21. Die ›Chrestina‹

Das Einzige, was ihr blieb an diesem Nachmittag, den sie nicht zu Hause verbringen wollte, war ein zweiter Gang zum arsenale, um wenigstens die Entscheidung mit der Reederei in ihrem Kopf abzuklären.

Und vor allem, um Abschied zu nehmen von der ›Chrestina‹, von ihrem Schiff. Das Schiff, das Renzo einst auf ihren Namen getauft hatte, das Schiff, dessen Innengestaltung er ihr überlassen hatte: Sie hatte die Stoffe für die Kabinen aussuchen dürfen, sie hatte die Zahl der Einbauschränke angeben können, sie hatte die Truhen ausgewählt und die Wände mit Bildern gestaltet.

Das Schiff, auf dem sie getraut worden waren.

Und ihre Hochzeitsnacht verbracht hatten.

Unterwegs hatten sie einander oft vorgelesen in ihrer Kajüte, und – es durchschoss sie mit einem Mal – Riccardo war nicht dabei gewesen bei diesem Vorgang. Obwohl Renzo damals nach diesem verrückten carnevale, als sie einer Ehe zustimmte, gesagt hatte, dass dies sein dürfe. Dass sie ihren Bruder nun keineswegs vergessen müsse, ihn nicht mehr erwähnen dürfe, nur weil sie jetzt verheiratet waren. Und so war dieses gemeinsame Lesen in der Kajüte für sie auch kein Treuebruch gewesen, schließlich hatte sie mit Renzo nicht Vergil übersetzt und Horaz. Und sie hatte mit Renzo über alles reden können, er war nicht nur ein profitgieriger ›Salzhändler‹ gewesen, wie sie zu Beginn angenommen hatte, er hatte genauso die Universität in Padua besucht wie ihr Bruder, sogar etwas länger.

Aber die ›Chrestina‹ lag nicht am Kai.

Was sie an der Stelle fand, an der das Schiff gelegen hatte, war lediglich ein Anker, mit dem vermutlich etwas nicht in Ordnung gewesen war.

Das Schiff musste also unmittelbar gechartert worden sein, nachdem Clemens die Verfügungsgewalt über die Reederei erhalten hatte. Oder sie war verkauft worden. Clemens musste bereits vorweg einen Käufer gehabt haben, als sie zu dem Notar gegangen waren. Vielleicht daher auch seine Verlegenheit beim Abschluss dieses Geschäfts, als sie sich geweigert hatte, den Vertrag zu lesen.

Die Abwicklung hatte am vergangenen Tag stattgefunden. Sie wäre am liebsten nicht anwesend gewesen, aber natürlich war dies nicht möglich. Sie hatte ihre Unterschrift unter einen Vertrag gesetzt, ohne ihn zu lesen, was sie nie zuvor getan hatte. Und Clemens damit in Verlegenheit gebracht.

»Du kannst doch nicht einfach so …«, hatte er stockend gesagt, »… ich meine –«

»Ich nehme nicht an, dass mich mein Sohn betrügt«, hatte sie ruhig gesagt.

»Gewiss nicht«, hatte Clemens rasch geantwortet, »natürlich nicht. Nur –«

Aber sie war ohne sich von dem Notar zu verabschieden aus der Tür gegangen. Obwohl sie sich schäbig vorkam, da der Mann nichts weiter getan hatte, als seine Arbeit zu erledigen.

Jetzt war sie am Kai und fragte sich, wie man sich von einem Schiff verabschiedete, von dem lediglich der Anker übrig geblieben war. Von einem Schiff, das man geliebt hatte. Mit dem es hunderte von Erinnerungen gab.

An der übernächsten Anlegestelle am Kai lag ein Schiff, das soeben einen neuen Namen bekam. Sie sah die Farbeimer auf Deck stehen, Matrosen sangen fröhlich vor sich hin, als sie die Pinsel säuberten.

Ihr Schiff würde also vermutlich ebenfalls mit einem neuen Namen auf seine nächste Reise gehen. Sie wollte sich nicht fragen, welch ein Name dies sein konnte.

Sie hatte lediglich ihre Hand kurz auf den Anker gelegt, wobei sie sich bereits mehr als sentimental vorgekommen war.

Auf dem Heimweg wurde ihr dann zum ersten Mal richtig bewusst, was sich in diesem Büro bei dem Notar eigentlich abgespielt hatte: Es war ihr klar, dass sie nun nichts mehr besaß. Nichts von ›Wert‹, wie das so schön hieß. Natürlich gehörte ihr der Palazzo noch. Aber irgendwann würden ihre Kinder sicher auch diesen Palazzo sich aneignen wollen, ihn besitzen wollen. Sie würde nicht mehr bestimmen dürfen, wo dieser Gegenstand seinen Platz fand oder jener. Oder welcher Gegenstand es überhaupt war, der zur Diskussion stand. Sie würde weder über die Gerüche in diesem Haus entscheiden dürfen, über die Geräusche, über die Stimmen. Sie würde eine Besucherin sein in einer Welt, die sie sich einst geschaffen hatte. Und die ihr abverlangt wurde, als sei sie selbst bereits seit Äonen nicht mehr vorhanden.

Und sie fragte sich, wie eng eine Familie verknüpft war, dass solche Gefühle überhaupt entstehen konnten.