4. In den Gärten von San Giorgio

Crestina hatte Leonardo, Riccardos Freund, seit mindestens fünf Monaten nicht mehr gesehen. Er hatte sie zweimal gebeten zu ihrem alten geheimen Treffpunkt der Buchhändler in den Gärten von San Giorgio zu kommen, aber sie hatte abgelehnt. Mehr oder weniger deshalb, weil sie es satt hatte, zu erklären, was mit ihrem Palazzo geschehen solle. Auch wenn sie glaubte, dass es für Leonardo heute wieder um nichts anderes gehen würde als genau darum, war sie hingegangen. Sie hatte sich Sorgen um Taddeo gemacht, seinen Großvater, den sie seit ihrer Kindheit liebte, als wäre es ihr eigener. Irgendwer hatte ihr neulich erzählt, dass seine Späße, die er mit den Leuten auf der Rialtobrücke machte, manchmal an die falschen Personen gerieten, wenn er damit prahlte, was die Buchhändler einst für mutige Männer gewesen seien, wie sie mit dem Index umgegangen waren und wie sie Bücher geschmuggelt hätten, als gebe es ihn nicht.

Vor kurzem hatte sie Leonardo getroffen und ihn nach seinem Großvater gefragt, aber er hatte nur gelacht. »Du machst dir Sorgen um Taddeo? Mit ihm ist alles in Ordnung. Er plant schon jetzt seinen neunzigsten Geburtstag, obwohl es bis dahin noch zwei Jahre sind. Er sagt, falls er ihn nicht erlebe, wolle er ihn wenigstens in Gedanken vorweg erlebt haben: mit neunzig Fackeln, neunzig schönen Frauen, neunzig geschmückten Booten auf dem Kanal und einem Feuerwerk, wie es nie eines zuvor gab. Und – natürlich mit Unterbrechungen – neunzig Minuten lang. Und im Übrigen ist er inzwischen in diesem biblischen Alter, dass er alles behaupten kann, selbst die wildesten Sachen, da die Leute ohnehin annehmen, dass es in seinem ›Oberstübchen‹ nicht mehr ganz stimmt.«

Sie war in Silvestros Boot mitgefahren, weil sie stets großes Interesse an seiner Arbeit hatte. Sein Großvater hatte sich einst mit dem Druck von hebräischen Büchern einen Namen gemacht, aber durch die Talmud-Verbrennung, die von der Stadt angeordnet worden war, hatte er einen solchen Verlust erfahren, dass sein Enkel das Drucken aufgeben musste und seinen Lebensunterhalt nun mit dem Handel von Handschriften bestritt. Alvise, der Schauspieler, der wie sie in Cannaregio wohnte und als Agent und Kurier für ihre Sache tätig war, wollte zusammen mit Benedetto, dem zweitgrößten Drucker in Venedig und ebenfalls Buchhändler, kommen. Marcello, der sich auf okkulte Bücher spezialisiert hatte, war bereits am frühen Morgen auf die Insel gefahren, um für seine Mutter dort Gemüse einzukaufen. Die Idee, das Boot mit dieser Tarnung in ein braves Transportboot zu verwandeln, das keinerlei Aufsehen erregte, gehörte mit zu ihren Bemühungen, den kritischen Augen der Inquisition zu entgehen.

Als Crestina Leonardo jetzt am Ufer stehen sah, die Hand vor die Augen zum Schutz gegen die Sonne, hatte sie das Gefühl, dass er weniger gut aussah als früher, auch wenn sie nicht hätte sagen können, woraus dieses Anderssein bestand. Es hätten Sorgen sein können mit der Druckerei. Der Absatz seiner Bücher war im letzten Halbjahr nicht so besonders gut gelaufen, weil der Papierpreis sich wieder einmal erhöht hatte. Es hätte natürlich auch sein können, dass es Schwierigkeiten mit diesen verbotenen Büchern gab, die sie auf geheimen Pfaden in die Stadt oder aus der Stadt herausschmuggelten, sie nach Norden brachten, nach Süden, je nachdem, wie man die Gesetze dieser Serenissima am besten unterlaufen konnte. Ein Sport, dem sie alle noch immer huldigten, ganz gleich, ob man sie dabei ertappen würde oder nicht.

