19. Limonaia III

Sie hatte sich entschlossen, zur limonaia zu fahren, bevor die Sonne am Himmel emporstieg.

Sie hatte gehofft, am Morgen nach Aschermittwoch eine Nachricht Renzos zu erhalten, aber der Briefbote hatte den Kopf geschüttelt. Er hatte den Kopf drei Tage hintereinander geschüttelt, dann hatte sie nicht mehr gefragt. Sie hatte auch den Zorn zugelassen, der sich langsam einstellte. Sie fühlte sich geprellt um etwas, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie stellte sich Situationen vor, die hätten sein können: Renzo vor ihr auf den Knien liegend, um ihre Hand anhaltend, Renzo mit einem prächtigen Geschenk, so, wie er es vermutlich seinen Mätressen zum Abschied schenken würde, Renzo in der Kleidung eines Piraten, wie er über die Meere fahren würde.

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass diese Bilder falsch waren. Es war nicht ein einziges Wort darüber gefallen, das auch nur in eine dieser Richtungen hätte führen können. Und beim Überdenken des letzten Bildes kam sie sich mehr als lächerlich vor, auch wenn diese Dinge, wie der Raub von irgendwelchen Frauen auf den Meeren, zu den selbstverständlichen Dingen in ihrer Zeit gehörten.

Als sie acht Tage nichts gehört hatte, beschloss sie, diesen seltsamen carnevale zur Seite zu schieben und ihn in die Unwägbarkeiten ihres Lebens einzuordnen.

Auch Margarete war nicht zurückgekehrt am Aschermittwoch. Sie solle sich keine Sorgen machen, hatte auf einem Zettel gestanden, den sie in der Küche vorfand, sie sei unterwegs für ihre Essenzen. Ihre Rückkehr sei ungewiss.

Und Lea hatte zu einem Kaufinteressierten für ihre Bücher über Land fahren müssen. Moise hatte sie zu Diana gegeben, weil sie Crestina damit nicht belasten wollte. Zumindest sagte sie das.

Dass sie das Haus nun allein bewohnte, störte sie nicht, auch wenn ihr die Gerüche und Aktivitäten der Frauen fehlten. Also hatte sie heute ihren Korb gerichtet, war die wenigen Schritte zur Mole gegangen, hatte ihr Boot losgemacht und war losgerudert.

Der Tag war warm, fast zu warm für die Jahreszeit, und der übliche Nebel schien irgendwo hoch oben in den Lüften hängen geblieben zu sein und wartete auf seinen Abruf.

Sie ruderte mit einer Kraft, die sie nie zuvor seit dem Tod Riccardos verspürt hatte. Und sie sang. Sie sang ein altes Wiegenlied, das Anna einst für sie gesungen hatte. Sie ließ die Töne in den Himmel emporsteigen, als seien sie Lerchen, die sich verflogen hatten.

Sie ließ sich kaum eine Pause, freute sich auf den Inhalt ihres Korbes, auf die Kichlech von Lea, die noch von ihrem letzten Besuch im Palazzo übrig geblieben waren. Den Wein wollte sie auf den Stufen der limonaia genießen, sich dann ein Kissen in die Hängematte legen und in den Palmenwald emporblicken. Mit geschlossenen Augen.

»Wie kann man mit geschlossenen Augen einen Palmenwald sehen?«, hatte Margarete einmal verwundert gefragt.

»Ich kann ihn immer sehen, mit geschlossenen Augen«, hatte Crestina gesagt. »Immer dann, wenn ich will.«

Als sie das Boot ans Ufer zog und es vertäute, hörte sie über sich bei der Villa Stimmen. Sie versuchte es hinzunehmen, obwohl sie gehofft hatte, dass es ihr diesmal gelingen würde, ohne diese seltsamen Nachbarn zu sein.

Zunächst hörte sie eine hohe Frauenstimme, glucksend, sich dabei überschlagend. Und laut lachend. Sie seufzte, hoffte, dass sie diesmal nicht wieder Kindsmagd für den entflogenen Papagei sein sollte und die Hunde sich endlich an ihre Nachbarschaft gewöhnt hatten. Sie hoffte auch, dass diese Frau aus Basel ihr nicht wieder die Zeit stehlen würde mit unnützen Gesprächen wie beim letzten Mal. Dann hörte sie eine tiefe Männerstimme, die von diesem Kugler sein konnte oder auch nicht. Vermutlich hatte auch diese Frau inzwischen von der Nützlichkeit eines Cicisbeo gehört.

