23. Zypern – Die Frau des Salzhändlers

Die Stadt war zu dieser frühen Stunde des Morgens eine Stadt der Arbeitenden. Noch nie hatte Crestina, wenn sie zu dieser Zeit unterwegs gewesen war, eine der kleinen Gondeln gesehen, in denen gerade zwei Menschen Platz hatten, von denen der eine stets eine Frau war, die eine Maske trug, um nicht erkannt zu werden von ihrem Tun der Nacht.

Nun also, nachdem sie sich dem Rialto näherte, quoll der Kanal über von Lastkähnen, die das Gemüse von den Inseln brachten, das Obst, die Kräuter, die Hühner und das Wildbret, falls es nicht selber von den Jägern über der Schulter angeschleppt wurde. Ein langes Boot, dessen Name sie nicht kannte – ihr Diener hatte früher einmal gesagt, dass es mindestens zwanzig unterschiedliche Arten von Booten gab –, hatte lange Baumstämme geladen, die vermutlich für den Häuserbau verwendet wurden; ein anderes war voll gestopft mit den unterschiedlichsten Möbeln, und wieder ein anderes versuchte sich mit schier rücksichtsloser Geschwindigkeit zwischen dem Gewimmel hindurchzuschlängeln und war vermutlich zu einem Kranken gerufen worden. Der Mann trug einen spitzen roten Hut, war also mit Sicherheit ein Arzt aus dem Ghetto.

Sie zwängte sich zwischen den Menschen auf der Brücke hindurch, hielt ihren Korb fest an sich gepresst, blickte hinüber zum fondaco, aus dem soeben ein kleiner Zug von deutschen Kaufleuten mit schwer beladenen Eseln aufbrach. Sie ging die schmale calle entlang, die auf dem kürzesten Weg nach San Marco führte, hörte eine Glocke läuten, die die Gläubigen zum Gebet rief.

Sie wollte diese Messe besuchen, obwohl sie natürlich ohne weiteres und ohne Umweg die Kirche in ihrem Sprengel hätte besuchen können. Aber sie mochte den Pfarrer nicht, die Kirche nicht, die Bilder nicht und am liebsten wäre sie ohnehin nach Torcello gefahren, zu ihrer blauen Madonna. Aber sie war unsicher, ob sie dann noch rechtzeitig ans Ziel gekommen wäre. Und sie glaubte nicht einmal daran, dass die Madonna ihr die Unsicherheit hätte nehmen können für das, was sie vorhatte. Eine Tat, die so unsinnig war wie keine andere, für die sie sich je zuvor in ihrem Leben entschieden hatte.

Aber nun hatte sie sich entschieden. Nicht halb, sondern ganz. Sie hatte sich entschieden, mit diesem Renzo Grimani über die Meere zu fahren, ohne jeglichen Zeitplan, ohne jegliche Sicherheit, was mit ihr unterwegs geschehen würde. Dass das Unternehmen auch genauso gut bereits am ersten Tag, wenn ein Sturm kam, beendet sein konnte, wollte sie erst gar nicht in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Es gab genug anderes, worüber sie nachzudenken hatte. Zuvorderst natürlich darüber, ob das Schiff überhaupt an diesem Tag auslief, zu dieser Stunde auslief. Und natürlich, ob diese lose, dahingesagte Einladung, sie könne mitfahren, überhaupt noch galt.

Sie hatte sich nicht abgesichert, hatte nicht gefragt, als was sie auf diesem Schiff mitfahren würde. Schließlich konnte der Schiffseigner sie ebenso gut als Matrose in die Wanten schicken und ihr versuchen zu erklären, dass es noch zu diesem verrückten carnevale gehörte, bei dem man ein anderer wurde. Und selbstverständlich konnte er ihr ebenso gut anbieten, seine Mätresse zu werden. Eine Schlussfolgerung, die sie allerdings keinesfalls ernsthaft in Erwägung zog.

Sie erreichte die Messe viel zu spät, schon erklang das Glorie, aber es war ihr egal. Sie wollte in dieser Kirche sein, in die ihr Großvater sie als Kind mitgenommen und sie das Beten gelehrt hatte.

