8. Der Fondaco der Deutschen

Crestina hatte den fondaco tedesco, das ›Deutsche Haus‹, in dem die deutschen Kaufleute wohnten, soeben erreicht, als ihr klar wurde, dass sie die Nummer von Margaretes Kammern vergessen hatte. Da von einem portinaio, der angeblich am Eingang stehen sollte, nichts zu sehen war, und es außerdem soeben angefangen hatte zu regnen, durchquerte Crestina rasch den Innenhof des Gebäudes, in dem sich lärmende Ballenbinder und Händler drängten. Sie stieg über eine breite Treppe in den ersten Stock hinauf und ging dann von Tür zu Tür. Sie glaubte sich zu erinnern, dass in der Kammernummer eine Acht vorkam. Außerdem war sie ganz sicher, diese Kammern, die Margaretes Eltern gehörten, auch schon aus der Ferne wahrzunehmen.

»Uns riechst du schon von weitem«, hatte Margarete lachend erklärt. »Sämtliche Düfte des Orients laufen bei uns zusammen.«

Als sie feststellte, dass sie weder den Geruch des Orients finden konnte, noch eine Tür mit einer Acht darauf, stieg sie ein weiteres Stockwerk hinauf. Sie zwängte sich zwischen Ballenbindern und ernsthaft blickenden Männern hindurch, deren Gespräche sich um Geschäfte der verschiedensten Art drehten: monti di pietà, Pfanddarlehen, Großkredite, Wucher, Schuldscheine.

Crestina atmete erleichtert auf, als sie endlich eine Tür entdeckte, die zwar auch keine Acht auf ihrem Schild aufwies, aber immerhin geöffnet war. Bevor sie jedoch klopfen konnte, wusste sie bereits, dass die Leute in dem Zimmer, die im breitesten Schwäbisch redeten – das sie von ihrem Aufenthalt in Deutschland her kannte –, ganz gewiss nichts mit den Nürnberger Helmbrechts zu tun haben konnten.

»I houn halt denk, dass i da glei gar net nagang, weil mei Italienisch schlemmer isch als d'Fildersprach.«

»Ond näemer ka deutsch«, fügte dann einer der Männer entrüstet hinzu.

Außerdem roch es nach Sauerkraut und nicht nach dem Duft des Orients.

Sie stieg enttäuscht in den dritten Stock hinauf, zwei Ballenbinder drückten sie rüde an die Brüstung des Geländers, und Gerüche schien es hier überhaupt keine zu geben. Wieder ging sie von Tür zu Tür, um diese vermutete Acht zu finden, doch dann hörte sie plötzlich Schritte hinter sich.

»Sucht Ihr jemand Bestimmtes?«, fragte ein Mann, der vor einer der Türen gestanden hatte und aufmerksam in die Runde blickte.

Crestina atmete erleichtert auf.

»Ich suche meine Freundin, sie wohnt in Kammern mit einer Acht auf der Tür, wenn ich das recht in Erinnerung habe.«

Der Mann sah sie prüfend an und, wie es ihr schien, ein wenig betroffen.

»Und wie heißt Eure Freundin, woher stammt sie?«, fragte er dann höflich.

Crestina erklärte bereitwillig, dass sie zu Margarete Helmbrecht wolle, deren Familie aus Nürnberg stamme und die hier im fondaco tedesco ihre Kammern habe.

Der Mann schien aufzuatmen.

»Ich bringe Euch zu ihr«, sagte er dann bereitwillig. »Ihr habt die Nummer gewiss übersehen.«

»Oh, ich möchte Euch nicht aufhalten«, wehrte Crestina ab. »Ich frage mich schon durch.«

Der Mann lächelte leicht und meinte, es sei besser, wenn er sie hinbringe, damit sie sich nicht noch einmal verlaufe.

Sie stiegen die beiden Stockwerke wieder hinunter, gingen einen Gang entlang und bogen um die Ecke, die in den vorderen Teil des fondaco tedesco führte, den sie bei ihrer Suche ausgespart hatte. Der Mann deutete auf eine Tür, die einen Spalt geöffnet war, aus dem laute Stimmen zu hören waren. Außerdem war endlich der versprochene Duft des Orients zu spüren.

»Es ist hier«, sagte Crestina erleichtert und bedankte sich herzlich. Sie ging auf die Tür zu. Der Mann blieb einen Schritt hinter ihr stehen.