Als sie näher kam, stutzte sie, als die Männerstimme einen längeren Satz sagte. Dann hielt sie sich für verrückt – die Zeit war vorüber, in der sie allerorts geglaubt hatte, Bartolomeos Stimme zu hören. Und immerhin war inzwischen schon eine Zeit vergangen, und er hatte nichts von sich hören lassen. Und ihre Ängste hatten seltsamerweise nachgelassen, seit sie Renzo kannte.

Sie schlug also den kleinen Pfad ein, der weit unterhalb der Villa zu ihrer limonaia führte, und hoffte, dass sie ungeschoren in ihrem Häuschen verschwinden konnte. Aber dann, als sie sich bereits in Sicherheit wähnte, hörte sie plötzlich die aufgeregte Stimme der Frau näher kommen, und dann wurde ihr Name gerufen. Zweimal, dreimal hintereinander.

»Stellet Euch vor, was geschehen ist«, sagte die Frau erregt und lief auf sie zu, »hier –«

»Hier ist heute kein Papagei«, unterbrach sie rasch und nicht eben freundlich.

Die Frau blieb abrupt stehen und lachte dann laut.

»Nein, nein, es geht diesmal nicht um diesen albernen Papagei, der ständig davonhüpft, weil er nicht fliegen kann. Es geht um etwas Großes, etwas Weltbewegendes.« Sie lachte und schaute sich dann um, als der Mann, der mit diesem Weltbewegenden offenbar zu tun hatte, nicht folgte.

»Aber so kommt doch, sie ist ja da!«, rief sie dann drängend. »Welch ein Zufall, welch ein Zufall!«

Crestina seufzte, verfluchte diesen Zufall, stellte aber den Korb ab, weil sie keinesfalls Lust hatte, die Frau und ihren Begleiter in ihr Haus zu bitten.

»Worum geht es denn?«, fragte sie dann höflich und rief der Frau einen Warnruf zu, da sich soeben ihr Rock in den Brombeerhecken verfangen hatte. Bevor sie helfen konnte, sagte die Frau atemlos und versuchte sich dabei ungeschickt aus dem Gewirr zu befreien:

»Stellt Euch nur vor, unsere Villa soll in einem Buch beschrieben werden. Ein Zeichner wird kommen und alles festhalten. Also, ein Buch über Pallodio«, sagte sie dann mit hoher Stimme.

»Palladio«, korrigierte Crestina, ließ dann den Redeschwall über sich ergehen, und versuchte einen Blick zu erhaschen über den Kopf der Frau hinweg zu jenem Wundertäter, der dieses Buch herausbringen würde.

»Nun, so kommt doch endlich!«, rief die Frau ein zweites Mal ungeduldig zurück. »Ich möchte den Herrn mit der Besitzerin der limonaia bekannt machen, die Ihr jetzt kaufen könnt. Für einen guten Preis übrigens«, flüsterte sie verschwörerisch und nahm Crestina am Arm. »Ich würde zugreifen an Eurer Stelle. Und selbstverständlich wird auch die limonaia in diesem Buch erwähnt werden.«

Bevor Crestina sich zu diesem höchst verwunderlichen Angebot äußern konnte, kam ein Mann zwischen den Bäumen hindurch und blieb in einiger Entfernung vor ihr stehen. Er verneigte sich leicht, zauberte dann ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht.

Sie starrte ihn ungläubig an. Sie wartete auf das gewohnte Zittern, das sie bei seinem Anblick jahrelang überfallen hatte, dann stellte sie nach einer Weile voller Verwundern fest, dass es ausblieb. Sie atmete tief ein und zog die Stirn in Falten, wobei sie sich in der ersten Sekunde im Unklaren war, ob sie diesen Mann als ihren Cousin ausgeben sollte oder nicht.