Die Kirche war zu dieser frühen Morgenstunde, in der die Besucher mit großem Lärmaufwand hier ihre Geschäfte tätigten, während sie zur Andacht kamen, weniger gefüllt als sonst. Vermutlich hatte es mit einem bestimmten Feiertag zu tun, den sie vergessen hatte und den manche sich als Entlastung zuordneten, sodass sie sich die Messe überhaupt schenken konnten. Sie überlegte, ob sie zur Beichte gehen sollte, aber sie war sich nicht sicher, was sie hätte beichten sollen – noch war nichts von dem geschehen, was sie später vielleicht würde beichten müssen. Noch war sie nicht mit einem Mann auf dem gleichen Schiff, in dem es ganz gewiss nicht zahllose Räume gab, in denen sie für sich sein konnte. Die Kapitänskajüte würde man ihr jedenfalls ganz gewiss nicht überlassen. Und die übrigen Kojen waren jeweils für zwei Leute gedacht. Sie hatte sie gesehen, Renzo hatte sie ihr gezeigt.

»Schaut Euch um«, hatte er in jener Nacht gesagt und sie allein nach unten geschickt.

Sie verließ den Dom seltsam unbefriedigt, auch keinesfalls sicherer als zuvor. Das Abenteuer konnte ihr niemand abnehmen und ausreden, zu diesem Zeitpunkt schon gleich gar nicht. Und dass Margarete begeistert gesagt hatte, wenn sie Crestina wäre, würde sie ohne überhaupt nur die Spur eines Zweifels sich diesem Mann bedenkenlos anvertrauen, bedeutete natürlich gar nichts. Denn Margarete mit ihrer unbändigen Abenteuerlust wäre vermutlich über alle Meere dieser Welt mit allen Männern gefahren, die sie dazu eingeladen hätten.

Die Kogge erschien ihr anders als in jener Nacht, als sie sich dem Schiff näherte. Sie erschien ihr größer, gewaltiger, Furcht einflößender vor allem. Und natürlich war sie jetzt kurz vor der Abfahrt der Stille beraubt, die sie in jener Nacht ausgestrahlt hatte. Sie glich eher einem Termitenhaufen, in dem die einzelnen Bewohner noch nicht den ihnen zukommenden Platz gefunden hatten. Matrosen zogen auf Karren irgendwelche Säcke an Bord, während der Kapitän Kommandos brüllte. Ein Segelmacher schleppte keuchend einen Ballen Segeltuch auf den Schultern und Crestina fragte sich, ob das Schiff bei diesem Chaos überhaupt am heutigen Tag auslaufen würde.

Aber dann sah sie Renzo. Sie sah ihn inmitten des Gewimmels stehen. Er schrie weder, noch gab er Befehle. Er stand nur da und beobachtete die Szenerie, mehr nicht. Als er sie entdeckte, geschah keinesfalls das, was sie erwartet hatte. Er rannte weder auf sie zu, um sie zu begrüßen, noch lächelte er, noch winkte er ihr zu. Er blieb stehen, wo er stand, suchte sich lediglich auf der Brücke einen besseren Halt.

Crestina blieb vor dem Laufsteg stehen, nahm ihren Korb in die andere Hand, stellte ihn schließlich neben sich auf den Boden. Renzo sagte ein paar Worte zu einem seiner Offiziere und blieb weiterhin stehen. Der Mann lief die Schiffsrampe hinunter, verbeugte sich höflich vor Crestina und fragte, ob er sie nach oben bringen dürfe. Dabei griff er bereits nach ihrem Korb, so, als ob ihre Antwort unwichtig sei, und erkundigte sich, ob es sich dabei um ihr Gepäck handelte.

»Ja. Nein. Ja«, sagte sie.

Der Offizier lächelte.

»Darf ich das als ›ja‹ nehmen?«

Sie nickte, ging dann hinter ihm die Schiffsrampe hinauf, stieg die Stufen empor zur Brücke. Und bereute in der gleichen Sekunde, dass sie nicht zu der blauen Madonna nach Torcello gefahren war. Vermutlich hätte sie dort ganz gewiss erfahren, was sie in einer Situation wie dieser zu tun hatte.