»Ich höre bereits die Stimme meiner Freundin«, sagte sie irritiert, als der Mann versuchte, sich weiterhin an ihre Fersen zu heften.

»Sie werden ihn vermutlich wieder einmal gefälscht haben, Duschkani ist es auf jeden Fall nicht«, hörte sie dann eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Von der Person sah sie allerdings hinter einer gigantischen Kiste nur einen kleinen Ausschnitt: Ein fülliger Mann, dessen Rock aussah, als wolle er in Kürze aus den Nähten platzen. Der Mann, zu dem die Stimme gehörte, hatte die Nase tief in eine winzige Schüssel vergraben und versuchte etwas einzuatmen, wobei es sich scheinbar um den Duft von Safran handelte.

Noch bevor sie die nächste Stimme zuordnen konnte, hörte sie unbändiges Gelächter.

»Stufe!«, prustete eine Männerstimme, »Stufe! Was für ein Wort! Es heißt also noch immer so wie damals, als ich vor zwanzig Jahren hier war.«

Crestina blickte sich um, der Mann, der sie hergebracht hatte, stand noch immer hinter ihr und machte ihr jetzt mit einer Handbewegung klar, dass sie weitergehen solle. Sie zögerte, der Mann hinter ihr räusperte sich. Dann machte sie einen Schritt nach vorne, sodass sie den Raum wie eine Bühne vor sich hatte. Sie sah drei Personen, die verwundert aufblickten: eine Frau, zwei Männer. Sie gebärdeten sich wie eine Schauspielgruppe bei der Commedia dell'Arte. Der Mann, der auf einem Stuhl saß und sich vor Vergnügen auf den Schenkel schlug und dabei ein Flakon durch den Raum schwenkte, aus dem ein betörender Duft aufstieg, konnte nur Schreck sein, der Bruder von Margaretes Mutter. Seine gewaltige Perücke war wie üblich leicht nach vorne verrutscht, das Gesicht vom Alkohol noch aufgedunsener als damals, als sie ihn in Nürnberg kennen gelernt hatte. Sein Gewand wirkte auch jetzt wieder, als habe ein Maler den Rest seiner Palette auf ihm verteilt, ohne sich darum zu kümmern, was dabei entstehen würde. Ein arlecchino.

Die Frau erinnerte sie an ein unter dem Sattel weich gesessenes Stück Fleisch, zäh und kaum mehr genießbar, oder an eine gedörrte Pflaume, die zu lange auf der Dörre gehangen hatte. Sie stand am Fenster, die kurzsichtigen Augen zusammengekniffen über die Klinge eines Floretts gebeugt, die sie gekrümmt hatte und dann mit einem leisen Zischen zurückschnellen ließ.

Der Mann mit der Nase in der Schüssel war Lukas Helmbrecht. Sie erkannte ihn sofort, als er den Kopf wendete, auch wenn er mit seiner früheren Figur ganz gewiss nichts mehr zu tun hatte.

Nürnberg war gekommen.

Ein Nürnberg, das fünf Jahre zurücklag, eine Stadt, an die sie in jüngster Vergangenheit kaum mehr gedacht hatte. Sie konnte sich noch immer nicht von dem Anblick lösen, erwog für einen kurzen Augenblick die Flucht, dann hatte Schreck sie entdeckt. Er sprang auf, machte einen Kratzfuß.

»Soso, hier ist sie also, unsere kleine Puritanerin, Mona Crestina.«

Im gleichen Augenblick sah sie, wie der Vorhang zu einer Nebenkammer hastig zurückgerissen wurde, Margarete kam herausgestürmt, umarmte sie, blieb mit dem Arm um ihre Schulter stehen, als wolle sie Crestina beschützen. »Meine Familie ist früher gekommen, als ich dachte«, sagte sie dann leise und schaute befremdet zu der Tür, vor der der junge Mann, der die Freundin hergebracht hatte, noch immer stand.

»Ich hoffe, es hat alles seine Richtigkeit«, sagte er prüfend und blickte in die Runde, die ihn inzwischen verblüfft betrachtete. »Ich fand Euren Besuch im dritten Stock.«

»Im dritten Stock?«, fragte Lukas stirnrunzelnd, »wieso im dritten Stock?«

»Ich hatte die Nummer der Kammer vergessen«, sagte Crestina verlegen, »ich wusste nur noch, dass es vermutlich irgendetwas mit einer Acht zu tun hat.«

Die Anwesenden blickten starr auf den Boden.

