidet für diese frühe Morgenstunde und blickte sie verlegen an.

»Ihr werdet Euch ganz gewiss nicht mehr an mich erinnern«, sagte sie dann zögernd.

Crestina durchforschte ihr Gedächtnis nach einem Gesicht, das aussah, als wollte es gleich zu weinen beginnen, schüttelte dann irritiert den Kopf und öffnete die Tür.

»Wenn wir uns kennen, ist es besser, wenn wir uns im Haus unterhalten«, sagte sie dann und führte die Frau auf die Terrasse.

»Wir hatten damals Eure ehemalige Villa an der Brenta gekauft«, erklärte die Frau. »Euch gehörte die limonaia. Ich weiß nicht, ob das immer noch so ist?«

Crestina schlug sich an die Stirn.

»Natürlich erinnere ich mich. Ihr stammt aus Basel, und Ihr hattet einen Hauslehrer für Eure Kinder, er hieß Kugel oder so ähnlich.«

Die Frau verzog das Gesicht.

»Kugler. Nun ja, inzwischen brauchen wir keinen Hauslehrer mehr, die Kinder sind erwachsen. Ja, das sind sie wohl.«

Die Frau stockte und knetete an ihren Fingern.

»Und Ihr wohnt immer noch dort, in der Villa?«

»Nur im Sommer«, erwiderte die Frau missmutig, so, als sei Crestina die Schuldige, dass dies so war. »Im Winter hat es keinen Sinn. Wer will sich schon immer um diese riesigen Kohlenbecken kümmern, und kalt bleibt es trotzdem.«

»Dann wohnt Ihr jetzt in der Stadt?«, fragte Crestina zögernd, die allmählich das Gefühl hatte, dass der Anlass dieses Besuchs kein erfreulicher war.

Die Frau nickte.

»Ja, auch in einem Palazzo, mein Mann hat ihn schon vor einigen Jahren gekauft. Er ist natürlich nicht so großartig wie Eurer«, wehrte sie ab, als Crestina ihr gratulieren wollte, »aber er ist ebenfalls schön.«

Sie zögerte.

»Die Hälfte bewohnt übrigens Euer Vetter. Zur Miete. Aber«, sie lachte verlegen, »er will nicht, dass die Leute das wissen.«

Crestina zuckte zusammen. Also schon wieder eine Lüge.

»Bartolomeo?«

»Ja, er heißt wohl Bartolomeo mit Vornamen.«

Die Frau zog ein Taschentuch aus ihrem Mieder und wischte sich über die Augen.

»Ja, Bartolomeo.«

Dann schaute sie über den Kanal hinweg und zuckte mit den Schultern.

»Aber ich glaube es einfach nicht.«

»Was?«

»Dass er es war, der ihn umgebracht hat.«

»Wen?«

»Meinen Mann.«

»Bartolomeo soll Euren Mann umgebracht haben?«, fragte Crestina ungläubig.

Die Frau zuckte wieder mit den Schultern und wischte sich erneut über die Augen.

»So heißt es.«

»Könnt Ihr mir das von Anfang an erzählen?«, bat Crestina.

»Da gibt's nicht viel zu erzählen«, sagte die Frau seufzend. »Vielleicht erinnert Ihr Euch ja noch an meine schon mehr als seltsame Naivität damals: Ich wusste ja nichts von den Geschäften meines Mannes. Natürlich war ich glücklich über das viele Geld, das er immer nach Hause brachte, aber das war auch schon alles. Ich wusste bis vor kurzem nicht einmal, bei welcher Bank er es aufbewahrte.«

»Aber Ihr wusstet doch sicher, woher sein Geld stammte«, unterbrach sie Crestina.

»Jajaja«, gab die Frau widerwillig zu, »natürlich weiß ich es inzwischen, damals selbstverständlich nicht. Damals hatte ich keinerlei Ahnung, wie man dieses große Geld macht. Aber …«, sie stockte, »… nun weiß ich es natürlich.«

Sie machte eine Pause.

»Sie haben ja keine Seele, die Sklaven«, fuhr sie entschieden fort und ließ für einen winzigen Augenblick ihre Finger in Ruhe, vermutlich, damit der Satz seine volle Wirkung entfalten konnte.

