7. Das ›Pestkind‹

»Zuerst hast du gesagt, dass Samson und Simhah meine Eltern sind. Aber sie waren es nicht. Ich habe keine Eltern. Und Samson und Simhah sind jetzt schon lange in Rom, im Serraglio. Dann hast du gesagt, du seist meine Nonna, aber du bist auch nicht meine Nonna. Ich habe keine Nonna, vermutlich nie eine gehabt. Du hast gesagt, ihr alle seid meine Familie, aber ich habe überhaupt keine Familie. Meine ganze Familie ist an der Pest gestorben.«

Moise stand in der Tür zu Abrams Hinterstübchen, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht rot vor Zorn. Ein Bild, wie man sich den zürnenden Propheten Micha vorstellte.

»Ihr habt gelogen! Alle! Gelogen! Gelogen! Und außerdem habt ihr gesagt, ich sei ein Pestkind. Ein Pestkind«, flüsterte Moise. »Ich hasse dich.«

Lea wischte sich mit dem Staublappen, mit dem sie soeben eine Reihe von alten Büchern abgestaubt hatte, über das Gesicht, verschmierte Schweiß mit Schmutz und starrte Moise an. Sie legte die Hand auf die Brust, murmelte irgendwelche jiddischen Sätze, was sie stets tat, wenn sie erregt war. Manchmal verfiel sie sogar ins Badische, so, als könne sie in dieser Sprache, die ihre Familie in ihrer Kindheit gesprochen hatte, in solchen Situationen Halt finden. Sprachen, die Moise nicht verstand und die daher seinen Zorn jedes Mal noch weiter ansteigen ließen.

»Das wird dir jetzt auch nicht mehr helfen«, sagte er gehässig. »Ich hasse deine Sprachen, die ich nicht verstehe. Hinter denen du dich versteckst.«

»Wer hat das alles gesagt?«

»Was?«

»All das, was du mir jetzt gerade vor die Füße geworfen hast«, sagte Lea mühsam und ließ sich schwerfällig auf ihren Schemel fallen.

»Die Kinder«, flüsterte Moise, nahm Lea das Staubtuch aus der Hand und putzte sich damit die Nase.

»Welche Kinder?«

»Die Kinder in der Jeschiwa. Und die aus der Calle del Forno, die aus der Calle dell'Orto, aus der Calle Barucchi und vom Corte dell –«

»Hör auf«, sagte Lea seufzend, griff hinter sich, zog ihre Kichlechdose heran, wollte Moise auf den Schoß ziehen. »Schließlich kann sich wohl kaum der ganze Chazer mit dir und deinen Problemen beschäftigen«, sagte sie dann ruhig.

Aber Moise wehrte sich, versteifte seine Arme und ließ nicht zu, was Lea beabsichtigte. Weder die Liebkosung, noch die Kichlech, die sie ihm in den geschlossenen Mund schieben wollte.

»Öffne deine Fäuste«, befahl sie.

Moise schüttelte den Kopf, ballte die Fäuste noch stärker, sodass das Weiß seiner Knöchel nun wie die abgenagten, gebleichten Knochen eines Tieres durch die Haut hindurchschimmerten.

»Ihr habt gesagt, ich sei ein Pestkind«, beharrte er dann.

»Zu wem soll ich das gesagt haben?«, keuchte Lea.

»Zu Diana, deiner Freundin. Sie hat es dann beim Bäcker erzählt, der Bäcker hat es beim Fleischer erzählt und der Fleischer im Gasthof. Und alle freuten sich, wie gut dieses Pestkind von einst doch nun schon gediehen sei.«

Lea bemühte sich, ihren Kopf zu klären, versuchte zu erforschen, ob sie dies gesagt hatte, jenes gesagt hatte, zu wem sie es gesagt haben könnte, falls sie es überhaupt getan hatte. Aber es fiel ihr nicht ein. Möglicherweise hatte sie es einmal sehr viel früher zu Crestina gesagt, aber die würde solch ein Gespräch niemals weitergeben. Sie ging die Reihe der Leute durch, mit denen sie Umgang hatte, der Gemüseverkäufer, die Leute in den Banken, die verschiedenen Kleiderhändler auf dem großen Platz des ghetto nuovo oder die Mitglieder der Gemeinde in der Synagoge. Aber ihr Kopf gab nichts preis, was nützlich sein könnte für diesen Disput, den ihr Moise aufgezwungen hatte.