»Es gefällt mir, dieses Grundstück«, lobte Bartolomeo und ließ seine Hand weit über Häuser, Bäume und Wiesen schweifen, sodass man annehmen konnte, er wolle einen ganzen Landstrich kaufen. »Und diese limonaia, ganz gleich, ob sie nun von Palladio stammt oder nicht, würde in jedem Fall auch in meinem Buch erwähnt werden. Und wenn Ihr mögt, kann sogar Euer Name ebenfalls auf dem Titelblatt stehen. Sicher seid Ihr so freundlich und verratet ihn mir?«

»In Eurem Buch?«, spottete Crestina. »Seid Ihr da ganz sicher?«

Die Frau zupfte aufgeregt an den Brombeerranken, die sich noch immer in ihrem Kleid verhakt hatten, und schaute dann unsicher von einem zum anderen, da sie sich plötzlich der Spannung bewusst war, die sie hier greifbar vor sich sah.

»Kugler sagte mir, dass dieser Mann ein begnadeter Künstler sei und dass es eine Ehre sei, wenn unser Haus von ihm beschrieben würde. Natürlich zusammen mit den Besitzern. Die wir ja nun sind.«

»Ich glaube kaum, dass Euer Mann davon sehr begeistert sein würde«, sagte Bartolomeo mit einem spärlichen Lächeln. »So wie ich ihn kenne, mag er es nicht sehr, wenn sein Name in der Öffentlichkeit allzu sehr bekannt wird.«

»Hat er diese Öffentlichkeit möglicherweise zu scheuen?«, fragte Crestina.

»Was meint Ihr da?«, sagte die Frau zornig. »Mein Mann geht einem ehrlichen Gewerbe nach. Dass wir reich sind, stört allerdings eine ganze Reihe von Neidern. Aber das war zu erwarten.«

»Also, seid Ihr mit einem Verkauf Eurer limonaia einverstanden?«, fragte Bartolomeo. »Ich würde Euch einen guten Preis nennen.«

»Und wofür wollt Ihr mein Haus? Für den gleichen Zweck wie einst meinen Palazzo?«

Die Frau blickte irritiert von einem zum anderen.

»Kugler muss mich da falsch informiert haben«, sagte sie dann mit rotem Kopf. »Kennt Ihr Euch etwa?«

Da keiner der beiden bereit war, auf diese Frage zu antworten, verfiel sie erneut in ihren hohen Ton der Begeisterung.

»Dann werden die Verhandlungen ja doppelt einfach sein«, sagte sie erleichtert.

»Verhandlungen?« Crestina zog die Brauen empor. »Von welchen Verhandlungen sprecht Ihr eigentlich?«

»Nun, nun, diese limonaia, steht doch ganz offenbar zum Verkauf, ich wusste nichts davon, sonst hätte ja vielleicht mein Mann zugegriffen, schon vorher.«

»Hier steht nichts zum Verkauf«, sagte Crestina schroff, »und es wäre mir lieb, wenn ich nun an meine Arbeit gehen könnte.«

»Oh ja, natürlich«, die Frau fiel plötzlich in einen normalen Sprechton, zog sich rückwärts zurück, so, als sei sie bei einem König zu Gast, und legte dann den Weg zu der Villa im Laufschritt zurück. Crestina nahm ihren Korb, ging mit raschen Schritten auf die limonaia zu, da sie das Gefühl hatte, wenn sie nicht ganz rasch die Türe hinter sich schließen konnte, müsse sie vor Zorn explodieren.

»Nicht so rasch, meine heiß geliebte Cousine«, sagte Bartolomeo und beeilte sich, das Haus vor Crestina zu erreichen, »du wirst mich gewiss nicht einfach abfertigen wie einen Bettler, bevor wir nicht miteinander geredet haben.«

»Ich wüsste kaum, was wir miteinander zu reden haben«, sagte sie entschieden. »Deine Lügen schreien zum Himmel! Ein Buch über Palladio! Wozu sollte dieser Schwindel dienen, den dir diese einfältige Frau sofort abnahm?«

»Mit der Eitelkeit der Menschen kann man zu jeder Zeit Geschäfte machen«, sagte Bartolomeo und lächelte süffisant. »Und dass ich die limonaia gerne kaufen möchte, ist keinesfalls gelogen.«

»Aber wohl, dass sie zum Verkauf steht«, sagte Crestina bissig, »oder?«

Bartolomeo winkte ab.