Sie sprang ans Ufer, Leonardo streckte ihr die Hand entgegen, sie rutschte zurück, er zog sie mit gerunzelter Stirn zu sich heran, hielt sie an sich gepresst. Eine Sekunde zu lang, sagte sie sich, aber vermutlich war er sich dessen nicht bewusst. Hätte man ihn gefragt, wie er dieses ›Ansichdrücken‹ bezeichnen würde, so hätte er mit aller Selbstverständlichkeit und Verblüfftheit geantwortet: »Schwesterlich natürlich, wie sonst.«

Sie hätte ihm sagen können, dass es dies nicht war, weder jetzt noch in früheren Zeiten, und dass auch dies einer der Gründe war, weshalb sie nur noch ungern zu diesen Treffen kam. Dass sie sich fürchtete vor einem neuerlichen Heiratsantrag, von dem Leonardo glaubte, dass er ihm zukam. Hatte er die Schwester seines engsten Freundes Riccardo nicht fast fünf Jahre lang behütet wie das kostbarste Gut, das er sich vorstellen konnte? Hatte er sich nicht gegenüber allen anderen Frauen so zurückhaltend verhalten, dass manche bereits annahmen, er wolle überhaupt nichts mit Frauen zu tun haben, obwohl sie um ihn herumschwirrten wie die Mücken um das Licht? Und hatte er sich nicht zum ersten Mal Taddeos Spott einhandeln müssen, dass er sich wie ein Vormund um Crestinas Hab und Gut kümmere, so, als ob es sein eigenes sei, ohne dass er von dieser Fürsorge auch nur den geringsten Nutzen hatte?

»Du bist magerer geworden«, sagte sie, als sie sich von ihm gelöst hatte und ihn begrüßte. »Du siehst aus, als würde Taddeo nicht mehr so gut kochen wie früher.«

Leonardo lachte.

»Ganz so gut ist es auch nicht mehr, manchmal verwechselt er Zucker mit Salz, und die Pasta gelingt ihm meist auch nur noch mäßig, weil er es nicht lassen kann, während des Kochens nebenher in irgendwelchen Büchern zu schmökern. Aber immerhin haben wir ja noch Nunzia, wenn er keine Lust hat zum Kochen und ihm das erst zehn Minuten vor dem pranzo einfällt.«

Alvise und Benedetto vertäuten ihr Boot an der anderen Seite der Insel, kamen mit Marcello zusammen zu ihnen herüber und begrüßten Crestina überschwänglich. Sie zogen sich hinter die Netze der Fischer zurück, warfen ihren Ledersack in die Mitte und kippten den Inhalt von ihrer la bocca vor sich aus. Ein Vorgang, der stets gleich ablief: Die Denunziationen wurden wie eh und je in den Schlitz des Kastens geworfen, der sich am Gildenhaus der Buchhändler, Verleger und Drucker befand.

Crestina ließ die Männer die Ausbeute begutachten, erkundigte sich nach der Art der Denunziationen, aber sie stellte fest, dass es sie nicht mehr so berührte wie damals, als ihr Bruder noch lebte. Es war so, als sei alles träger geworden, und die Gefahr, die sie einst gereizt hatte, ließ das frühere Prickeln vermissen, wobei sie nicht einmal hätte sagen können, woher dies kam. Zu Beginn, unmittelbar nach Riccardos Tod, hatten sie ihr Aufgaben zugewiesen, hatten sie gefährliche Kurierdienste durchführen lassen, sie hierhin und dorthin geschickt, um ihr neues Vertrauen zu geben, das sie mit dem Tod des Bruders verloren hatte. Dann, als sie irgendwann feststellte, dass man sie aus der Ferne stets behütet hatte, im Geheimen einen Aufpasser mitschickte – ihre Arbeit aus ihrer Sicht damit wertlos machte –, war sie irgendwann in einen Zustand der Gleichgültigkeit geraten. Es war ihr nichts mehr wichtig gewesen, sie hatte vor sich hin gelebt, an manchen Tagen ohne überhaupt wahrzunehmen, dass sie lebte. Als sie dann nach endlosen Querelen nach drei Jahren den Palazzo zurückerhielt, der betrügerische avvocato entlarvt war und seine gerechte Strafe bekommen hatte, war sie zurückgeschreckt vor der Verantwortung, die sie nun zu tragen bestimmt war, und sie hatte alles stehen und liegen lassen, obwohl ihr klar war, dass sie irgendwann würde eine Entscheidung treffen müssen, ganz gleich welche.