Als sie auf der Brücke vor dem Mann stand, mit dem sie nun über die Meere fahren sollte – oder wollte –, hatte sie das Gefühl, dass jedermann in dieser Stadt über sie lachen würde, wenn sie diese Situation schildern würde: Eine Frau geht zu einem Mann auf ein Schiff, von dem sie nicht einmal weiß, wohin es fährt. Ein Schiff, von dem sie nicht weiß, welche Rolle ihr darauf zugedacht ist. Und vor allem, ohne zu wissen, ob sie überhaupt an Bord erwünscht ist, oder ob alles etwa nur ein grausames Missverständnis oder gar ein Ulk ist.

Als sie so vor ihm stand, ohne Korb, ohne etwas in der Hand, das sie in ihrer Unrast umklammern konnte als letzte Stütze, spürte sie plötzlich ein sehr seltsames Gefühl. Es schien ihr, dass alles von ihr abfiel. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Kleider, ihre Haut, ihre Knochen auf den Boden scheppern, ihr Blut nach unten rinnen, irgendwohin ins Meer. Was übrig blieb, war ihre Seele. So schien es ihr zumindest, auch wenn sie sich bei diesem Gedanken mehr als lächerlich vorkam, wie ein Dichter in einem stümperhaften ersten Gedicht, das ganz gewiss nie ein Sonett werden würde.

»Ihr seid sicher, dass Ihr in diesem Augenblick hier auf dieser Brücke sein wollt?«, fragte Renzo nach einer Weile und machte dem Kapitän mit einer Handbewegung klar, dass er allein sein wollte.

Sie sah ihn an, suchte nach dieser Spur eines Lächelns, das sie inzwischen kannte. Aber sie konnte es nicht entdecken.

»Ich bin nicht sicher, ob das, was Ihr in jener Nacht des carnevale auf diesem Schiff gesagt habt, auch heute noch seine Gültigkeit hat«, sagte sie stockend. »Und vor allem weiß ich nicht, was es wirklich bedeutet.«

»Es bedeutet das, was Ihr Euch seit jener Nacht vorstellt«, sagte er, noch immer ohne die Andeutung eines Lächelns, »wovon Ihr geträumt habt in den letzten vier Wochen.«

»Und weshalb habt Ihr das dann nicht gesagt, nicht ausgesprochen, es nicht deutlich gemacht?«

Er blickte kurz über sie hinweg, über die Mole hinweg, kniff die Augen zusammen. »Weil die Entscheidung von Euch kommen muss. Ich konnte und wollte sie Euch nicht auf dem Servierteller präsentieren wie Euren morgendlichen Kakaotrunk.«

»Wenn es das bedeutet, was ich glaube und wovon ich Eurer Meinung nach die letzten vier Wochen geträumt habe, dann bedeutet es, dass Ihr erwartet habt, dass Euch eine Frau einen Antrag macht?«

Sie beobachtete ihn und spürte, wie das karge Lächeln endlich in sein Gesicht zog.

»Natürlich nicht irgendeine Frau. Nur eine ganz bestimmte. Ihr.«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte ruhig zu bleiben.

»Wisst Ihr, ich habe nicht sonderlich viel Übung mit Anträgen, ich weiß nicht mal, wie Männer sich dabei verhalten. Ist ein Kniefall genehm?«

»Ich denke, Ihr habt bereits einige Anträge bekommen«, sagte er dann und blickte wieder zu der Mole hinüber, »sogar mehrere. Wenn ich recht informiert bin, waren es sogar drei.«

Sie runzelte die Stirn.

»Drei? Sagtet Ihr drei?«

»Nun, der Erste liegt ja wohl eine Weile zurück und –«

»Meint Ihr etwa Lukas?«, fragte sie irritiert. »Der zählt ganz gewiss nicht. Und außerdem hat mein Vater damals gewünscht, dass ich diesen Mann –«

»Nun, dann eben Leonardo«, unterbrach er sie, »oder täusche ich mich da?«

»Leonardo«, sagte sie rasch, »also Leonardo. Der zählt auch nicht. Er war wie ein Bruder für mich. Ich konnte ihn gewiss nicht annehmen, weil …«, sie stockte.

