16. Ende der Messiasträume

Crestina hatte Moises Satz, dieses ›dass die Welt untergeht‹, für übertrieben gehalten. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass innerhalb dieser jüdischen Gemeinde Gräben aufgerissen werden konnten, die aufgrund dieser Messiaserwartung unüberbrückbar wurden: Rabbiner gegen die Vorsteher der Gemeinde. Dass es dem Propheten Nathan trotz des Verbotes, das Ghetto zu betreten, gelungen war, dorthin zu gelangen und dies als eine nichtjüdische Entscheidung, schien ihr nahezu absurd. Zwei venezianische Behörden hatten es verfügt. Die Kontakte mit den Juden, die verboten worden waren, fanden also statt, und das Volk forderte weiterhin seine Wunder, die der Prophet natürlich nicht vollbringen konnte.

Nathan blieb nicht länger als vierzehn Tage im Ghetto, aber sie genügten, die Situation so zu verschärfen, dass die Gemeinde kurz vor der Entscheidung stand, den Propheten zu exkommunizieren. Da es für die jüdische Reputation natürlich besser war, das Problem auf andere Art und Weise zu lösen – vor allem auch den Christen gegenüber –, verzichtete man schließlich auf diese ungewöhnlich harte Strafe und wehrte sich auf andere Art.

Nathan verließ die Stadt.

Der Traum mit dem Messias war zu Ende geträumt.

Zumindest für dieses Mal.

Als Crestina an diesem Morgen in eigener Sache ins Ghetto kam, da sie einen der jüdischen Reeder aufsuchen wollte, blieb sie entsetzt an einem der Tore stehen. Der große Platz des ghetto nuovos erschien ihr nahezu wie im Kriegszustand. Gruppen von brüllenden Menschen standen sich drohend gegenüber, ballten die Fäuste, beschuldigten sich gegenseitig, den Messias verraten zu haben, zu wenig gebetet, zu wenig gefastet, zu wenig Bereitschaft gezeigt zu haben, nach Jerusalem zu gehen. Andere artikulierten ihren Zorn gegenüber Sabbatai Zwi, der zum Islam übergetreten war, um der Folterung des Sultans zu entgehen, wieder andere erklärten sich bereit, ebenfalls zum Islam zu konvertieren, wie ihnen dies ihr Prophet Nathan aus Gaza empfohlen hatte. Wieder andere drückten ihre Verzweiflung aus, indem sie händeringend und weinend über den Platz liefen, weil sie nun ohne Messias zurückbleiben würden. Wieder einmal. Und nun ganz sicher solche schrecklichen Pogrome wie einst unter dem polnischen Kosakenführer Bogdan Chmielnicki möglich sein würden, der Unzählige ihrer Glaubensgenossen ermordet und in die Sklaverei geführt hatte. Und einen Mann zu finden, der am neunten Av geboren war, wie dies für den Messias angekündigt war und dies auf Sabbatai Zwi zutraf, würde Äonen dauern.

Crestina fand ihre Tochter inmitten der Verzweifelten auf dem großen Platz, tränenüberströmt auf dem Boden vor einer der Verkaufsbuden, die geschlossen war und verlassen schien.

»Er ist nicht gekommen«, schluchzte sie, »und sein Prophet Elijahu, dieser Nathan, hat uns verlassen. Und sie haben alles verkauft, um dem Messias nach Jerusalem zu folgen. Sie besitzen nichts mehr. Kein Bett, keinen Teller, keinen Topf, nicht mal mehr eine Sabbat-Lampe, die sie am Freitag herunterziehen können.«

Crestina setzte sich, ohne etwas zu fragen, neben ihre Tochter auf den Boden vor die verlassene Verkaufsbude, und legte die Arme um ihre Schultern.

Und weinte mit ihr.

»Und jetzt habe ich alles vergessen, was ich einmal gewusst habe«, schluchzte Bianca nach einer Weile. »Alles, was ich doch hätte wissen müssen, wenn ich hätte mitziehen wollen nach Jerusalem. Mir fallen nicht einmal mehr die zwölf Stämme ein, die hätten eingesammelt werden sollen.«

Sie machte wieder eine Pause, hob die Hand.

»Ruben, Simon, Levi, Juda – und da hört's schon auf.«

Sie sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.

»Hilf mir.«

Crestina schüttelte ratlos den Kopf.

»Ich weiß diese Stämme nicht, ich habe sie nie gelernt. Ich weiß nichts über sie.«

»Wenn du mich je geliebt hättest, wirklich geliebt, dann hättest du mit mir gelernt, hättest mich abgehört«, sagte Bianca vorwurfsvoll. »Sie sollen von allen vier Ecken der Welt jetzt eingesammelt werden, hat der Prophet gesagt.«

»Ich kann dich jetzt abhören«, erwiderte Crestina liebevoll, »du sagst sie mir, und ich höre dich ab.«

»Ich bring sie nicht mehr zusammen, das sage ich ja gerade.«

Sie legte den Finger an die Nase, dachte nach.

»Benjamin gehört dazu, Gad, Asser, Zebulun. Ja, Zebulun.«

»Gad, Asser, Zebulon«, wiederholte Crestina gehorsam.