»Ich will hoffen, dass alles seine Richtigkeit hat«, sagte Margaretes Mutter mit zusammengekniffenen Augen und bedankte sich bei dem Mann, der sich daraufhin zurückzog, »es wird gewiss nicht wieder vorkommen.«

Sie sah zu Margarete hinüber und verzog das Gesicht.

»Musst du dich wirklich für das Früherkommen deiner Familie in unserer eigenen Kammer entschuldigen?«, fragte sie dann spitz. »Du weißt genau, dass wir immer früher kommen als angekündigt, weil wir nur dann sehen können, ob auch wirklich gearbeitet wird. Weißt du das nicht mehr?«

Margarete nahm Schreck das Flakon aus der Hand, stellte es in ein Regal auf das oberste Brett. »Bevor du es umwirfst und es dann wirklich bei uns wie in der ›Stufe‹ riecht. Ich bin eine ehrbare Frau.«

»Oho, meine Nichte versucht mir beizubringen, was Sitte ist«, sagte Schreck prustend, »dabei ist sie kaum aus den Windeln heraus.«

Crestina, die sich am liebsten gleich wieder verabschiedet hätte, blickte irritiert von einem zum anderen. Schreck nahm das Flakon wieder aus dem Regal und hielt es Crestina unter die Nase. »Riecht!«, befahl er dann.

Crestina roch gehorsam, roch ein zweites Mal.

»Die Engländer nennen es honeysuckle«, sagte sie dann zögernd, »Geißblatt.«

»Honeysuckle?«, wiederholte Schreck verblüfft, »das habe ich noch nie gehört.«

»Es ist sehr intensiv«, sagte Crestina und sah mit einem kurzen Seitenblick zu Lukas hinüber, der sie beobachtete. Sie roch ein drittes Mal, war froh, dieses honeysuckle begutachten zu dürfen, da ihr nichts einfiel, was sie nach fünf Jahren zu einem abgewiesenen Liebhaber hätte sagen können, dessen einziges tiefes Gefühl damals die Eifersucht auf ihren Bruder gewesen war.

Wenn sie mich jetzt nach Riccardo fragen, gehe ich in der Sekunde, dachte sie.

Aber es fragte sie niemand nach Riccardo. Es war nur wie ein Summen in einem Bienenstock, bei dem man nicht weiß, wann wer gestochen wird.

Lukas betrachtete sie weiterhin mit starrem Gesicht, ohne ein Wort zu sagen. Er hielt die Schüssel mit dem angeblich gefälschten Safran noch immer in der Hand, suchte nach einem Platz, auf dem er sie abstellen konnte. Als Margarete ihn schließlich davon befreite, schüttelte sie den Kopf. »Es ist Crestina, lieber Bruder, wach endlich auf«, sagte sie, »falls du das vergessen haben solltest. Crestina Zibatti aus Venedig. Und man begrüßt sich auch in Venedig, wie es sich gehört, mit einem Handschlag.«

Crestina streckte die Hand aus, versuchte, sie Margaretes Mutter entgegenzuhalten, die sie mit einem kurzen harten Händedruck aber sofort wieder entließ. Lukas Helmbrecht schluckte, schob den Finger zwischen Kragen und Hals, um die Halsbinde zu lockern, aber noch immer brachte er keinen Satz über seine Lippen. Schreck sprang auf, stürzte sich auf Crestinas Hand, zerquetschte sie beinahe. »Seid uns willkommen, schönes Kind«, sagte er dann überschwänglich.

Crestina hatte den Eindruck, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Der betäubende Duft in dem kleinen Raum, die Gerüche der übrigen Gewürze, die in kleinen Schalen in den Regalen standen, der Körpergeruch dieses ungehobelten Mannes, Schreck, von dem es hieß, er wasche sich nur, wenn er zu einer Frau gehe, ansonsten sei ihm sein Geruch völlig egal. Seine Geschäftspartner wollten über Hellebarden reden und über Munition, nicht über Wohlgerüche.

