11. Moise

Der Nebel an diesem Morgen ließ die Stadt nahezu versinken unter einem weißen, bauschigen Tuch. Die Geräusche waren verstummt, so, als hätte der Nebel nicht nur die Sicht der Stadt genommen, sondern auch deren Stimme.

Die Leute, die Crestina in den Straßen entgegenkamen, hatten Tücher um den Mund gebunden, damit die Feuchtigkeit sie verschonen sollte. Aber die Feuchtigkeit ließ sich nicht abhalten. Sie schwamm in Schwaden heran und durchdrang jeden Schutz, so kunstvoll er auch angebracht war.

Crestina hatte Lea versprochen, an diesem Morgen bei ihr im Buchladen vorbeizukommen, aber dann hatte sie sich in der Druckerei verspätet, und so hastete sie nun – ebenso vermummt wie die Übrigen – über den großen Platz des ghetto nuovo, der zu dieser Stunde und an diesem Tag mehr als überfüllt war: Es war Freitag.

Sie hatte den Platz mit den Verkaufsständen schon fast überquert, als sie an einem der letzten Stände der zahlreichen Kleiderhändler fast über einen Stuhl fiel, der mitten im Weg stand.

Auf dem Stuhl saß Lea. Und da sie keine dieser üblichen Vermummungen um den Mund trug, war sie auch ohne weiteres zu erkennen. Crestina stockte, berührte Lea, die in eine andere Richtung blickte, an der Schulter. Lea zuckte zusammen, wandte sich um und warf dabei fast ihren bis an den Rand gefüllten Einkaufskorb um. »Na endlich«, sagte sie dann erleichtert, »ich dachte schon, du … oh, du bist es!«, korrigierte sie sich, als sie Crestina erkannte. »Ich konnte leider nicht mehr länger zu Hause warten. Du warst nicht zur verabredeten Zeit da, und ich hatte eine lange Liste von Einkäufen vor mir«, entschuldigte sie sich dann.

»Ich muss mich entschuldigen«, erwiderte Crestina, »ich habe mich gewaltig verspätet. Aber da kam ein Mann aus der Druckerei mit den Korrekturen meines Buches, und ich musste mit ihm rasch durchsprechen, was es zu beachten gibt.«

Lea nickte ergeben mit dem Kopf. »Macht nichts«, sagte sie dann seufzend und blickte wieder in die Runde.

»Auf wen wartest du denn?«, wollte Crestina wissen.

Lea zuckte mit den Schultern. »Auf wen wohl? Natürlich auf Moise.«

»Dafür hast du dir aber keinen besonders günstigen Platz ausgesucht, es zieht entsetzlich an dieser Stelle. Und du hast nicht einmal einen Mundschutz.«

»Das macht nichts«, sagte Lea gottergeben. »Wenn ich mich auch noch verhülle, sieht er mich nicht, und dann weiß ich nicht, was sonst noch alles geschieht.«

Der Händler, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, brachte einen Mantel herbei und zeigte ihn Crestina.

»Ich bitt Euch, sucht, ob Ihr hier ein Loch entdecken könnt«, drängte er dann und drückte Crestina den Mantel in die Hände. »Dieser Junge muss einfach meschugge sein.«

Lea nahm Crestina den Mantel aus der Hand.

»Wegen dieses kleinen Lochs hier …«, sie zeigte an den Saum des Mantels, an dem ein winziges Loch gestopft war, »… wegen dieses Lochs lässt er mich hier in der Kälte sitzen.«

Crestina begutachtete die Stelle, schüttelte verwirrt den Kopf.

»Und was hat es damit auf sich?«

Lea starrte Crestina an.

»Ich nehme nicht an, dass du so wenig über uns weißt, dass dir nicht bekannt ist, dass jüdische Händler keine neuen Waren verkaufen dürfen, nur gebrauchte, weil es das Gesetz von Venedig so will.«

»Nun«, Lea zuckte erneut mit den Schultern, »so machen sie eben neue Ware zu einer alten Ware.«

Der Händler riss Lea den Mantel aus der Hand.