»Und dann hast du auch noch gelogen, als du neulich gesagt hast, dass die Vogeleltern ihre piepsenden Jungen in jedem Fall wiederfinden«, sagte Moise weinerlich. »Auch das war eine Lüge. Pesteltern haben ihre Jungen überhaupt nicht wiedergefunden, da konnten sie piepsen so lange sie wollten. Sie haben sie verhungern und verdursten lassen. In Venedig, in Spalato, in Livorno. Überall auf der Welt. Auch mich haben meine Eltern verhungern und verdursten lassen, sie haben mich zurückgelassen in einem leeren Haus in Spalato, wo deine Tochter mich gefunden und aufgenommen hat. Und als die dann auch von der Pest geholt wurde, haben mich irgendwelche Leute zu Samson gebracht. Und er hat mich bei dir abgeliefert. Wie ein Kleiderbündel, das irgendwo verloren ging und das niemand mehr haben möchte.«

»Ich habe dich weder verhungern noch verdursten lassen«, sagte Lea und begann leise vor sich hin zu schluchzen. »Ich habe dich gefüttert, gewaschen, gepflegt wie meine eigenen Kinder.«

»Aber ich bin nicht dein eigenes Kind. Ich stamme aus Livorno«, sagte Moise mit einer Spur von Genugtuung, so, als verteile er soeben die Gesetzestafeln an sein Volk. »Meine Eltern waren nur zu Besuch in Spalato, als die Pest sie holte.«

»Was macht das schon«, weinte Lea, »an welchem Ort einen die Pest holt?«

»Für die Kinder in der Jeschiwa macht das etwas. Sie haben alle richtige Eltern.«

Lea sprang auf und begann Moise zu schütteln.

»Du sagst mir jetzt, bitte, sofort, wer dieser Junge ist, der dich ständig quält. Wie er heißt und wer seine Eltern sind.«

Moise entwand sich ihren Händen.

»Er hat keine Eltern mehr«, sagte er dann trotzig. »Seine Mutter ist inzwischen auch gestorben. Er hat nur noch eine Großmutter, aber das ist wenigstens eine richtige.«

»Wo kommen diese Leute her, in welche Synagoge gehen sie?«, erregte sich Lea.

»In die spanische. Sie sind damals geflüchtet, als man die Juden in Spanien und in Portugal gezwungen hatte, zum Christentum überzutreten. Das haben wir in der Jeschiwa gelernt.«

»Sie sind also Marranen«, sagte Lea langsam und zog dabei die Worte in die Länge, so, als bedeute es für sie eine Schwierigkeit, sie auszusprechen.

»Aber deswegen sind sie doch nicht schlechter als wir«, sagte Moise lauernd, »oder etwa doch? Weil sie nicht in die aschkenasische Synagoge gehen wie wir. Weil sie vielleicht ein bisschen fremder sind als wir. Und nicht einmal unsere Sprache kennen.«

»Nein, nein«, wehrte Lea betroffen ab, »natürlich sind sie genauso Juden wie wir auch. Kein bisschen anders.«

»Aber deine Familie kam doch aus Deutschland«, beharrte Moise hartnäckig. »Sie kommen aus Portugal. Deswegen haben sie doch auch eine andere Synagoge. Und sie beten auch anders.«

»Aber es ist der gleiche Gott, zu dem sie beten«, beeilte sich Lea zu sagen, um das Chaos in Moises Kopf nicht noch größer werden zu lassen. »Wir alle hoffen auf den Messias. Und er ist für alle da, ganz gleich, in welcher Sprache sie beten.«

»Und woher weiß man, dass es der Messias ist, wenn jemand kommt und sagt, er sei der Messias? Er könnte doch auch lügen, oder etwa nicht?«

Bevor Moise Lea in weitere Diskussionen über den richtigen oder falschen Messias verwickeln konnte und darüber, ob man ihn so ohne weiteres der Lüge bezichtigen durfte, versuchte Lea, ihr Überraschungsgesicht aufzusetzen.