»Weil was?«

»Ich empfand nichts für ihn.«

»Wirklich«, spottete er, »er hat Euch nie geküsst?«

»Eine Schwester küsst man nicht, und …«, sie wehrte ab, als sie in sein Gesicht blickte, »nein, erwähnt jetzt bitte nicht Riccardo.«

»Ich erwähne aber Riccardo«, sagte Renzo entschieden. »Er kann nicht länger bei jedem Gespräch ausgespart bleiben. Er ist nicht vergessen. Er ist gegenwärtig. Immer. Hier«, sein Blick wanderte über die Wanten auf das Meer hinaus, an den Kai. »Und deswegen darf man auch über ihn reden.«

Sie starrte ihn an, spürte ihr Gesicht starr werden.

»Ich darf über ihn reden, solang ich möchte?«, fragte sie dann atemlos. »Und es würde Euch nie langweilig werden? Oder gar stören?«

»Ihr könnt über ihn reden bis nach Zypern oder nach Alexandria, wenn Ihr wollt«, sagte er dann und deutete zum Ufer hinüber. »Aber zuvor bekommt Ihr noch Besuch.«

Sie drehte sich um, sah zwei Gestalten den Kai entlanghasten. Die eine rundlich und wie eine Ente watschelnd, die andere groß und kräftig, fast wie ein Mann. Die runde Gestalt blieb hinter der großen zurück, griff sich ständig an die Brust und hob den Gegenstand, den sie in der Hand hielt, weit von sich gestreckt. Die große Gestalt wandte sich von Zeit zu Zeit um, gab ihren Vorsprung auf, spornte die andere an und begann dem Schiff zu winken.

»Sie wollen zu mir«, sagte Crestina erregt und wandte sich zu Renzo. »Vermutlich sind es meine Freundinnen.«

Renzo reichte ihr ein kurzes Fernrohr, sie hob es an die Augen.

»Es sind Lea und Margarete«, sagte sie dann hastig. »Haben wir noch Zeit?«

Renzo gab einem Offizier ein Zeichen, das signalisieren sollte, dass das Schiff noch nicht zur Abfahrt bereit war, was die beiden Frauen endlich in einen langsameren Gang verfallen ließ. Er legte den Arm um ihre Schulter. »Auf dem Meer braucht man keine Sanduhr, da gelten andere Gesetze.«

Als die beiden schließlich die Schiffsrampe heraufgekeucht kamen, hatte ein Matrose bereits eine Kiste herangeschoben, auf die sich Lea schwer atmend niederfallen ließ.

»Ich dachte schon, du wärst bereits über alle Meere. Es kam etwas dazwischen, bei uns beiden.«

Margarete lachte.

»Das trifft den Sachverhalt eigentlich nicht ganz. Bei mir war es so, dass das Parfum, das ich extra für dich gemacht hatte, zwar fertig war, aber ich grübelte bereits seit Tagen über dem Namen, den ich ihm geben wollte.«

»Und jetzt hast du einen gefunden?«

Margarete schüttelte lachend den Kopf und nahm behutsam ein Flakon aus ihrem Korb.

»Nein, das habe ich nicht. Aber wenn mir nichts Besseres einfällt, könnte ich es immerhin ›Rose von Zypern‹ nennen. Natürlich nur, falls dir das gefällt. Aber ich arbeite weiter daran. Und falls mir etwas anderes einfällt, dann bekommst du einen Brief von mir. Nach Alexandria, Zypern oder wohin auch immer.«

Crestina öffnete das Flakon, hielt den Glasstab an die Nase und schloss die Augen. Dann reichte sie den Stab Renzo. Er hob ihn ebenfalls an die Nase, schnüffelte kurz und lächelte.

»Du wirst sie alle finden, diese Düfte. Da, wo wir hinfahren werden, wirst du nicht lange nach ihnen suchen müssen. Aber so ist es natürlich einfacher.«

Margarete entzog Renzo abrupt den Stab.

»Ihr verratet all meine Geheimnisse«, sagte sie dann lachend. »Damit will ich ein Geschäft aufbauen.«

»Das werdet Ihr ganz gewiss auch erreichen«, sagte er und warf einen Blick nach der Brücke.

