10. Ritt nach Padua

Sie trug Riccardos Kleider, wenn sie sich auf den Weg nach Padua begab.

Sie legte das Gewand, das aus Pantalone, Wams und Hemd bestand, an, als sei es ein Festtagsgewand, obwohl es in den Augen einiger Leute ganz gewiss nicht dazu zählen würde: Es war seit mehr als fünf Jahren nicht gereinigt worden. Sie hatte es so, wie sie es nach Riccardos Tod in seiner versteckten Kammer hinter dem Schrank einst aufgefunden hatte, mit sich genommen, hatte es bei jedem ihrer zahlreichen Umzüge sorgfältig mit umgezogen, hatte das Tuch, in dem sie es verwahrte, regelmäßig ausgeschüttelt, damit die Kleider nicht dem Mottenfraß anheim fielen.

Wenn sie es aus seiner Umhüllung nahm, roch sie daran. Sie sog den Geruch des Stoffes ein, legte ihre Nase prüfend unter die Achseln des Wamses, aber es schien, als habe Riccardo zumindest an dieser Stelle keine Körperausscheidungen gehabt. Der intensivste Geruch lag auch nicht zwischen den Schulterblättern – der Schweiß war ihm ganz offensichtlich nie ›den Rücken hinuntergelaufen‹, wie das so hieß. Lange Zeit hatte sie sogar geglaubt, dass Riccardo überhaupt keinerlei Körperausscheidungen gehabt hatte, aber dann entdeckte sie eines Tages, dass das Bündchen seines Wamses einen ganz leichten Geruch verströmte. Er war kaum spürbar, und nur wer eine gute Nase hatte, konnte ihn überhaupt wahrnehmen. Aber sie war sicher, dass sie ihn zu jeder Zeit beschreiben könnte, wenn es von ihr gefordert würde.

Lange Zeit irritierte es sie, dass dieser Geruch sich nicht einordnen ließ, dass er aus zahllosen verschiedenen Gerüchen zu bestehen schien, für die sie keine Namen fand. Tabak schien eine Komponente zu sein, dann eine ganz bestimmte Seife, die überging in den Geruch von diesen Dufteiern, die an carnevale geworfen wurden, obwohl sie sicher war, dass Riccardo nie eines von diesen Eiern in die Hand genommen hätte. Dann glaubte sie, einen Hauch von Druckerschwärze wahrzunehmen, was ganz gewiss seine Richtigkeit hatte, da er oft Stunden mit Leonardo in der Druckerei verbracht hatte. Und über allem schwebend lag etwas, von dem sie lange Zeit glaubte, es sei ihr eigener Körpergeruch, eine Essenz, die sie einmal von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Wiewohl sie auch hier wieder zweifelte, ob Riccardo diese Essenz in seinen Besitz gebracht hatte, um ihr damit nahe zu sein. Aber solche Vorstellungen waren nie ihre Welt gewesen – ihre Welt war die Welt des Geistes gewesen.

Es war ein frostiger Morgen, an dem sie die Stadt diesmal verließ, und der Weg hatte den Vorteil, dass das Pferd nicht sofort im Matsch versank. Sie genoss es, sich den Wind um die Ohren blasen zu lassen, pfiff sogar vor sich hin, was sie seit langer Zeit nicht mehr getan hatte.

Immer wieder griff sie in die Tasche ihres Wamses, spürte die Würfelhälfte zwischen ihren Fingern. Die Berührung gab ihr Sicherheit. Der Würfel gehörte zu den Erinnerungen, die sie mit Riccardo verband. Sie war damals neun gewesen oder zehn, hatte ein Kätzchen besessen, das eines Tages in die Lagune fiel und darin ertrank. Sie konnte dieses Erlebnis nicht vergessen und hatte von da ab stets schreckliche Ängste ausgestanden, wenn Riccardo nach Padua geritten war, um seine gefährlichen Missionen zu erfüllen. Sie erinnerte sich in aller Deutlichkeit, dass sie sich einmal, als er schon fast einen Fuß im Boot hatte, an seine Beine geklammert hatte und verhindern wollte, dass er die Stadt verließ. Riccardo hatte versucht, sie zu beruhigen. Als alle Mühe vergebens war, hatte er sein Boot wieder verlassen und war mit ihr in den Palazzo zurückgekehrt. Dort hatte er sie an seine Truhe geführt und ein altes Würfelspiel herausgesucht. Er nahm ein scharfes Messer, schnitt einen der Würfel in der Mitte entzwei und gab ihr die Hälfte. Dann hatte er ihr erklärt, dass dies bei den Griechen ein uraltes Symbol gewesen sei und dass man sicher sein dürfe, dass man sich wiederfinde, wenn die eine Würfelhälfte mit der anderen wieder zusammentreffe. Auch nach dem Tod.