Crestina versuchte den Schleier zu zerreißen, der sich über den Raum gelegt hatte, ihre Erinnerungen waren aber nur noch vage. Sie sah sich stehen in einem nach Essig duftenden Keller, tief unter dieser Stadt Nürnberg, von Lukas Helmbrecht an die feuchte Felswand zwischen zwei Essiggurkenfässer gedrängt, eine Antwort erwartend auf sein Angebot, ihn zu heiraten. Sie sah sein vor Zorn gerötetes Gesicht näher kommen, ganz langsam, quälend, dann der plötzliche Vorstoß auf ihren Mund, wie ein Habicht, der sich in Sekundenschnelle auf sein Opfer herabstürzt. Sie sah ihre rasche Gegenbewegung, gerade noch zur rechten Zeit, sodass der Kuss verrutschte und damit keinerlei Gewicht mehr hatte. Der Kuss ihres Angetrauten, in der Luft hängend, von Essigdüften getränkt. Dann ihre Flucht, die endlosen Stufen hinauf ans Tageslicht der Stadt, ihr Würgereiz, wegen des Essigs oder dieses Habichtskusses, sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass sie in eine Badstube rannte und sich ihre Haare waschen ließ, zum Befremden der Badmagd dreimal hintereinander.

Hinter ihr begann inzwischen ein Gespräch über Streithämmer, Lunten, Wurfmaschinen, Zündschnüre, Hakenbüchsen – Worte, die wie im dichtesten Novembernebel nur noch gefiltert zu ihr durchdrangen. Dazwischen ertönte die spitze Stimme der Mutter Margaretes.

»So viel steht fest: Solange das ›N‹ und der Adler nicht auf die Musketen gepunzt sind, sind es eben keine Nürnberger Waffen.«

Sie nahm an, dass Lukas ihr inzwischen die Hand gereicht hatte, vermutlich widerwillig, sie hatte es kaum wahrgenommen, aber da er ihr inzwischen eine kleine Schale mit Safran unter die Nase hielt und fragte, ob sie ihn noch erkenne, musste es wohl geschehen sein. Und als sie ohne nachzudenken sagte: »Zima des Bullia«, war sie selbst über die Maßen verblüfft, dass es offenbar richtig war und Schreck Beifall klatschte.

Die Gespräche gingen weiter. Gefälschter Safran, Essenzen, die in der ›Stufe‹ von den Huren in Venedig benutzt wurden, Hackenstahl anstelle von Kernstahl, den sich Schreck offenbar schon wieder einmal hatte andrehen lassen – es war alles wie damals: Venedig, das Sündenbabel, und Nürnberg, die ehrliche, redliche Stadt, die Luther gehörte, mit Haut und Haaren. Übergetreten von einem Tag zum anderen, die Köpfe getauscht, als habe zuvor nie etwas anderes in ihnen existiert. Crestina hatte das Gefühl, als hätten sie ihr mit diesen wenigen Sätzen das ganze verruchte Venedig wie einen Mühlstein um den Hals gehängt. Ein Mühlstein, an dem sie gewaltigen Anteil hatte, obwohl sie weder mit gefälschtem Safran noch mit Essenzen zu tun hatte, die in den Frauenhäusern benutzt wurden. Eine Erkenntnis, die sie in die Normalität zurückführte.

»Ihr wollt Euch gewiss über Geschäfte unterhalten«, sagte sie freundlich. »Ich fürchte, ich störe hier. Ich wollte nur Margarete besuchen.«

»Am helllichten Morgen?«, sagte Lukas' Mutter mit spärlichem Lächeln, »wir pflegen zu dieser Zeit keine Besuche zu machen. Wir machen Geschäfte.«

Geschäfte. Es war genau diese Welt, die sie damals abgestoßen hatte. Diese Drahtzieherwelt, die aus Metall zu bestehen schien, eine eiskalte Welt. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie Schreck kennen gelernt hatte, das zerhackte Blei vor ihnen auf dem Tisch, seine schon krankhafte Begeisterung darüber, wie diese wunderbare neue Waffe auf Menschen wirken würde und wie und wo diese Menschen dabei sterben würden.

Lukas streckte Crestina die Hand entgegen, sagte dann mit freundlichem Gesicht, sie habe sich nicht verändert. Ein Satz, der nicht eben dazu geeignet war, ihn an Lukas zurückzugeben, bei dessen Körperumfang.

»Ich hörte, du seist ein großer Geschäftsmann geworden«, sagte sie daher und bemühte sich, Freundlichkeit in ihre Stimme zu legen.