»Du nimmst noch immer alle Dinge viel zu rasch viel zu wichtig. Lass dir doch erst einmal erzählen, worum es wirklich geht.«

»Und worum geht es?«

»Um ein großartiges Geschäft«, erwiderte Bartolomeo mit weit ausholender Gebärde. »Für dich. Nicht für mich.«

»Ach ja«, Crestina stieg die wenigen Stufen zu der limonaia empor, stellte ihren Korb ab. »Das allerdings möchte ich mir nicht entgehen lassen«, sagte sie dann sanft.

»Können wir uns nicht setzen?«, fragte Bartolomeo irritiert. »Ich dachte, du würdest mich zumindest zu einem Glas Chianti einladen.«

»Den hast du ja wohl schon von dieser geschwätzigen Frau bekommen, die du versucht hast einzuwickeln. Ein Buch über Palladio! Ausgerechnet du! Der du schon früher während der Schulzeit kaum ein paar Zeilen zu Papier gebracht hast, ohne Riccardo zu fragen, wie man diesen Satz oder jenen besser formulieren könne.«

»Du hast deine Missgunst bis heute nicht abbauen können«, sagte Bartolomeo vorwurfsvoll. »Immer wieder, wenn wir uns treffen, bricht sie hervor. Noch bevor wir überhaupt richtig miteinander gesprochen haben.«

»Also, womit willst du meine limonaia kaufen? Ich möchte es wenigstens wissen. Ich denke, du bist derjenige, der zu schnell vorgeht. Bei den Arabern trinkt man zunächst einen Kaffee, dann erkundigt man sich nach der Familie und irgendwann dann kommt man zu den Geschäften.«

Bartolomeo wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl das Wetter kaum dazu angetan war, übermäßig zu schwitzen.

»Wenn du mich ansiehst wie eine Schlange, die auf ihr Opfer wartet, um dann zustoßen zu können, kann ich nicht reden«, wehrte er sich. »Und es gibt hier keinen Kaffee und deine gesamte Familie besteht aus mir. Also brauche ich mich kaum danach zu erkundigen. Und jetzt ist das Geschäft an der Reihe.«

Sie seufzte, drehte sich um, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

»Also, wie viel willst du dafür geben?«

»Du willst doch gar nicht verkaufen!«

»Das steht nicht zur Debatte. Ich will den Preis wissen. Und vor allem, weshalb dir plötzlich der Sinn nach dieser limonaia steht.«

»Der Sinn steht mir keinesfalls plötzlich nach dieser limonaia. Er stand mir immer danach, ich habe nur nie über diesen Wunsch gesprochen.«

»Dann möchte ich es jetzt erfahren.«

Er stand auf, nahm die Brombeerranken von seinem Umhang.

»Wenn ich dir jetzt die Wahrheit sage, wirst du dir den Bauch halten vor Lachen.«

Sie seufzte, strich ihr Tagesprogramm aus ihrem Kopf. Er würde nicht eher gehen, bis alles gesagt worden war, was er sich erhoffte. »Ich verspreche dir, ich werde nicht lachen.«

»Nun gut. Wie viele Früchte von diesen Limonen- oder Orangen- oder Mandarinenbäumen, die im Winter hier Schutz gefunden haben, hast du je in deinem Leben gepflückt?«

Sie starrte ihn kopfschüttelnd an.

»Was soll diese Frage?«

»Es ist eine ganz einfache Frage, und ich denke, du könntest sie mir ebenso einfach beantworten.«

»Das ist keine Frage, die ich beantworten kann. Vermutlich hat Anna die Früchte abgenommen, sie in eine Schale gelegt und auf den Tisch gestellt.«

»Und manchmal hat sie auch gar niemand abgenommen, weil niemand zu dieser passenden Zeit da war. Oder weil man lieber auf die Falkenjagd gehen wollte oder in der Hängematte liegen. Und so sind die Früchte abgefallen und auf dem Boden verfault. Und wieder zu Erde geworden.«

»Mag sein«, gab sie zu, »aber ich verstehe die Frage trotzdem nicht.«

»Ich hatte nie einen Baum«, flüsterte Bartolomeo und starrte irgendwo ins Leere. »Nie. Bevor ich zu euch kam, habe ich nie einen Baum besessen. Und damit gehörte mir auch nie eine Frucht.«

Sie hatte das Gefühl, das Gespräch lief in die falsche Richtung. Früher wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn getröstet.