»Das ist keine alte Ware«, sagte er dann erbost, »das wisst Ihr so gut wie ich, Ihr …«

»Natürlich ist es keine alte Ware«, versuchte Lea den Mann zu beschwichtigen, »aber ich kann nichts dafür, dass mein Sohn nun eben lieber einen Mantel ohne gestopfte Löcher hätte, und –«

»– und nun so lange hier quer über den Platz sucht, bis er ein Loch findet, das vielleicht um eine Spur winziger ist als das meine«, sagte der Händler zornig. »Wenn er mein Sohn wäre, würde ich ihn übers Knie legen.«

»Es ist aber nicht Euer Sohn«, sagte Lea würdevoll und stand auf, als sie soeben Moise näher kommen sah, mit einem anderen Händler im Schlepptau.

»Es ist nur halb so groß wie das andere«, sagte Moise glücklich und zerrte den Mann am Ärmel hinter sich her. »Schau nur!«

Aber Lea war inzwischen jenseits der gerechten Prüfung von Löchern in Mänteln, die für Moise von Wichtigkeit waren.

»Ich habe noch nicht mal Sand gestreut«, sagte sie gehetzt und drückte dem neu hinzugekommenen Mann das geforderte Geld hastig in die Hand. »Die Leuchter müssen noch geputzt werden, und ich bin noch nicht fertig mit dem Vorkochen.«

»Ich helfe dir«, sagte Moise fröhlich, sprang den beiden Frauen voraus, mitten in einen Kreis von Kindern hinein, und Lea war sicher, dass er sein Versprechen bereits zehn Minuten später wieder vergessen hatte. Sie ahnte schon, dass sie sehen musste, wie sie ihn am Vorabend von Sabbat wieder ins Haus zurückbrachte.

»Ich kann dich jetzt nicht mehr zu mir bitten«, erklärte sie Crestina gehetzt. »Aber seit heute Morgen habe ich kaum eine Schlafbank mehr, geschweige denn einen Tisch oder einen Stuhl.«

»Und weshalb das?«, wunderte sich Crestina. »Hat Moise Kleinholz daraus gemacht?«

Lea lachte.

»Nein, so schlimm geht es bei uns dann doch noch nicht zu. Aber heute Morgen kam ein Mann, der mir vor einiger Zeit eine Bibliothek, die er geerbt hat, zum Verkauf anbot. Natürlich hatte ich dafür keinerlei Platz in meinem winzigen Laden. Ich habe ihn aber, weil es sich um hebräische Bücher handelte, hier in unserer Stadt gedruckt, dann gebeten, mir zehn Bücher vorbeizubringen, damit ich wenigstens sehen kann, worum es sich handelt.«

»Nun«, Lea wischte sich den Schweiß vom Gesicht, »er brachte zwanzig und davon wiegen einige gewiss … ach, ich weiß nicht, wie viel.«

Crestina lachte.

»Nun, Gott sei Dank keine neuen Hiobsbotschaften von Moise, ich zucke jedes Mal schon zusammen, wenn du mir Sachen von ihm erzählst.«

»Drei Kinder großgezogen«, sagte Lea seufzend, »und keines hat auch nur die Hälfte der Mühe gemacht wie dieses. Aber gar keine Kinder zu haben, ist natürlich auch nicht das Richtige«, fuhr sie dann fort und hastete mit ihrem schweren Korb davon. »Und ich bin schon mehr als froh, wenn er mich nicht wieder mit diesem Livorno quält.«

Crestina blieb stehen und starrte ihr nach. Sie sah auf ihren halb leeren Korb, den sie mitgenommen hatte, um für den Sonntag einzukaufen.

Und sie fragte sich, ob sie vermutlich nicht lieber sämtliche Schwierigkeiten, die Lea mit Moise hatte, auf sich nehmen würde, als ständig mit nur halb gefüllten Körben am Wochenende in eine leere Wohnung zurückzukommen.