Lukas winkte ab. »Gar so groß nun wiederum auch nicht«, erwiderte er dann leicht verärgert, »es gibt einen, der größer ist.«

»Das wird er nicht mehr lange sein«, sagte Schreck plötzlich hellwach. »Wir werden ihm sein Handwerk schon legen. Wenn erst der neue Faktor wirksam wird –«

»Wenn«, unterbrach Lukas' Mutter hart und schaute zu Margarete hinüber, »wenn …«

»Ich heirate keinen Mann, nur weil er unser Imperium abrunden soll«, sagte Margarete störrisch und stellte das Flakon ein zweites Mal ins Regal zurück. »Zumal, wenn er so aussieht wie dieser Hansjörg Kramer. Schließlich gehe ich davon aus, dass ich ihn ein ganzes Leben lang anschauen muss.«

Crestina blickte sie verwundert an.

Also doch etwas, worüber neulich zu reden gewesen wäre, dachte sie dann. Nun ja, sie hatten ja noch Zeit, das zu tun.

»Deine störrischen Haare sind nicht eben ein Attribut von Schönheit, und deine pickelige Haut muss einem Mann ebenfalls nicht unbedingt gefallen«, sagte die Mutter bissig. »Und dass du den Abakus besser beherrschst als mancher Geschäftsmann, gefällt auch nicht gleich jedem.«

»Aber meine Stimme ist angenehm«, trumpfte Margarete auf und sah dann erschrocken zu Crestina hinüber.

»Entschuldige, es gefällt dir wohl kaum, dass wir uns hier abnagen. Du bist kaum ein paar Minuten im Raum und schon lassen wir alle Hüllen fallen. Aber das bist du ja gewöhnt, von früher her«, fügte sie dann mit einem maliziösen Lächeln hinzu.

»Ich muss in die Druckerei«, sagte Crestina hastig und wandte sich zum Gehen. »Ich werde erwartet.«

Schreck hielt sie am Arm zurück.

»Meine Schwester hat die Absicht, einen Palazzo zu kaufen«, sagte er dann und kniff die Augen zusammen. »Könnt Ihr uns dabei helfen?«

Crestina pflückte seine Hand von ihrem Arm wie ein lästiges Insekt und lächelte in die Runde.

»Einen Palazzo«, sagte sie gedehnt, »nun, Ihr dürft sicher sein, dass man ihn nicht am Rialto kaufen kann wie einen Fisch oder baicoli, diesen Palazzo. Und ich bin vermutlich die Letzte, die Euch dabei helfen kann, weil mich so etwas überhaupt nicht interessiert. Geht zu einem Advokaten.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr eben solch einen Palazzo besitzt, ungenutzt«, sagte Schreck und fixierte Crestina, »oder täusche ich mich da?«

»Es ist kein Palazzo«, korrigierte Crestina, »es ist eine casa. Nur der Doge besitzt einen Palazzo.«

»Aber man nennt diese Häuser doch schließlich so«, sagte Schreck gereizt, »oder etwa nicht?«

Crestina zuckte mit den Schultern.

»Das hat keinerlei Bedeutung. Und ich besitze zwar einen, aber er steht ganz gewiss nicht zum Verkauf an.«

»Warum nicht?«, fragte Lukas' Mutter, bog wieder die Klinge des Floretts und ließ sie dann mit einem lauten Zischen zurücksausen. »Sind Eure Gulden hier in Venedig mehr wert als unsere aus Nürnberg?«

Lukas trat auf Crestina zu und reichte ihr die Hand.

»Lasst Euch nicht von meiner Familie in die Enge treiben«, sagte er dann entschieden. »Was mich betrifft, so brauche ich keinen Palazzo, und immerhin habe ich da auch noch ein Wort mitzureden.«

»Eines«, sagte Schreck grob, »aber es gibt zwei andere Wörter, die Gewicht haben. Unsere nämlich, meines und das meiner Schwester. Also zwei gegen einen, oder sehe ich das falsch?«

»Ich muss gehen«, sagte Crestina hastig und verneigte sich kurz, »und über den Palazzo brauchen wir keinen weiteren Disput, ich werde ihn ganz gewiss nicht veräußern.«

Sie verließ den Raum, hatte den Eindruck, als verfolge sie die Stille, die sie über diese Leute gebracht hatte, über den gesamten Innenhof des Gebäudes hinweg. Am Ausgang holte Margarete sie ein, die Familie nur wenige Schritte hinter ihr. »Ich bringe dir heute Abend ein paar Fische mit«, sagte sie hastig, »dann erklär ich dir alles.«

»Du brauchst nichts zu bringen«, wehrte Crestina ab, »meine Nachbarin hat mir schon zwei Tauben versprochen.«