Eine Weile war nichts weiter zu hören als das zornige Kreischen des Papageis, der vermutlich wieder irgendwo im Wald saß. Dann fielen die Pfauen ein mit ihrem Geschrei des Jüngsten Gerichts.

»Bei uns im Palazzo gab es Bäume genug«, sagte Crestina nach einer Weile, »auf der Altane gab es Limonen, Orangen, Mandarinen in Kübeln. Du konntest genug Früchte essen, wenn du Lust darauf hattest.«

»Aber doch nicht, ohne zu fragen«, beschwerte er sich. »Du vergisst, dass es eure Bäume waren, eure Früchte. Irgendwen musste ich immer fragen, deine Mutter, deinen Vater, deine –«

»Meine Mutter interessierte sich nicht für Bäume, sie wusste gewiss nicht einmal, wo es welche auf unserem Besitz gab und was es für Bäume waren. Sie ließ sich von meinem Vater kleine silberne Bäumchen schenken, solche mit Diamanten. Und mein Vater«, Crestina lachte auf, »glaubst du im Ernst, dass ihn Bäume interessierten? Er interessierte sich für seine Mumien in seinen Lagerhallen, für seine Stoffballen, seine was weiß ich alles.«

»Dann eben Anna«, sagte Bartolomeo beleidigt. »Anna gebärdete sich jedes Mal wie ein Pascha, der über einen ganzen Harem von Früchten zu befehlen hatte anstatt Frauen. Früchte mussten gewaschen, aufgefädelt, auf den Speicher gehängt und eingekocht werden. Sie kamen auf den Tisch, wenn Gäste da waren, sie waren nicht dazu da, einfach so gegessen zu werden. Aus purer Lust.«

»Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass dir Riccardo verboten hätte, Früchte von unseren Bäumen zu pflücken? Er war der gütigste Mensch, den ich kannte.«

»Riccardo?« Bartolomeo lachte auf, »wirklich Riccardo? Er wäre zwar zu jeder Zeit bereit gewesen, mir einen Horaz zu leihen oder auch zu schenken, wenn er ihn doppelt besaß und nur dann. Aber er hätte doch niemals auch nur ein Gramm Gehirnschmalz dafür verwendet, über einen so banalen Gegenstand wie eine Frucht nachzudenken. Und dass das Pflücken, ja, das Pflücken solch einer Frucht für mich …«, er stockte, sprach dann trotzig weiter, »… für mich schon fast eine sakrale Handlung war, hätte er doch nie geglaubt. Dass es zu den wenigen Momenten gehörte, wo ich wirklich an Gott dachte. Wenn ich mit ihm darüber hätte reden wollen, dass Gott auch mir diese Früchte schenkt, nicht nur euch, hätte er mich doch für verrückt gehalten.«

»Hör auf!«, sagte sie zornig. »Versuch nicht, mein Mitleid heraufzubeschwören, mich kannst du nicht reinlegen wie diese einfältige Frau mit ihrer Geltungssucht. Du willst die limonaia doch nicht wegen dieser angeblich sakralen Handlung des Früchtepflückens. Du willst sie doch nur deswegen, weil du ganz genau weißt, wie viel sie mir bedeutet, wie sehr ich an ihr hänge. Und weil sie dir damals bei deinem Betrug mit diesem Testament meines Vaters zwischen den Fingern entwischt war.«

Er seufzte, stand auf.

»Weshalb können Menschen nur nie normal miteinander reden?«, sagte er dann. »Ich sage etwas, du erwiderst etwas, aber es hat gar nichts mit dem zu tun, was ich gesagt habe.«

»Gut«, sagte Crestina rasch, »dann sind wir jetzt wirklich so weit, dass wir von dem Preis reden können, also wie viel?«

»Nun, Dukaten«, sagte Bartolomeo vage, »viele Dukaten. Du weißt ja: sit tibi Christe datus quem tu regis iste ducatus – dir Christus –«

»Ich weiß, was auf unseren Dukaten steht«, unterbrach ihn Crestina grob. »Mich interessiert, wie du sie bezahlen willst, diese Dukaten. Auf die Hand?«

Sie sah, wie sein Gesicht rot anlief, dann machte er einen Schritt auf sie zu.