Jetzt, da sie die geöffneten Briefe vor den Männern liegen sah und diese kopfschüttelnd oder auch zornig in den Papieren wühlten, stand sie auf, schlenderte zwischen den aufgehängten Fischernetzen hindurch und schaute sich nach dem Flickmaterial um, das stets an einem bestimmten Platz lag.

»Wir brauchen deine Hilfe«, rief Marcello zu ihr hinüber, als sie sich niederlassen wollte. »Deswegen haben wir dich hergebeten.«

Also nicht Leonardo, dachte sie erleichtert und kehrte zu den Männern zurück, es sei denn, er hatte Marcello gebeten, das Wort zu führen in einer Sache, von der sie noch nichts wusste. Sie ließ sich auf einer Matte nieder und zog die Füße an.

»Wir brauchen dich dringend«, sagte Silvestro und zog aus seinem Ledersack ein zusammengerolltes Manuskript. »Das hier muss in den nächsten Tagen nach Padua.«

Sie sah zu Leonardo hinüber, sah, wie er den Blick vermied, und hatte das Gefühl, dass er sich ganz bewusst bisher nicht am Gespräch beteiligte.

»Und wo liegt das Problem«, wollte sie wissen, »wenn es diesmal nicht um das Fälschen von Inventarlisten geht, wobei ich gerne helfen würde?«

»Das Problem ist, dass der Professor, der es nach Basel schmuggeln soll, bereits zweimal erwischt worden ist, nachts auf der Lagune, mit verbotenen Büchern. Das Problem ist, dass Alvise mit seiner Schauspielgruppe nach Florenz unterwegs ist zu der Aufführung eines neuen Stückes und dass die Frau von Benedetto ihr erstes Kind bekommt. Und da sie draußen auf einer der abgelegenen Inseln wohnen, auf denen es keine Hebamme gibt, macht sie sich Sorgen, wenn ihr Mann nicht bei ihr ist.«

Crestina schaute zu Leonardo.

»Und was ist mit dir?«

Leonardo zuckte mit den Schultern. »Ich muss zu einer Vorladung. Bei unserer heiß geliebten Behörde. Bei der Inquisition. Was daraus wird, weiß niemand.«

Sie verschränkte die Finger, schaute die Männer der Reihe nach an.

»Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich für euch unterwegs war«, sagte sie dann vage.

»Nun, wir denken, dass du noch immer gut im Sattel bist, wir vermuten, dass du von uns allen am unverdächtigsten bist, und außerdem meinen wir auch, dass du es Riccardo schuldig bist.«

Sie stieß die Luft aus.

»So will ich das ganz gewiss nicht sehen«, sagte sie dann schroff. »Wenn ich es mache, dann mache ich es, weil ich gegen diese Obrigkeit bin. Heute wie damals.«

Sie nahm das Manuskript in die Hand, blätterte darin, hob den Kopf.

»Wenn sie mich damit erwischen, lande ich im Canale Orfano. Vergiftet.«

»Sie erwischen dich nicht«, beteuerte Alvise. »Glaubst du im Ernst, dass wir dich um etwas bitten würden, was so gefährlich ist, dass es dich den Kopf kostet?«

»Aber garantieren könnt ihr auch nicht für diesen Kopf«, sagte sie und blätterte erneut in dem Manuskript. »Nicht mal Von der Freiheit eines Christenmenschen«, stellte sie dann fest, »nichts weiter als ein völlig beliebiges okkultes Buch.«

»Du weißt, dass sie genau diese Art von Büchern mehr ärgert als der ganze Luther«, sagte Leonardo heftig. »Die Hälfte aller Bücher auf dem Index gehören zu den okkulten Büchern.«

»Eben. Deswegen frage ich mich ja, ob ihnen das gefällt, wenn sie mich damit bei Nacht auf der Lagune antreffen.«

»Was willst du auf der Lagune, wenn du nach Padua reitest?«, fragte Marcello irritiert. »Und weshalb bei Nacht?«

»Ich habe immer einen Bogen gemacht, wenn ich nach Padua ging. Besonders, wenn ich allein war. Und ich denke doch, ich bin allein – oder gebt ihr mir wieder einen Aufpasser mit, damit ich auch gut behütet bin?«

Eine Weile war Stille.