»Und natürlich hast du jetzt tausend Fragen«, sagte Margarete, als sie am Abend Crestinas Wohnung betrat. »Tut mir Leid, du musst heute ja gedacht haben, du bist mit Leuten zusammen, die alle nach San Clémente gehören«, sagte sie dann, stellte ihren Korb auf den Tisch und hängte ihren Umhang an den Haken. »Ich hätte dich vielleicht abholen sollen, aber ich dachte, der portinaio wird dir den Weg zeigen.«

»Es war keiner da«, erklärte Crestina. »Tut mir Leid. Und ich hatte nichts weiter als diese Acht in Erinnerung behalten.«

»Und genau das war das Verhängnis. Ich fürchte, ich muss dir eine ganze Menge erklären, über dieses Deutsche Haus, diesen fondaco, vor allem. Ich erzähle es dir, obwohl ich es nicht erzählen dürfte. Aber da ich nicht, noch nicht, zur Gemeinde gehöre wie meine gesamte Familie, kann ich es tun, ohne gleich ein ganz schlechtes Gewissen zu haben. Ich habe übrigens trotzdem einen Fisch mitgebracht, einen Aal, den ich zwar nicht besonders mag, weil es immer heißt, die Fischer fangen ihn im Canale Orfano.«

Crestina lachte. »Das ist nichts weiter als eine Mär. Du wirst ja gemerkt haben, dass der Verkäufer dazu spitzbübisch gelacht hat.«

»Das hat er«, gab Margarete zu, »und da die Frau, die neben mir stand, auch einen Aal gekauft hat, dachte ich mir, dass es vermutlich nicht stimmt.«

»Außerdem hat die Behörde auch nicht gerade jeden Tag eine vergiftete Leiche, die an dieser Stelle in der Lagune versenkt wird«, sagte Crestina lachend. »Und im Übrigen haben wir starke Gewürze. Und überhaupt bin ich dankbar, dass du ihn gebracht hast, die Nachbarin hat die Tauben vergessen.«

»Na ja, Gewürze sind ja schon meine Sache«, erwiderte Margarete und wickelte ein kleines Bündel von Kräutern aus, »aber ich habe nicht so viel Erfahrung mit diesem Fisch wie du. Also, man soll ihn waschen, reinigen und dann in Stücke schneiden, ist das richtig?«

»Ja, das stimmt, aber du musst darauf achten, dass ein Stück das andere noch berührt«, sagte sie dann und begann den Herd vorzubereiten.

»Also, vermutlich hast du gedacht, dass dieser junge Mann die Ausgeburt von Neugier ist, weil er dir nicht von den Fersen wich. Und dieses Getue um die Acht war sicher auch mehr als seltsam«, sagte Margarete und begann die Kräuter zu hacken. »Aber bevor ich ins Detail gehe, möchte ich dich fragen, ob du dich noch daran erinnerst, was du damals in Nürnberg gesagt hast, nämlich, dass du nichts darüber weißt, was in diesem fondaco tedesco eigentlich vor sich geht. Fest steht auf jeden Fall, dass dies keinesfalls – wie man die Leute glauben machen möchte – nur eine harmlose Gruppe von Kaufleuten ist, die da ihre Geschäfte macht.«

»Ich sagte, dass es die Lutherischen hier bei uns offenbar gar nicht gibt, weil man nichts von ihnen weiß und nichts von ihnen hört«, erklärte Crestina und schnitt das Gemüse klein. »Aber seit Riccardo tot ist, hatte ich mit dem fondaco gewiss nichts mehr zu tun.«

»Du hörst deshalb nichts von uns, weil es uns wirklich nicht gibt«, sagte Margarete und stützte die Arme auf den Tisch, »wir leben nämlich wie die Maulwürfe, unter der Erde.«

Crestina legte das Messer zur Seite.