»Ich denke, ich sollte dir mal wieder ins Gedächtnis rufen, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreite, weißt du das überhaupt?«

»Das ist in Venedig kein Geheimnis: fünfhundert Dukaten für eine Anzeige, davon ein Drittel für den Staat, ein Drittel für die cattaveri und ein Drittel für den Denunzianten. Ist das richtig?«

»In etwa schon.«

»Was heißt in etwa?«

»Nun, es gibt ja auch Dinge, die man nicht zur Anzeige bringt. Und das lässt sich mit Leichtigkeit ebenfalls in Dukaten ummünzen. Es kann, wenn man es geschickt anstellt, sogar mehr einbringen.«

Sie stand auf, versuchte ihren Zorn zu unterdrücken.

»Das heißt, dass du nicht nur ein Denunziant, sondern zugleich ein mieser kleiner Erpresser bist, und dass du –«

»Halt ein, halt ein!«, sagte er grob. »Du vergisst, mit wem du sprichst. Du vergisst, dass meine Schubladen voll sind mit diesen Dingen, die ich nicht in die bocca gebe. Sie liegen in meinem Versteck, gut aufbewahrt.« Er lächelte. »Angaben über alle Menschen übrigens.«

»Du meinst also auch von mir?«, flüsterte sie.

»Selbstverständlich auch von dir. Wozu habe ich meine Spitzel? Dieser Besitzer der Villa zum Beispiel mit seiner einfältigen Frau aus Basel, weißt du eigentlich, welchen Beruf er hat?«

»Ich weiß es nicht, aber es interessiert mich auch nicht.«

»Nun, er ist Sklavenhändler. Daher das viele Geld, von dem diese Frau nicht einmal weiß, woher es stammt. Ich weiß nicht, welche Lügen er ihr auftischt, aber du darfst sicher sein, dass er es tut. Und dass die Dinge, mit denen er handelt, nicht nur Sklaven sind. Es sind Dinge, für die sich die Obrigkeit interessiert.«

»Und was weißt du von mir, was für die Obrigkeit interessant sein könnte?«

»Ziemlich viel, liebe Cousine«, sagte er leise, »du würdest dich wundern.«

»Ich würde es dir einfach nicht glauben. So wenig, wie das Buch über Palladio stimmt, so wenig weißt du Dinge über mich, die gefährlich sein könnten.«

Er setzte sich, riss einen Grashalm ab und steckte ihn in den Mund.

»Vor einigen Wochen bist du mit einem abgewetzten Ledersack und einem Manuskript nach Padua geritten, in Männerkleidung. Es war ein verbotenes Manuskript und derjenige, der es weiter nach Basel transportieren wollte, zum Druck, ist später geschnappt worden. Deine Freunde treffen sich noch immer in den Gärten von San Giorgio und halten dort verbotene Treffen ab. Ich kenne einen Fischer, der dort wohnt und genau aufschreibt, wer mit wem zu welcher Zeit dort eintrifft und wann er wieder die Insel verlässt. Und früher hat der alte Taddeo mit geschmuggelten Büchern unter seiner Ladentheke auf der Rialtobrücke gehandelt und wenn du zu ihm kamst, verließ er jedes Mal seinen Stand, um sich mit dir im Flüsterton zu unterhalten. Worüber wohl? Ganz gewiss nicht über die Fischpreise oder darüber, ob das Brot schon wieder teurer geworden ist.«

Crestina lachte.