»Ich hab was für dich«, sagte sie geheimnisvoll, ohne für den Augenblick zu wissen, was sie in dieser Geschwindigkeit zu einer Überraschung deklarieren konnte. Sie wusste nur, dass es normalerweise ein altbewährtes Mittel war, um Moise abzulenken. Aber diesmal gelang es ihr nicht. Moise schüttelte den Kopf und stieg schweigend in seine Schlafkammer hinauf, obwohl es noch keinesfalls an der Zeit war, sich zur Ruhe zu begeben, und es nahezu jeden Abend einen Kampf darum gab, ob es dafür die richtige Zeit war.

In der Nacht fühlte Lea auf einmal, wie ihr Laken emporgezogen wurde, sie spürte den dürren Körper Moises an sich gepresst, seine von Tränen nassen Hände auf ihrem Gesicht.

»Sie haben gesagt, wenn ich nicht tue, was sie mir befehlen, holen mich die pizzigamorti und werfen mich in eine riesige, tiefe Grube. In San Nicolo. Zu meinem Großvater, der dort bereits liegt. Einer von vielen, einer auf dem anderen. Und dann streuen sie Kalk über mich hinweg, sodass ich aussehe, als hätte mich der Bäcker eingestäubt wie einen Laib Brot. Und diejenigen, die dort schon liegen, haben nicht einmal einen Segensspruch mit auf den Grabstein bekommen, es steht dort nur ›Hebrei‹ und diese Jahreszahl: ›1631‹. Nicht ›Seine Seele sei gebunden in den Bund des Lebens‹. Und in der Jeschiwa haben alle gesagt, dass das nicht recht ist.«

Lea drückte Moise an sich, versuchte dabei den Bauch einzuziehen, obwohl sie sich dabei lächerlich vorkam.

»Niemand wird dich von den pizzigamorti abholen lassen«, sagte sie dann und küsste Moises Tränen hinweg. »Niemand. Ich werde dich immer festhalten, ganz fest.«

»Du wirst mich auch nicht in diese große Grube werfen lassen, wo Abram liegt?«, fragte Moise schluchzend.

»Nein«, sagte Lea mit fester Stimme, »ganz gewiss nicht.«

»Und du wirst mich auch nicht bestäuben lassen, mit diesem Kalk, wie einen Laib Brot?«

Lea lachte.

»Morgen werden wir Mamaliga machen, deine Leibspeise. Wir werden sie mit Honig, Zimt und Sahne übergießen und dann wirst du alles vergessen, was dich heute Nacht bedrückt. Und ganz gewiss wirst du keine Angst mehr vor irgendwelchen pizzigamorti haben, die es jetzt gar nicht gibt. Und wenn du mir endlich erzählst, was dieser Junge dir befiehlt zu tun, dann kann ich dir vielleicht helfen.«

Moise rückte von Lea ab und behauptete, müde zu sein.

»Sag es mir«, flehte Lea, »bitte, sag es mir.«

»Sie verlangen, dass ich irgendwelche Zettel zwischen die Steine stecke. Hier im Ghetto«, flüsterte Moise.

»Was für Zettel?«, fragte Lea angstvoll.

»Da stehen Sachen drauf, was die Leute gemacht haben«, sagte Moise zögernd. »Dinge, die sie aber nicht machen dürfen. Und dann kommen diese Männer vom Dogenpalast und holen die Zettel ab. Hat er gesagt. Erst holen sie die Zettel und dann die Leute. Hat er gesagt.«

Lea wäre am liebsten mitten in der Nacht aufgestanden und zu der Großmutter dieses Jungen gegangen, der Moise ständig in Angst und Schrecken versetzte.

»Du darfst das nie tun«, sagte sie dann eindringlich, »hörst du, es ist unrecht, diese Sache mit den Zetteln zwischen den Steinen. Versprich es mir.«

Moise kuschelte sich an Lea und legte sich ihre Hand auf's Gesicht.

»Ich werd's nicht tun«, sagte er dann schläfrig, »weil du meine Mama bist.«