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, dass wir wie eine Geheimgesellschaft leben, wie zum Beispiel die ›Bruderschaft der drei Rosen‹ oder der ›Pegnesische Blumenorden‹ oder die ›Macaria‹, wobei ich nicht weiß, ob man es wirklich damit vergleichen kann. Auf jeden Fall ist alles geheim, auch wo wir zusammenkommen. Wenn nicht hier, dann abwechselnd in irgendwelchen Häusern von Gemeindemitgliedern.«

Crestina nahm das Messer wieder auf. »Das musst du schon ausführlicher erzählen, so begreift man gewiss nichts.«

»Nun, das heißt, dass wir zwar hier einen Betsaal haben, aber dass das niemand wissen darf. Das heißt, dass wir einen Prediger haben, aber den zeigen wir gewiss nicht herum. Das heißt, dass wir einen Gottesdienst haben, aber der ist nur ein kastrierter Gottesdienst, weil nicht gesungen werden darf, denn schließlich haben die Wände Ohren. Das heißt außerdem, dass du, wenn du zu dieser Gemeinde gehörst, was selbstverständlich nicht alle tun, aber meine Familie gehört natürlich dazu, auf die Kirchenordnung schwören musst. Mich haben sie bis jetzt noch nicht eingefangen. Ich bin ihnen noch nicht vernünftig genug für eine Aufnahme, was mir allerdings gerade recht ist, so entgehe ich dem Joch noch, zumindest für kurze Zeit.«

Crestina hatte aufgehört, das Gemüse zu schneiden, Margarete legte die Abfälle des Aals in eine Schüssel und kippte sie dann aus dem Fenster in den Kanal. »Der ist aber gewiss schon lange nicht mehr ausgehoben worden«, sagte sie dann naserümpfend.

»Ob ausgehoben oder nicht, bei uns stinkt es immer, nicht nur bei Niedrigwasser«, erklärte Crestina mit aller Selbstverständlichkeit. »Im Hochsommer ist es manchmal fast unerträglich.«

»Den Mann, den du bei deiner Suche nach den Kammern mit der Acht kennen gelernt hast, war übrigens der Prediger, den wir geheim halten. Daher unser seltsames Verhalten. Und die Nummern des Betsaales sind einundachtzig und zweiundachtzig, deshalb die Panik. Es war ja wohl klar, dass du der Sprache nach Venezianerin bist und daher Katholikin. Und daher in jedem Fall jemand, den wir voller Misstrauen betrachten, wenn er hier in unseren Stockwerken herumschnüffelt. Den letzten Prediger, den wir hatten, hat uns die Inquisition weggeschnappt.«

»Umgebracht?«

»Nein, das nicht gerade«, wehrte Margarete ab, »aber er wurde des Landes verwiesen und darf nie mehr hierher kommen.«

»Und weshalb bist du nicht in der Gemeinde?«

»Ich bin ihnen nicht sicher genug bis jetzt, trotz meiner vollkommen astreinen Familie. Sie sind sich noch nicht im Klaren, wo sie mich einstufen sollen, ob ich fähig bin oder bereit bin – was auf das Gleiche herauskommt –, all ihre Gebote und Verbote, die sie aufgestellt haben, auch in Demut zu erfüllen.«

»Welche?«

»Also, du darfst, wenn du am Sonntag zum Gottesdienst in diesem Betsaal warst, mitnichten wie normale Kirchgänger in einer kleinen Gruppe hier aus dem Haus gehen und auf San Marco noch ein wenig mit Freunden zusammenstehen und dich unterhalten. Du musst einzeln den Saal verlassen, dann einzeln den Innenhof überqueren, dann einzeln brav und sittsam deinen Heimweg antreten. Alles allein. Was es sonst noch für Vorschriften gibt, habe ich vergessen, aber du darfst sicher sein, es gibt sie.«

Crestina legte den geputzten Fisch in die Pfanne, zuckte mit den Schultern.

»Du wirfst es ihnen vor, eigentlich müsstest du es mir vorwerfen.«

»Dir?« Margarete nahm zwei Teller aus dem Regal, holte aus ihrem Korb einen Krug mit Wein. »Wieso?«

»Nun, wir, diese serenissima, diese ›Heiterste‹, sie ist doch daran schuld, dass dies alles so kompliziert ist, wie du es schilderst, und –«

»Wenn du es genau wissen möchtest, es ist noch viel komplizierter. Und noch würdeloser«, empörte sich Margarete. »Unsere Kinder, die sterben, dürfen nicht im gleichen Grab begraben werden wie die Eltern. Sie verweigern den Nichtkatholiken einen Platz in der Kirche nebenan, die für uns zuständig ist, sie wollen unsere Toten in ungeweihter Erde begraben, weil sie der Meinung sind, dass Lutheraner überhaupt keine Christen sind, sie machen …«

Crestina starrte Margarete an, verbrannte sich dabei die Finger am Herd.