»Du reitest allein«, sagte Leonardo dann hart. »Du bist seine Schwester. Du weißt genau, dass es für ihn jedes Mal ein Risiko war. Deine Gedanken haben ihn begleitet, wo immer er hinritt.«

»Die euren werden mich ja ganz gewiss auch begleiten«, spottete sie, »oder etwa nicht?«

»Du kannst natürlich ablehnen«, sagte Leonardo und blickte dem Flug einer Möwe nach, die laut kreischend über ihre Köpfe hinwegflog. »Niemand zwingt dich. Aber ich bin sicher, dass es gut für dich wäre.«

»Ach so«, sagte sie, stand auf, schob das Manuskript in seinem Sack in ihren Korb. »Du meinst, es wäre an der Zeit, dass ich wieder in das normale Leben einsteige«, sagte sie dann und runzelte die Stirn. »Oder in das, was man als dieses normale Leben bezeichnet. Ist das so?«

»Nein, nein, das meinen wir nicht«, sagten Alvise und Marcello hastig.

»Aber ich meine es«, sagte Leonardo mit Nachdruck, »ich meine genau das. Und jetzt möchte ich mit dir allein reden.«

»Über dieselbe Sache?«, wollte sie wissen und blickte ihn störrisch an.

»Nein, nicht über dieselbe Sache.«

»Falls ihr euch jetzt prügeln wollt, wie in euren Kinderjahren, gehen wir besser«, sagte Alvise rasch und deutete zu seinem Boot. »Wer mitfahren will, den nehme ich mit.«

»Wir prügeln uns schon lange nicht mehr wie in alten Zeiten«, erklärte Crestina freundlich, »und zuletzt haben wir uns sicher fünf Monate nicht mehr gesehen. Unsere Rauflust gehört im Übrigen schon längst der Vergangenheit an.«

»Seit sechs Monaten«, korrigierte Leonardo. »Genau seit sechs Monaten, drei Tagen und …«, er sah zur Sonne hinauf, »ungefähr zwölf Stunden.«

»Führst du etwa Buch darüber?«, fragte Crestina verblüfft.

»Wir sehen uns dann bei meiner Aufführung in Florenz«, sagte Alvise hastig und ging zum Ufer. »Wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr uns rufen. Für eine Weile sind wir ja noch in eurer Nähe, falls ihr euch nicht wie zivilisierte Menschen betragen könnt.«

Crestina ließ sich mit dem Rücken an der Mauer des Klosters niederrutschen und nahm ein Stück des gerissenen Fischernetzes in die Hand. Sie zog ihr Messer aus dem Korb, schnitt ein Stück des Schnurballens ab, der neben dem Netz lag, und nahm die Aale in die Hand.

Leonardo starrte sie an.

»Was um alles in der Welt machst du da? Und wozu brauchst du ein Messer in deinem Korb?«

»Ich flicke ein Netz«, sagte Crestina ruhig und knüpfte den Faden mit den anderen zusammen. »Und das Messer wirst du mir doch gewiss erlauben, wenn ich unterwegs bin? Ich versichere, dass es kein Küchenmesser ist, mit dem ich normalerweise Gemüse schneide.«

»Bist du ganz sicher, dass sich die Leute, denen dieses Netz gehört, darüber freuen, wenn du an ihm herumschnippelst?«, fragte Leonardo erbost.

»Ja, das bin ich«, erwiderte Crestina. »Ich kenne den Fischer. Und du weißt, dass ich Netze flicken kann.«

»Ja, ja, ich weiß, dass du eine geübte Netzflickerin bist«, spottete Leonardo. »Nimmst du auch fremde Aufträge an? Damals in deiner ganz und gar verqueren Zeit habe ich es ja verstanden, aber ich dachte, das sei endlich vorbei.«

»Du meinst, dass ich genug um Riccardo getrauert habe«, sagte sie und kniff die Augen zusammen, um die ausgebesserte Stelle des Netzes zu überprüfen.

Leonardo schüttelte betroffen den Kopf. »So war das nicht gemeint.«

»Bevor du noch mehr sagst, was du nicht so meinst, könntest du ebenso gut auch jetzt schon sagen, weshalb ich noch hier bleiben muss.«

Leonardo seufzte, trat mit dem Fuß auf und warf schließlich einen Kiesel mit flachem Schwung übers Wasser.

»Sag's«, forderte Crestina, »frag doch einfach, ob ich noch immer nicht dort gewesen bin, dann hast du es hinter dir.«

Leonardo starrte sie an.

»Und bist du?«, fragte er dann heftig.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Crestina ruhig.