Sie hatte daran geglaubt bis zu jenem Tag, an dem sie den Palazzo hatte verlassen müssen und beide Würfelhälften in einem Schächtelchen zusammen gefunden hatte, was wohl kaum seine Richtigkeit hatte haben können. Sie hatte dann irgendwann einmal die eine Hälfte des Würfels auf der Insel vergraben wollen, bei Riccardos Grab, aber da er dieses Grab mit hunderten von anderen Pesttoten teilen musste, hatte sie dann doch darauf verzichtet. Sie hatte dann später einmal die andere Würfelhälfte durchbohren lassen und sie von da an an einer silbernen Kette um den Hals getragen, als Talisman. Und sie hatte dabei stets das Gefühl gehabt, dass Riccardo bei ihr sei, in ihr sei, als liege seine Hand auf ihrem Rücken, streichle ihren Nacken. Als beschütze er sie, warne sie vor Gefahren, die sie nicht erkannte. Das einzige Mal, an dem sie die Würfelhälfte nicht bei sich trug, war sie nur knapp einer Horde von Verfolgern entronnen. Aber das lag weit zurück, sodass sie nun auf ihren Botenreisen nahezu frei von Angst war.

Sie hatte diesmal einen anderen Weg eingeschlagen als sonst. Sie war zunächst ziemlich lange an der Brenta entlanggeritten, hatte den Flusslauf weiter verfolgt und war schließlich bei einem Dorf, das sie nie zuvor gesehen hatte, ins Landesinnere abgebogen. Sollte irgendwer von ihrem Vorhaben erfahren haben, so hatte sie ihn zumindest eine kurze Zeit von ihrer Fährte abbringen können.

Leonardo hatte ihr wie üblich den alten, abgewetzten Ledersack mitgegeben, in dem sich das Manuskript befand. Sie hatte den Sack in ihrer Satteltasche versteckt, verborgen unter dem Proviant, den Leonardo ihr mitgegeben hatte, trotz ihrer Weigerung, ihn anzunehmen. »Du tust das für die Sache«, hatte er kurzerhand entschieden, »also sind wir auch verpflichtet, uns um dich zu kümmern.«

Es war die übliche Geste der Unterwerfung gewesen, die sie damals nach Riccardos Tod ausgeübt hatten. Sie hatten sie nahezu gezwungen, in seine Fußstapfen zu treten: Sie standen vor ihrer Tür, ließen keine Einwände gelten, schleppten sie ab in die Gärten von San Giorgio, jenem Ort, an dem die Buchhändler sich zu ihren geheimen Treffen versammelt hatten, bei denen Riccardo stets dabei gewesen war.

Nicht alle in der Runde waren der Meinung gewesen, dass Crestina für ihre Gruppe eine echte Hilfe war, aber Leonardo hatte ihnen klar gemacht, dass diese Aufgabe das Einzige war, was verhindern konnte, dass Crestina in den Orkus abstürzte.

»Wir brauchen dich«, hatte Leonardo gedrängt, »wir haben mit Riccardo drei Männer durch die Pest verloren, einer unserer Kuriere ist verschollen, und wir wissen nicht, ob er je wieder zu uns zurückkommt. Bei einem anderen hat seine Frau ihn beschworen, diese gefährliche Aufgabe nicht mehr zu übernehmen, solange sie einen Säugling zu Hause hatten.«

Crestina hatte sich zunächst gewehrt.

»Ich bin zwar eine Frau, aber auch mit meinen schwachen Kräften bin ich in der Lage, diesen –«

»Deine schwachen Kräfte reichen gewiss aus, um einen kleinen ledernen Sack auf deinem Pferd zu transportieren«, hatte er sie damals unterbrochen, »und dass du eine Frau bist, ist ein Vorteil.«

»Sie hätten mich neulich bei Nacht auf der Lagune fast geschnappt mit diesen verbotenen Büchern«, hatte sie eingewendet, »und wenn Alvise nicht gewesen wäre, säße ich nun irgendwo hinter Gittern.«

»Du sitzt nicht hinter Gittern, und du wirst es wieder tun, nicht anders, als es Riccardo getan hat«, hatte Leonardo entschieden und ihr ohne weitere Diskussion auch diesmal den ledernen Sack übergeben, den sie nach Padua zu bringen hatte und dort einem Professor übergeben sollte.

»Nicht mal einen Wollballen zur Tarnung diesmal«, hatte sie gemurrt.

»Beim nächsten Mal bekommst du wieder deinen Wollballen«, war Leonardos Antwort gewesen, »diesmal haben wir keinen. Außerdem wissen die Häscher längst von den Wollballen. Und ein Wollballen in einem Sack oder Korb ist schon in der ersten Sekunde höchst verdächtig.«

Der Treffpunkt der Übergabe war stets der gleiche: der botanische Garten in Padua. Die Losung hatten sie geändert, wie bereits zu Riccardos Zeiten. Manchmal hatte sich ihr Bruder lustig gemacht über dieses Getue, wie er es bezeichnete. Er könne inzwischen die Namen des halben botanischen Rosengartens von Padua auswendig und es bereite ihm keinerlei Mühe, ohne Vorbereitung einen Vortrag zu halten über die Geschichte der Rosen: Gallica-Rosen, Damascener Rosen, Alba-Rosen.