»Tu Öl drauf«, sagte Margarete und nahm ein Tuch aus ihrem Beutel, »oder Mehl.«

Sie verbanden Crestinas Finger, setzten sich dann an den Tisch, auf dem Crestina bereits eine Minestrone in kleine Schüsseln gefüllt hatte.

»Wir können schon essen, der Fisch braucht ohnehin noch eine Weile«, sagte sie. »Für mich ist das alles schrecklich, ich wusste nichts von all dem.«

»Du solltest mal diese schrecklichen Streitgespräche hören, die es fast bei jedem Todesfall hier im Deutschen Haus gibt. Natürlich gibt es auch deutsche Katholiken im fondaco, die bekommen selbstverständlich das ihnen zustehende Grab in der Kirche hier hinter dem fondaco, aber für alle Übrigen muss die Familie kämpfen. Vor einiger Zeit mussten Gräber exhumiert werden, weil kein Platz mehr auf der Insel war, die sie uns gegeben hatten, dann haben sie unsere Toten, gerade so, wie sie waren, also schon halb verwest, auf einen anderen Friedhof gelegt und sie einfach liegen lassen, ohne sie zu begraben.«

Crestina legte den Löffel zur Seite und hielt sich den Magen.

»Entschuldige«, sagte Margarete und legte die Hand auf den Arm der Freundin, »ich vergesse mich wieder einmal. Kein Wunder, dass sie mich bis jetzt nicht haben wollen für ihre Gemeinde, ich vergesse mich sofort, wenn ich irgendwo Unrecht wittere. Und wenn ich erfahre, dass wir Nichtkatholiken, also die Calvinisten, die Reformierten, die Lutherischen und was weiß ich noch für Andersgläubige, die es selbstverständlich auch noch gibt, nicht einmal untereinander Frieden halten können, dann ist das für mich besonders schlimm.«

»Ihr solltet einen eigenen Friedhof haben«, sagte Crestina und goss den Wein ein, »das müsste doch eigentlich möglich sein.«

»Das streben wir auch an, aber die Behörden brauchen Ewigkeiten, bis sie etwas erlauben. Beim Verbot sind sie rasch. Wenn ich nur denke, wie diese seltsame Behörde, diese esecutori contro la bestemmia, erst vor kurzem wieder ein Gesetz gegen die angebliche Gotteslästerung erlassen hat, kannst du dir das überhaupt vorstellen?«

Sie aßen den Fisch, das Gemüse, die Salsa, Crestina stellte zum Abschluss biscotti auf den Tisch, die sie schweigend verzehrten.

»Kein sehr heiteres Mahl«, sagte Margarete und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Aber ich durfte nicht einmal Taufpatin sein bei einem Kind, das aus einer Familie stammte, mit der meine Mutter befreundet war. Eine Ungläubige!«

»Wie lange wirst du hier überhaupt bleiben wollen?«, fragte Crestina.

»Du meinst hier im fondaco?«

Crestina nickte. »Ja, natürlich hier.«

»Ich wohne ja nicht hier«, erwiderte Margarete, »nur Lukas und Schreck. Frauen haben kein Wohnrecht in dieser Männergesellschaft. Ich habe eine Stube bei den Wollarbeitern. Meine Mutter lebt in irgendeinem Gasthof in der Stadt.« Margarete lachte. »Du weißt ja, sie reist mit eigener Bettwäsche, weil es ihr in eurer Stadt nicht sauber genug ist. Aber ich mag nun mal diese Stadt. Ich mag sie sehr. Und manchmal stelle ich mir vor, dass ich für immer in ihr leben könnte, einen Beruf ausüben, nur für mich allein.«

»Als Safranverkäuferin?«

»Nein, nein«, wehrte Margarete ab, »gewiss nicht als Safranverkäuferin, damit bin ich ja aufgewachsen. Ich möchte etwas Neues anfangen. Etwas ganz Neues. Etwas, das nur mir gehört, das deutete ich ja neulich bereits an.« Sie lachte, trank einen Schluck Wein und prostete Crestina zu.

»Irgendetwas wird mir schon einfallen, wenn die Zeit dafür gekommen ist, da bin ich ganz sicher.« Sie legte den Finger an die Nase, dachte nach. »Ich hoffe, dass es etwas Verwegenes ist. Etwas, was bisher noch keine Frau gemacht hat.« Sie lachte. »Und etwas, womit ich sie alle vor den Kopf stoßen kann. Vielleicht mit Zibet.«