»Und du weißt noch immer nicht, wann du endlich hingehen wirst?«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Dann müssen wir irgendwann in der Druckerei über die fälligen Steuern reden und über all das, was inzwischen angefallen ist«, stellte Leonardo fest.

»Der Zensus ist auch irgendwann wieder, auch wenn der Termin noch nicht exakt feststeht.« Er machte eine Pause und kniff die Augen zusammen. »Ich frage mich nur, was du dann angeben willst. Zum Beispiel bei den Herdstellen. Vermutlich acht Herdstellen und …«

»… und keine Münder und Seelen«, sagte Crestina heiter, »nicht wahr, das ist es doch, was dich belastet. Auch keine Schafe, Hühner, Schweine, Arkebusen, Gondeln und Kutschen und wie oft ich zur Beichte gehe und die Kommunion empfange.«

»Hör auf«, sagte Leonardo leise, »hör auf. Ich habe nicht so viel Zeit für diesen Unsinn. Ich muss zurückfahren.«

Crestina lachte. »Der Unsinn liegt beim Zensus, nicht bei mir. Kannst du auch nur irgendjemandem normal Denkenden erzählen, dass sie an den Mündern keinesfalls interessiert, dass es Münder sind, sondern nur, wo diese Münder geboren sind? Falls sie zu den florentinischen Mündern gehören, wird ihnen diese ganze Zählerei überhaupt nichts nützen, weil sie in Notzeiten ihr Brot ganz gewiss nicht in unserer Stadt bekommen.«

»Ich möchte abfahren«, wiederholte Leonardo mit Nachdruck. »Zum Netzflicken haben wir dich ganz gewiss nicht hergebeten.«

»Ja, schlimm, dass du mich nun auf dem Hals hast. Aber ich möchte dieses Netz noch fertig flicken«, sagte Crestina und sah sich nach einer der Fischerhütten um. »Tonio bringt mich ganz gewiss nach Hause.«

»Tonio bringt dich nicht nach Hause, wenn ich mit dir hier zusammen gewesen bin«, sagte Leonardo verärgert und lief zum Ufer. »Du wirst mit mir in meinem Boot fahren.«

»Ich könnte immerhin nach Alvise rufen«, sagte sie heiter und schaute angestrengt über die Lagune, »oder nach Marcello. Er ist so ein ewiger Trödler, dass ich ihn ganz gewiss noch erreiche mit meiner Stimme, wenn ich mir nur recht Mühe gebe. Soll ich es dir vorführen?« Sie steckte zwei Finger in den Mund und versuchte zu pfeifen.

Leonardo stieg in das Boot und streckte ihr die Hand entgegen.

»Gib dir keine Mühe, du hast es noch nie gekonnt.«

Sie schob das Netz von ihrem Kleid, steckte die Ahle in den Schnurknäuel, legte das Netz sorgfältig zusammen, wischte die Fussel von sich ab. Alles mit einer Langsamkeit, die ihr eigenes Blut zum Kochen gebracht hätte, wenn dieser Vorgang ihr passiert wäre. Dann ging sie zu ihm hinüber, ließ sich in das Boot plumpsen und lachte.

»Erinnerst du dich eigentlich noch an diesen letzten Zensus, der ja angeblich gut sein soll zur Bekämpfung der Pest, für die Steuer und den Kriegsfall? Irgendwann haben die Bauern in Parma diese Schnüffler, die ihr Vieh zählen wollten, einfach umgebracht, und das ganze Chaos, das diese Behörde zustande brachte, indem sie Männer, Junge und Alte in einen Topf warf, die Säuglinge vergaß, von der Anzahl der Leute, die auf den Galeeren rudern können, ganz zu schweigen, da niemand bereit war, sie anzugeben. Dieses ganze Chaos also kostete sie so viel Geld, dass der Doge dafür ganz gewiss sich einen neuen bucintoro hätte leisten können, da der alte schon längst nicht mehr taugt, um fremde Gäste damit zu beeindrucken.«

Leonardo bediente das Ruder mit steinernem Gesicht, ohne zu antworten.

Crestina atmete erleichtert auf. Wenigstens war dieses Treffen absolut ungeeignet gewesen, um ihr einen neuerlichen Heiratsantrag zu machen, was sie befürchtet hatte. Aber vermutlich wusste er ganz genau, dass ihre Antwort immer noch nein gewesen wäre.

Und es mit einiger Wahrscheinlichkeit auch bleiben würde.