Crestina blickte zur Seite, überlegte, ob sie ihre unerwartete Besucherin am besten gleich vor die Tür setzen sollte.

»Sie haben keine Seele«, wiederholte die Frau, diesmal um eine Spur lauter. »Ihr wisst das doch sicher?«

Crestina schüttelte den Kopf.

»Wie kommt Ihr denn auf so etwas?«

»Da gibt es einen Bischof in Bologna, der hat es gesagt. Und wenn ein Bischof so etwas sagt, dann wird es ja wohl stimmen. Oder was meint Ihr dazu?«

»Ich meine, dass es schlimm ist, wenn ein Bischof so etwas von sich gibt«, sagte Crestina und machte eine Bewegung, als wolle sie aufstehen.

»Nein, nein, bitte, lasst mich die Geschichte zu Ende erzählen«, sagte die Frau erschrocken, »es geht ja doch nicht um die Sklaven, es geht um Euren Vetter.«

»Und wie um alles in der Welt soll dieser Vetter Euren Mann umgebracht haben?«, fragte Crestina ungläubig. Sie konnte sich zwar eine Fülle von Untaten von Bartolomeo vorstellen, aber bestimmt keinen Mord.

Die Frau zögerte.

»Er ist ja auch fort.«

»Was heißt das: ›Er ist fort‹?«

»Nun, sein Schiff ist fort, er ist fort, die meisten seiner Kleider sind fort. Und sein Tresor ist offen, leer. Man sucht ihn ja schon seit einigen Tagen, Euren Vetter.«

»Ich denke, er wollte nach Jamaika«, sagte Crestina lahm.

»Glaubt Ihr im Ernst, dass dieser Mann Euch je gesagt hat, was er tun wollte?«, spottete die Frau. »Jamaika, Barbados, Bonny in Afrika. Es hätte alles auch auf dem Mond sein können, was er den Leuten erzählte.«

»Und wie fiel der Verdacht auf ihn?«

»Nun, es war ein Mord, wie er – unzählige Male in dieser Stadt stattfindet: Man mordet in der bautta. Beide trugen eine bautta, so hat man sie gesehen. Und der eine hat den andern erstochen. Bei Nacht. Auf einer Brücke in Dorsoduro.«

»Und dabei hat man Bartolomeo erkannt?«, zweifelte Crestina. »Durch die Maske hindurch?«

»Nein, nicht durch die Maske hindurch«, wehrte die Frau ab. »Natürlich nicht. Aber jemand bat das Ganze beobachtet.«

»In der Nacht?«

»Es war immerhin Vollmond. Und schließlich ist der Tresor leer, im Palazzo.«

Crestina schüttelte wieder den Kopf.

»Ein leerer Tresor hat nicht unbedingt etwas mit einem Mord zu tun. Was sagen denn die Behörden dazu, die Polizei?«

Die Frau lachte schrill.

»Die Behörden? Lebt Ihr nicht um einiges länger in dieser Stadt als ich? Wo gibt es denn eine Polizei in dieser Stadt? Ein paar arsenalotti, falls es wirklich nicht anders geht. Aber ansonsten: Die Polizei sind doch wir, oder etwa nicht?«

»Welches Motiv sollte Bartolomeo denn gehabt haben, Euren Mann umzubringen?«

Die Frau plusterte die Backen auf.

»Motiv? Euer Vetter war Sklavenhändler, mein Mann ebenfalls. Verschiedene Geschäfte haben sie miteinander abgewickelt. Und mit Denunziationen hatten sie beide zu tun. Was weiß ich, was sich da alles abspielte zwischen ihnen. Manchmal stritten sie, dann musste ich aus dem Zimmer.«

Sie hielt kurz inne.

»Vielleicht hatte die Sache ja auch etwas mit Kaffee zu tun«, fuhr sie dann zögernd fort.

»Mit welchem Kaffee?«, fragte Crestina irritiert.

Das Gesicht der Frau verzog sich zu einem leichten Lächeln.

