21. Die Druckerei in der Merceria

Crestina war wochenlang nicht mehr bei Leonardo gewesen und blieb jetzt erstaunt stehen, als sie im Eingang der Druckerei ein riesiges Gepäck stehen sah: Mantelsäcke, Kisten, Truhen, Fässer, die vermutlich Bücherfässer waren. Noch bevor sie einen der Gesellen fragen konnte, kam Leonardo aus den hinteren Räumen auf sie zu und begrüßte sie. Keinesfalls jedoch so überschwänglich, wie sie dies gewohnt war.

»Es sieht fast so aus, als wolltest du verreisen«, sagte Crestina verwundert, »für länger, der Menge des Gepäcks nach.«

»Es sieht nicht nur so aus, es ist so«, gab Leonardo zu.

»Und wohin geht die Reise?«, fragte sie, mit dem unbehaglichen Gefühl, dass etwas an ihr vorübergegangen sein könnte, was sie nicht wahrgenommen hatte.

»Nach Basel«, sagte Leonardo und schob eine Kiste zur Seite, die im Weg stand. »In die Schweiz.«

»Nach Basel?«, fragte Crestina irritiert. »Und was willst du in Basel? Mit so viel Gepäck?«

Leonardo nahm Crestina am Arm, führte sie zwischen Kisten und Buchfässern hindurch und schob sie in dem Besuchsraum auf einen bequemen Sessel. Er holte eine Karaffe mit Wein aus dem Regal, goss zwei Becher voll und stellte eine Schale mit biscotti auf den Tisch.

»Ich will noch einmal etwas Neues versuchen«, sagte er dann.

Sie starrte ihn an.

»Du willst die Druckerei aufgeben?«, fragte sie alarmiert.

»Das eigentlich nicht«, antwortete Leonardo zögernd, »aber für den Augenblick will ich etwas anderes machen. Weißt du, es ist leer geworden in der Druckerei, seit Taddeo tot ist, sehr leer. Und …«, er stockte, »… ich fühle mich ziemlich einsam ohne ihn. Er fehlt mir unbeschreiblich. Und dich habe ich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Ich hatte ziemlich zu tun«, sagte Crestina, »du weißt ja, der –«

»Der Palazzo«, kam ihr Leonardo zuvor, »ja, ich weiß. Er nimmt dir viel Zeit weg, und deine beiden Freundinnen sind für dich Zeitvertreib genug. Du hast quasi eine Familie bekommen.« Er machte eine Pause und sah sie prüfend an. »Und im Übrigen hast du dich verändert.«

»Inwiefern?«, fragte Crestina betroffen.

»Flickst du immer noch Fischernetze?«, wollte Leonardo wissen.

Crestina lachte.

»In der letzten Zeit gewiss nicht mehr.«

»Gibt es dafür einen Grund?«, fragte er und trank einen Schluck Wein. »Ich meine, dass du keine mehr flickst?«

Crestina runzelte die Stirn und stellte fest, dass es ihr erst in diesem Augenblick richtig klar wurde, dass sie keine Netze mehr flickte. Ganz offensichtlich also keine mehr nötig hatte. Aber sie hatte Mühe, sich einzugestehen, dass es vermutlich mit jenem seltsamen carnevale zu tun hatte, den sie mit Renzo zusammen verbracht hatte.

»Du brauchst nicht zu antworten«, sagte Leonardo rasch, als er sah, dass sie Schwierigkeiten hatte mit einer Antwort. Er nahm einige lose Blätter von einer der Kisten, blickte sie prüfend an, als wolle er in deren Studium versinken. »Das ist auch einer der Gründe, warum ich weggehe.«

»Dass ich keine Netze mehr flicke?«, fragte sie verblüfft.

»Na ja, vielleicht war es dir ja nie klar, weshalb du diese Netze geflickt hast. Du hast diese Arbeiten gebraucht, weil sie deine Hände benötigten, nicht deinen Kopf. Ein Kopf, der dir zeitweilig im Weg war. Du wolltest dich ablenken. Aber es war zugleich auch eine Arbeit, bei der du an Riccardo denken konntest, ungestört. – War's nicht so?«

Sie seufzte, löste die Bänder ihres Hutes und legte ihn auf den Tisch.

»Ich hab mir das nie so überlegt«, sagte sie dann zögernd, »aber vermutlich hast du Recht. Nur weiß ich noch nicht, was jetzt anders sein soll.«

Leonardo lachte.

»Ich habe von mindestens drei Leuten gehört, dass du das verrückteste carnevale gefeiert hast, das nur möglich ist. Eines unter den Palisaden eines alten halb zerfallenen Palazzos, wohin dich dieser Salzhändler völlig verantwortungslos hat tauchen lassen, weshalb weiß niemand. Ich weiß auch nicht, ob es stimmt, ob es so stimmt. Vielleicht war auch alles ganz anders. Aber am nächsten Tag habt ihr auf jeden Fall irgendwo in den Salinen getanzt. Auch an carnevale. Und wieder mit diesem Salzhändler.«

»Und dass wir am dritten Tage auf seiner Kogge waren und er mich in die Wanten schickte, weißt du dann natürlich auch«, sagte sie amüsiert.