»Das ist spannend, was du alles weißt. Hast du Beweise dafür? Du weißt ja, ohne Prozess bekommst du gar nichts.«

»Beweise?«, sagte er zornig, »Beweise? Wozu sollte ich Beweise brauchen? Du weißt ja nicht einmal, was deine Freunde an einem Tag wie dem heutigen tun.«

»Und, was tun meine Freunde an einem Tag wie dem heutigen Verbotenes?«

»Frag sie doch einfach«, sagte er dann hämisch lachend. »Frag nach, was deine Freundin Margarete heute in Padua tut, was dein Freund Leonardo in Padua tut und frag deinen so genannten ›Salzsieder‹, weshalb auch er heute in Padua ist.«

»Du musst verrückt sein«, sagte sie fassungslos. »Weshalb sollten drei Leute, die nichts miteinander zu tun haben, nicht am gleichen Tag nach Padua gehen?«

Bartolomeo lachte auf.

»Das glaubst auch nur du! Vor allen Dingen das Märchen mit dem Ambra, das deine Nürnberger Freundin angeblich in Padua kaufen will. Ich frage mich, bei wem sie das kaufen will. Die meisten Sachen bekommt sie von einem Apotheker in Murano. Und Leonardo. Frag ihn doch, an was er jetzt gerade arbeitet. Was er vorhat. Und dieses Kind, das von deiner jüdischen Freundin Lea, ist in mehr Dinge verwickelt, als sie sich vorstellen kann.«

Crestina stand auf, wandte sich abrupt zum Gehen.

»Mich interessiert nicht, was meine Freunde in Padua machen, und auch nicht, was die übrigen hunderte Venezianer, die gerade dort sind, dort tun. Lass dich von einem Arzt kurieren, ich empfehle dir einen aus dem Ghetto. Da gibt es einen, der sich besonders mit Hirnkrankheiten auskennt.«

Bartolomeo verschluckte sich vor Lachen.

»Ausgerechnet im Ghetto! Darf deine Freundin Lea überhaupt ihre alten Bücher in deinem Palazzo verkaufen?«

»Sie verkauft sie nicht, sie katalogisiert sie lediglich, weil sie dazu in diesem winzigen Buchgeschäft keinen Platz hat.«

»Ja, ja, ja, aber die christliche Dienerin, die als Hausgehilfin bei ihrer Freundin Diana arbeitet, ist auch nicht koscher. Und dieser Junge, den sie das Pestkind nennen, weißt du auch über ihn Bescheid? Leider ist er noch zu klein, um ihn zur Anzeige zu bringen, aber so bald er groß genug ist, werde ich es tun. Er holt die geheimen Zettel, die Anzeigen, die für die cattaveri bestimmt sind, wieder aus den Häuserritzen, um seine Leute vor Strafe zu bewahren. Er würde am liebsten die Männer bestechen, die an den Ghettotoren stehen und sie bewachen, wenn die Juden außerhalb der richtigen Zeiten kommen und aufgeschrieben werden müssen. Er hat einen Freund, Isaak, der sechs Jahre älter ist als er, der sich weigert, den roten spitzen Hut zu tragen, den die Juden tragen müssen. Und dieses Pestkind sagt, dass er ganz gewiss nie einen roten Hut tragen werde. Er ist ein Aufrührer, obwohl er noch ein Kind ist. Und«, Bartolomeo atmete tief, »weißt du überhaupt, was er werden will? Wovon er träumt? Messias will er werden, eines Tages. Messias! So als sei das ein Beruf wie etwa Bäcker oder Metzger!«

Sie ließ ihn abrupt stehen und ging die paar Schritte zu der limonaia.

»Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende!«, rief ihr Bartolomeo wütend nach, »noch lange nicht! Und du wirst es eines Tages bereuen, dass du mich wie einen Bettler hier stehen gelassen hast. Und es wird dann niemanden geben, der dir beistehen wird, niemanden! Und dass es für Frauen verboten ist, in Männerkleidern durch die Lande zu reisen, wirst du gewiss auch wissen! Das weiß sogar unsere einfältige Nachbarin und dieser Kugler!«

Sie schloss die Tür auf und verdeckte das Fenster mit einem Tuch, wie sie es manchmal tat, wenn die Hitze zu stark in den Raum drang. Dann warf sie ihre Schuhe ab und legte sich auf ihr Bett. Sie blieb liegen, sie wusste nicht, wie lange. Aber sie hatte das Gefühl, dass Zypern näher rückte. Auch wenn sie diese Entscheidung nie aus dieser Sicht in Erwägung gezogen hatte.