»Bei mir kam auch etwas dazwischen«, sagte Lea linkisch, »etwas Erfreuliches. Moise hat zusammen mit Samsons Tochter, Sarah, sämtliche Kisten ausgeräumt, weil sie die Purim-Kleider finden wollten. Und jetzt sieht es bei uns in der Wohnung aus wie nach einem Erdbeben.«

»Ein Erdbeben, das dich jedoch höchst erfreut«, sagte Crestina schmunzelnd.

Lea lachte.

»Natürlich. Es scheint, dass dieses kleine Mädchen, das er bereits jetzt wie eine Schwester liebt, alle guten Seiten in Moise zum Schwingen gebracht hat. Gestern hat einer der großen Jungen nur einen harmlosen Scherz über sie gemacht und schon lag er auf dem Boden. Und dies durch Moise, der sich sonst nie gewehrt hatte. Aber für diese Sarah täte er wohl alles. Für mich dafür allerdings weniger«, sagte Lea und reichte Crestina einen kleinen Gegenstand, der in ein buntes Tuch eingewickelt war.

»Es ist eine alte Öllampe, sogar eine mit einer Menora. Die sind sehr selten«, erklärte sie. »Sie stammt aus dem Heiligen Land, und mein Großvater hat sie vor einer halben Ewigkeit in Sulzburg irgendeinem Händler abgekauft. Inzwischen war sie zwischen all den Sachen vergraben, die Moise und Sarah jetzt aus den Kisten herausgewühlt haben.«

Crestina betrachtete das Öllämpchen, das eine zierliche Menora auf der Oberseite aufwies. Lea gab ihr ein Fläschchen mit Öl dazu.

»Falls es mal einen Sturm geben sollte«, sagte sie dann, »und eure Lampen gehen aus.«

Renzo lachte.

»Wir werden uns gewiss daran erinnern, wenn wir auf einer einsamen Insel stranden. Aber zum Glück ist das bisher noch nie geschehen.«

»Gib gut auf dich Acht«, sagte Margarete und schloss Crestina in die Arme. »Du wirst uns gehörig fehlen.«

»Und sieh zu, dass du dich nicht verirrst dort draußen«, sagte Lea. »Dein Palazzo wartet auf dich.«

»Unser Gespräch wurde unterbrochen«, sagte Renzo, als die beiden Frauen das Schiff verlassen hatten und Crestina wieder allein neben ihm auf der Brücke stand.

»Ich wollte Euch vorhin noch etwas fragen, etwas, was wichtig ist. Diese Fahrt, sie ist keine Flucht für Euch?«, fragte er dann zögernd. »Oder etwa doch?«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

»Eine Flucht? Vor wem?«

»Nun, schließlich gab es doch auch noch einen dritten Bewerber um Eure Hand, oder täusche ich mich?«

Sie spürte, wie sie zu schwitzen begann.

»Etwa Bartolomeo?«

»Ja, Bartolomeo.«

»Nun, er zählt weniger als alle Übrigen«, sagte sie rasch.

Renzo lachte. Es war nicht jenes karge Lächeln, sondern ein herzhaftes Lachen.

»Lauter Anträge, die nicht zählen?«

»Ja«, bestätigte sie. »Lauter Anträge, die nicht zählen. Und Bartolomeo …«, sie besann sich kurz, brach dann ab. »Nein, ich fliehe nicht vor ihm«, stieß sie dann hervor.

»Das braucht Ihr auch nicht, er wird Euch nie mehr quälen.«

»Und weshalb nicht? Woher wollt Ihr das wissen?«

Renzo zuckte mit den Schultern, pustete eine Staubflocke von seinem Wams. »Es gibt Dinge, die man weiß.«

Sie runzelte die Stirn.

»Habt Ihr ihn etwa umgebracht?«

Er lachte ein zweites Mal, kniff dann die Augen zusammen.

»Ihr vergesst, ich bin ein bekannter Mann in dieser Stadt, ein Mann, der mit Salz handelt und viele Schiffe besitzt. Ganze Schiffe, halbe Schiffe, viertel Schiffe. Schiffe, die die ganze Welt umrunden.«

»Und?«, fragte sie gespannt.