»Nein, das weiß ich noch nicht, aber ich denke, diese beiden verrückten Geschichten genügten mir eigentlich, um daraufhin meinen Schnappsack zu packen und gen Basel reiten zu wollen.«

Sie sah ihn bestürzt an, aber sie zögerte.

»Ich versteh das trotzdem nicht. Wir hatten doch all die Jahre hinweg eine sehr schöne …«

»Nein, nein!«, er füllte seinen Becher erneut und prostete ihr zu. »Wenn du der Meinung bist, dass wir eine Freundschaft hatten, eine sehr schöne, dann irrst du dich. Genau das hatten wir eben nicht. Du hattest diese Freundschaft, ich nicht. Du bildetest dir ein, du hättest für mich all die Gefühle, diese brüderlichen Gefühle, die du für Riccardo hättest haben sollen und nun mal nicht hattest. Aber ich war unmäßig, immer. Genau genommen habe ich dich ein Leben lang betrogen. Du warst nun mal keine Schwester für mich. Nie. Du warst eine Frau, die ich begehrte. Immer. Wenn wir hier in diesem Raum dort hinten in der Ecke an deiner Steuerabrechnung saßen oder an sonstigen Arbeiten, die ich für dich erledigte, dann konnte ich bisweilen kaum mehr atmen, weil ich mit dir nicht über Zahlen diskutieren wollte, sondern dich am liebsten in den Arm genommen und eine Tür weiter in meine Schlafkammer getragen hätte.«

»Das hast du mir nie gesagt«, sagte sie nach einer Weile stockend.

»So etwas sagt kein Mann zu einer Frau, wenn er genau weiß, dass seine Gefühle nicht willkommen sind.«

Crestina starrte auf ihre Hände, die sie gefaltet vor sich auf den Tisch gelegt hatte. So, als seien sie Gegenstände, die zu besichtigen waren und ihr nicht gehörten.

»Du musst dich nicht schuldig fühlen«, sagte Leonardo rasch und strich flüchtig über ihren Arm. »Niemand ist schuld daran, wenn er die Gefühle, die der andere von ihm erwartet, nun mal nicht aufbringen kann.«

»Das Schlimme ist nur, wenn der andere nicht einmal etwas über diese Gefühle weiß«, sagte sie ratlos.

Leonardo schaute sie aufmerksam an.

»Hätte das etwas geändert? Ich denke, doch wohl kaum. Und ich kann nur hoffen, dass du es beim nächsten Mal besser spürst.«

Eine Weile war Stille.

»Du meinst bei diesem Salzhändler, mit dem ich dieses verrückte carnevale gefeiert habe?«, fragte Crestina dann leise.

»Genau da. Ich weiß ja nicht, was dich an ihm stört. Etwa, dass er nur Salzhändler ist? Vielleicht nicht allzu viel von Horaz kennt? Was ich natürlich nicht weiß.«

»Nur?«, empörte sie sich. »Das ganz gewiss nicht. Und Horaz kennt er ganz sicher, er war mit Riccardo zusammen in Padua an der Universität. Aber ich bin mir einfach nicht sicher, wie ich zu ihm stehe.«

»Es heißt, da fährt in einigen Tagen ein ganze Flotte aus, die er befehligt. Nach Zypern, nach Alexandria, auf die Balearen. Man munkelt auch, dass er dich gefragt hat, ob du mitfahren willst. Und er ist ja wohl kaum nur ein Salzhändler. Er ist Reeder und außerdem Baumeister. Und er hat einen Namen hier in der Stadt, ist bekannt dafür, dass er Palazzi rettet, die andere schon aufgegeben haben.«

»Er hat mich nicht gefragt«, sagte sie heftig, »er hat ganz gewiss nicht gefragt.« Sie zögerte. »Und falls er gefragt hätte, hätte ich nicht gewusst, was ich antworten soll.«

»Dann hat er vielleicht aus dem gleichen Grund wie ich nicht gefragt. Obwohl ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass man ein solch meschuggenes carnevale, das überhaupt keines ist, mit einem Mann begeht, für den man nicht das Geringste empfindet.«

Sie stand auf, ging auf ihn zu. »Dann sehen wir uns also für eine ganze Weile nicht mehr?«, sagte sie steif.