»Mit ›u‹«, korrigierte Bianca, »Zebulun.«

»Zebulun. Und jetzt die Ersten, die dir eingefallen sind. Dann sind es schon mehr als die Hälfte.«

Bianca schüttelte den Kopf.

»Die Ersten kann ich ja noch, mir fehlen die anderen. Es könnte Naftali und Dan dazugehören und – ach, ich weiß es einfach nicht mehr. Josef, wenn ich mich recht erinnere. Und dann gibt es einen, den habe ich mir ohnehin nie merken können. Irgendetwas, was so klang wie Isfahan.«

»Also Isfahan«, wiederholte Crestina gehorsam.

Aber Bianca wehrte ab.

»Es klang nur so. Aber, ich glaube, es sind jetzt schon elf, oder?«

»Ruben, Simon, Levi, Juda«, wiederholte Crestina und zählte an ihren Fingern ab, bisweilen von Bianca unterbrochen.

»Ja, es sind elf.«

»Ich habe Hunger«, schluchzte Bianca irgendwann in die zwölf Stämme hinein, auch wenn sie nicht vollständig waren, und drückte ein Amulett an ihre Stirn. »Hast du etwas für mich zu essen?«

Es dauerte Tage, bis Bianca willens war, wieder mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ihr Bruder Ludovico brachte ihr das Essen in ihr Zimmer. Die Scham, mit ihrer Mutter zu reden, war wohl mehr als groß, nachdem sie sie so auf dem Boden sitzend im Ghetto aufgefunden hatte. Und mit dem Geburtstag der Tante in Pellestrina hatte sie auch gelogen.

Als sie schließlich in die Küche kam, blieb sie neben dem Tisch stehen, auf dem ihre Mutter soeben einen Kuchenteig in eine Form goss.

»Willst du ausschlecken?«, fragte sie freundlich und streckte Bianca die Rührschüssel entgegen.

Bianca steckte den Finger mit Teig in den Mund, ein Teil der Masse tropfte dabei auf den Boden. Bianca nahm einen Lappen und wischte es auf.

Das ist neu, dachte Crestina und runzelte die Stirn.

»Da ist ein ganz tiefes Loch«, murmelte Bianca nach einer Weile vor sich hin, während sie weiter die Teigschüssel ausschleckte und dabei auf ihre Brust deutete, »ganz tief. Verstehst du das?«, fragte sie dann und schaute ihre Mutter zum ersten Mal an.

Crestina seufzte und setzte sich auf einen Stuhl.

»Ich denke schon. Zumindest versuche ich es.«

»Und wenn du jetzt wissen willst, wie der Geburtstag bei Tante Ros in Pellestrina war: Ich war gar nicht dort.«

Crestina nickte.

»Das dachte ich mir schon.« Aber sie fragte nicht weiter.

»Ich war aber auch nicht bei Lea«, fuhr Bianca fort und schleckte weiter.

»Und weshalb nicht?«

»Ich wollte nicht, dass du Lea für alles verantwortlich machst. Es war schließlich meine Entscheidung.«

Sie hob die Schüssel an den Mund und schleckte sie aus.

»Ich war diese beiden Tage bei einem Kerzenmacher, einer streng religiösen Familie, die ich von meinen Besuchen bei Lea her kannte. Sie hatten ihren Stand auf dem großen Platz, da, wo du mich gefunden hast. Und sie gehörten zu jenen, die all ihre Habe verkauft hatten, um dem Messias nach Jerusalem folgen zu können. Aber nun haben sie nichts mehr.«

Bianca stellte die Schüssel auf den Tisch und wischte sich den Mund ab.

»Sie hätten mich auch mitgenommen nach Jerusalem.«

»Und?«

Bianca zögerte.

»Ich wollte es nicht. Ich bin ja nicht übergetreten, ich war ja nicht übergetreten. Es erschien mir dann plötzlich als Lüge. Aber ich habe zwei Tage mit ihnen gefastet, deswegen hatte ich auch solch einen Hunger.«

Crestina stand auf und schob den Kuchen in den Ofen.

»Und jetzt?«

»Jetzt?«

Bianca nahm einen Lappen und wischte den Tisch sauber.

»Jetzt gehe ich mit Margarete ins Weihrauchland«, sagte sie dann leise. »Sie hat mich dazu eingeladen.«

»Vielleicht vergesse ich ihn dann auch eines Tages«, schob sie nach und wischte sich über die Augen.

Crestina hütete ihre Zunge. Verschwieg, dass die Sache mit dem Weihrauchland ihre Idee gewesen war, und hoffte, dass es vermutlich noch eine ganze Weile dauern würde, bis diese Idee umgesetzt werden könne. Aber immerhin begann Bianca bereits am nächsten Tag aufzulisten, was sie an Kleidern für die Wüste nötig hätte. Und sie lobte die Idee, dass sie nun ganz gewiss kein enges Leibchen mehr brauchen würde.

Crestina schüttelte den Kopf. Kein enges Leibchen mehr für die Wüste. So einfach sollte das alles sein?