»Und auf diesen Schiffen ist viel Platz.«

»Ihr habt ihn also betrunken gemacht und am anderen Morgen fand er sich auf einem Eurer Schiffe wieder auf hoher See, auf einem Schiff, das bis ans Ende der Welt fährt«, vermutete sie.

»Man kann es auch ohne Trunkenheit hinbekommen«, erwiderte er sanft. »Bei Menschen, die so krankhaft auf's Geld versessen sind, wie Euer Vetter es war, gibt es immer einen Weg. Und es muss ganz gewiss nicht mit Gewalt zu tun haben. Belastet Euch also nicht mit diesem Menschen. Es ging alles ganz friedlich zu. Und ich war ohnehin nicht im Spiel.«

Die Geräusche am Kai waren inzwischen leiser geworden, das Ameisengewimmel auf dem Schiff schien mit einem Male einem geordneten Ablauf gewichen zu sein. Crestina ließ ihren Blick über die Lagune schweifen, Möwen schossen darüber hinweg und schrien, ab und zu stieß eine in die Tiefe und schnappte nach den Resten der Abfälle, die die Schiffsjungen in den Kanal gekippt hatten. Über ihren Köpfen zogen Federwolken, die sich ganz offensichtlich nicht entscheiden konnten, wohin sie treiben sollten – in die Stadt zurück oder auf's offene Meer hinaus.

»Wie geht es mit uns weiter?«, wollte Renzo wissen. »Wir legen bald ab. Morgen möchte ich bereits in der nächsten Stadt sein.«

Er machte eine Pause und sah Crestina an.

»Ich warte also immer noch auf Euren Antrag«, fuhr er dann schmunzelnd fort.

Sie hob entschlossen die Schultern.

»Wenn Ihr wirklich glaubt, dass das geschehen soll, wovon ich seit vier Wochen träume, dann brauchen wir einen Priester«, sagte sie entschieden.

Er warf die Hände in die Luft.

»Einen Priester? Wozu einen Priester? Wir haben einen Kapitän an Bord. Er wird uns genau an der Stelle vermählen, die Ihr auswählt. Ihr dürft den Platz bestimmen.«

»Mitten auf dem Meer einen Platz bestimmen?«

»Natürlich, weshalb nicht? Strengt Eure Fantasie an.«

Sie legte den Finger an die Nase, dachte nach.

»Dann möchte ich einen Platz, auf dem es weder esecutori contro la bestemmia gibt, noch einen Rat der Zehn, eine Bleikammer, irgendwelche neri, eine la bocca, eine Inquisition, einen Index, ein Wolfsrudel der cattaveri«, sagte sie dann rasch und mit aller Entschiedenheit. »Ich will einen Ort, der frei ist von all diesen Dingen.«

Er warf die Hände in die Luft.

»Hört auf, hört um Himmels willen auf«, wehrte er ab. »Ihr müsst nicht die gesamten venezianischen Behörden bemühen, um auf dem Meer einen geeigneten Platz zu finden, auf dem Ihr einem Salzhändler angetraut werden könnt. Woher soll ich überhaupt wissen, dass Ihr Euch wirklich entschieden habt, diese Frau zu sein?«

Sie hörte die Kommandos, als der Anker gezogen wurde und das Schiff auszulaufen begann. Sie spürte die Gischt auf ihrem Gesicht, ließ das Wasser ungehemmt über ihre Haut rinnen, ließ es auch noch rinnen, als sie seinen salzigen Geschmack auf der Zunge spürte. Sie schloss die Augen, hatte das Gefühl, dass ein Gesicht auf sie zukam, unendlich langsam, so, als müsse jede Sekunde dieses Näherkommens erahnt und nicht gespürt werden. Sie ließ sich in dieses Gesicht hineingleiten, ohne es zu berühren. Sie spürte sich in ihm aufgehoben, ohne dass es gesagt werden musste.

Irgendwann öffnete sie die Augen wieder, sah in den Himmel empor. Die Federwolken hatten sich inzwischen entschieden, wohin sie treiben wollten. Sie hatten die Stadt verlassen und drifteten in dieselbe Richtung, die ihr Schiff nahm: ins offene Meer hinaus.

Und es schien, als habe nun alles seine Ordnung und Richtigkeit.