»Ich will den Magister machen«, sagte er und blickte an ihr vorbei, »ich werde etwa für ein Jahr in Basel bleiben, was dann kommt, weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall will ich mich mit dem hebräischen Buchdruck beschäftigen.«

»Könntest du das hier nicht genauso gut oder gar besser?«

»Ja, das könnte ich, aber der römische und der venezianische Markt sind zurzeit mit Büchern übersättigt. Und ich möchte neben dem Buchdruck ein Studium. Ich möchte auch kein Karrengaul mehr sein, der nur noch im Kreis läuft, dazu fühle ich mich noch nicht alt genug. Ich brauche wohl auch die Gefahr.« Er lachte. »Und vermutlich genügt es mir nicht, bei Nacht und Nebel verbotene Bücher auf der Lagune zu transportieren, wenn einen nie jemand jagt.«

»Ist dir eigentlich klar, dass du die Stadt gar nicht verlassen dürftest? Dass es Druckern verboten ist, wegzugehen?«

Er lachte wieder. »Natürlich ist mir das klar. Aber das stört mich nicht. Vieles ist verboten in dieser Stadt, aber man tut es trotzdem.«

»Ich habe neulich Bartolomeo getroffen«, sagte sie zögernd. »Er behauptete, dass es einen Fischer gibt auf der Insel, auf der wir uns immer treffen, der alles aufschreibt. Wann wer kommt und mit wem wieder geht.«

Leonardo lachte.

»Natürlich gibt es diesen Fischer. Wir spielen ihm immer etwas vor, was er berichten kann. Wir lassen ein Boot an einer Stelle anlegen, die er bequem überblicken kann, und die übrigen von uns legen an einer ganz anderen Stelle ab. Außerdem bekommt er Geld von uns.«

»Ein Doppelagent«, sagte sie ungläubig.

»Natürlich. So naiv, dass wir uns von dieser hässlichen Spinne Bartolomeo in ihrem Netz fangen lassen, sind wir ganz gewiss nicht.«

»Aber diese Spinne ist mehr als gut informiert. Sie behauptete, dass der trippelnde Greis, dem ich in Padua das Manuskript überbrachte, keiner war und dass man ihn geschnappt habe. Es war ein Student.«

Leonardo lachte noch lauter.

»Dass der trippelnde Greis keiner war, wirst du bestimmt selber gemerkt haben, und außerdem hat man ihn überhaupt nicht geschnappt.« Er deutete auf einen Teil des Gepäcks. »Er reist mit mir nach Basel in den nächsten Tagen. Diese Spinne, sie will nichts weiter, als Angst verbreiten. Lass dich nicht davon einfangen. Eines Tages wird sie sich in ihrem eigenen Netz verstricken. Und soweit ich unterrichtet bin, wird dies in nicht allzu ferner Zeit geschehen.«

»Und Margarete, hast du ihr von diesem Plan erzählt?«

Er blickte sie irritiert an.

»Sollte ich das?«

Crestina nahm ihre Handschuhe hoch.

»Ich denke, dass es sie vielleicht interessieren könnte.«

Leonardo schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich kaum. Deine Nürnberger Freundin interessiert sich nicht unbedingt für Bücher, habe ich den Eindruck. Genauso wenig, wie ich mich für ihre holden Düfte interessiere. Wenn ich in deinen Palazzo kam, habe ich mir immer zunächst die Nase zugehalten, bis ich durch das androne hindurch war.«

Crestina lachte.

»Und außerdem habe ich kaum den Eindruck, dass sich Margarete überhaupt für Männer interessiert«, fuhr Leonardo fort. »Sie scheint mir eine sehr tüchtige Geschäftsfrau zu sein, sie mag Luxus, Abwechslung, Abenteuer und vor allem Geld. Liege ich da richtig?«

Crestina zuckte mit den Schultern.

»Mehr oder weniger schon«, gab sie dann zu. »Aber ich denke, noch ist sie genauso wenig über ihren weiteren Weg sicher, wie ich das bin. Korrekturen lesen möchte ich eigentlich auch nicht ein Leben lang und Cicero oder Catull übersetzen auch nicht. Und was die Bücherschmuggelei anbetrifft, so werden die Heimlichkeiten auf der Insel von San Giorgio ja gewiss ein Ende haben, wenn du weggehst.«

»Ich gehe nicht für immer weg. Ich habe jetzt zunächst einmal die Druckerei verpachtet und der, dem ich sie verpachtet habe, ist jederzeit bereit, auch gegen den Stachel zu locken, genauso, wie wir das alle getan haben. Und du bist selbstverständlich auch immer gern bei uns gesehen.«

»Nach meinen Erfahrungen vom letzten Mal ist mein Bedarf für diese Art von Aktivitäten zunächst einmal gedeckt.«

»Wegen dieses bockigen Pferds auf dem Weg nach Padua wirst du wohl kaum eine Sache aufgeben, die dir wichtig ist«, sagte Leonardo und begleitete Crestina zur Tür. »Was würde Riccardo denn dazu sagen!«

Sie zuckte zusammen, er sah sie prüfend an.

»Ich weiß nicht, weshalb ihr dieses seltsame carnevale gefeiert habt, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, es hatte damit zu tun.«

Crestina zuckte mit den Schultern.

»Mag sein, wir haben nie darüber gesprochen.«

»Ach ja?«, sagte Leonardo verblüfft, »das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Mach dir keine Gedanken darüber«, wehrte sie ab und küsste Leonardo auf die Backe. »Ich denke, es wird schon alles richtig werden. Für dich genauso wie für mich. Zumindest hoffe ich das.«