»Mit den geschmuggelten Kaffeesäcken. Ihr habt doch in Konstantinopel gelebt, Euch müsste das doch bekannt sein, oder etwa nicht?«

»Mein Mann handelte nicht mit Kaffee. Sein Hauptberuf war die Reederei, und als Fernkaufmann hat er sich nur wenig um irgendwelche Waren gekümmert. Außer natürlich um Salz.«

»Ich dachte, dass dieser Trick schon überall bekannt wäre: Die Schmuggler durchliefen in Trauerkleidung und mit wenig Gepäck – das ordnungsgemäß geprüft worden war, die zwei Pfund Kaffee, die sie bei sich hatten, ordentlich verzollt – den Zoll, und erklärten mit trauriger Miene, dass in dem mitgeführten Sarg die an den Blattern gestorbene Ehefrau liege. Und selbstverständlich war jeder Zöllner bemüht, die Träger so rasch wie möglich durchzuwinken, um sich nicht zu infizieren, wenn er den Sarg öffnen ließ. Genauso funktionierte auch der Trick mit der Lepraklapper und dem Sarg mit dem angeblichen Lepratoten: Auch hier gelangten jeweils zwei bis drei Zentner Rohkaffee unverzollt über die Grenze.«

»Und Euer Mann hatte mit solchen Kaffeeschmugglern Kontakt?«

»Und ob er das hatte! Und diese Geschäfte liefen mitnichten immer glatt über die Bühne. Zum hundertsten Mal fühlte sich einer der Schmuggler betrogen und bisweilen führte das zu recht langwierigen Konflikten, die nicht immer sanft ausgetragen wurden.«

»Ihr haltet es also für denkbar, dass auch andere für diesen Mord zuständig sein könnten?«

Die Frau stand auf und zog ihr Tuch fester um die Schulter.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie dann ratlos. »Auf jeden Fall bin ich nun wieder einmal völlig allein in diesem riesigen Haus. Immer bin ich allein in irgendwelchen Häusern, die ich mir nicht ausgesucht habe. Ein Leben lang. Mal erschreckt mich ein Papagei und mal ein Pfau. Mitten in der Nacht. Ihr erinnert Euch ja vielleicht noch?«

Crestina erinnerte sich vage, aber ihre Gedanken bewegten sich in völlig anderen Regionen.

»Seit wann ist das Schiff eigentlich verschwunden?«, fragte sie plötzlich und spürte, wie ihr der Hals eng wurde.

»Am Tag nach dem Mord«, murmelte die Frau, »genau einen Tag, oder einen halben Tag später. Ist das wichtig?«

Crestina erhob sich.

»Allerdings ist es das. Weil nämlich mein Sohn auf diesem Schiff mitfahren wollte«, sagte sie dann gepresst. »Und weil ich die Hoffnung hatte, dass er sich eines Besseren besonnen hätte. Aber da hat dann doch wohl der vorgetäuschte Besuch bei der Tante in Pellestrina, zu der er angeblich wollte, herhalten müssen.«

Die Frau starrte sie an.

»Das tut mir Leid. Das tut mir wirklich Leid. Ich bin schließlich auch eine Mutter. Aber es ist ja alles nicht sicher.«

»Was ist nicht sicher?«

»Nun, die Sache mit dem verschwundenen Schiff. Vielleicht ist es ja auch nur in einer Werft. Und ist noch gar nicht unterwegs. Und der Tresor ist aus einem anderen Grund leer. Und Euer Vetter ist irgendwo hier in der Stadt und vergnügt sich in der ›Stufe‹.«

Bartolomeos Schiff lag nicht in der Werft. Es wurde auch nicht erwartet, erfuhr Crestina, als sie am Nachmittag ins arsenale kam und sich bei allen möglichen Männern erkundigte, ob ein Schiff von Signor Ribatto für eine Reparatur gemeldet sei. Dieses Schiff sei erst vor kurzem in der Werft gewesen und befinde sich in allerbestem Zustand, hieß es.

Und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ihr Vetter in die ›Stufe‹ ging, wenn er eine Reise plante, die zudem noch von einem Mordverdacht überschattet wurde.

Und es wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass die Zahl der Menschen, die sie um Hilfe hätte bitten können in solch einer Situation, auf ein Minimum geschrumpft war: Clemens konnte sie nicht befragen, da er für ein dringendes Geschäft zu einem anderen Reeder gefahren war und erst in etlichen Tagen wieder zurückkehren würde.

Und Ludovico war wohl inzwischen auf dem Weg nach Afrika. Um Sklaven zu jagen. Und sie in Ketten zu legen.