Sie hatten Crestina für die heutige Übergabe als Code den Namen einer Rose gegeben, deren Namen nicht eindeutig war wie bei vielen Rosen. Ihre Beschreibung stammte zwar aus einem alten englischen Kräuterbuch, aber Crestina hatte ihr den Namen ›Riccardo‹ gegeben, da sie annahm, es sei die gleiche schwarzrote Rose wie in der Nähe seines Grabs.

Die Bank, auf der die Übergabe stattfinden sollte, stand nicht im Rosengarten. Sie befand sich abseits davon an einem kleinen Teich, der an diesem Tag nicht eben zum langen Verweilen einlud, da seine Wasserfläche mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war und die Fische in der Tiefe des Wassers Schutz gesucht hatten. Aber immerhin dürfte sicher sein, dass bei dieser Kälte weniger Leute Interesse haben würden als sonst, die Fische zu bewundern.

Als sie um die Ecke eines dichten Gebüschs bog, wo sie an einer Kastanie immer ihr Pferd anzubinden pflegte, seufzte sie enttäuscht: Die Bank war besetzt. Und ganz gewiss nicht von jemandem, der bereit war, es mit der Inquisition aufzunehmen. Auf ihr hatte ein uralter Mann mit Stock Platz genommen, in einen weiten alten Mantel gehüllt.

Als sie näher kam, entdeckte sie dann allerdings, dass der uralte Mann ganz offensichtlich nicht ganz so uralt war, wie es aus der Ferne schien. Er sah interessiert über den Teich hinweg, ohne sich durch ihr Näherkommen gestört zu fühlen. Sie kam zögernd heran, setzte sich dann ans andere Ende der Bank und legte ihren Ledersack quer über ihren Schoß. Eine Weile geschah nichts. Für einen Fremden mussten sie den Eindruck erwecken, als seien sie zwei Bewunderer eines winterlichen Teichs, auch wenn dieser an solch einem kalten Wintertag nicht viel Bemerkenswertes bot.

Sie überlegte, was sie tun sollte, da sie keinerlei Tasche oder Ähnliches bei dem Mann entdecken konnte. Und plötzlich war sie auch nicht mehr ganz sicher, wer von ihnen beiden den Anfangssatz sagen sollte.

Nach einer ganzen Weile, als sie bereits das Gefühl hatte, dass die Kälte ihre Beinkleider durchdrang, sah der Mann sie prüfend durch seine dicke Brille an.

»Falls Ihr Euch für den Rosengarten interessiert, müsst Ihr in die andere Richtung gehen«, sagte er dann mit einer schleppenden Stimme, die allerdings nicht gebrechlich wirkte, eher kraftvoll.

Sie nickte, bedankte sich und sagte dann, das sei ja heute wohl die falsche Zeit. Die Rose, die sie bewundern wolle, blühe nur einmal im Jahr.

»Sie ist wohl eine rosa alba. Sie heißt ›Riccardo‹.«

Der alte Mann wandte sich ihr entrüstet zu.

»Ganz gewiss keine rosa alba. Es ist eindeutig eine rosa gallica.« Und von einer Rose, die ›Riccardo‹ heiße, habe er noch nie gehört.

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Sie ist in einem englischen Kräuterbuch beschrieben, schon vor mehr als dreißig Jahren«, beharrte sie.

Der alte Mann machte eine unkontrollierte Bewegung, sodass sich sein Mantel entfaltete und ein brauner Ledersack dabei auf den Boden rutschte. »Entschuldigung, im Alter wird man manchmal etwas zittrig«, sagte er dann und blickte sie Hilfe suchend an.

Crestina bückte sich und hob den Ledersack auf die Bank, aber so, dass ihr eigener Sack nun auf der Seite des alten Mannes lag, der sich umständlich bedankte und meinte, es sei heute kalt. Er habe bereits eiskalte Finger, und seine Füße seien geradezu Eisklumpen.

Crestina beugte sich höflich zu ihm hinüber. Auch sie wolle gleich gehen, aber sie lasse ihm den Vortritt.

Der alte Mann stand wackelig auf, nickte ihr freundlich zu und murmelte ein Dankeschön. Dann trippelte er mit einem Altmännerschritt wieder auf den Weg zurück.

Crestina atmete auf und nahm den anderen Ledersack, der nun neben ihr lag. Dann ging sie rasch in der anderen Richtung davon.

Der Heimweg verlief weniger glimpflich als der Hinweg. Crestinas Pferd scheute an einer unübersichtlichen Stelle an der Brenta und warf sie in hohem Bogen ab. Dann galoppierte es mit wilden Sprüngen davon. Ein Bauer, der Crestina kurze Zeit später mit geschwollenem Knöchel fand, brachte sie auf einem Karren in sein Haus und schickte einen Boten in den fondaco. Eine Stunde später erlöste sie Margarete und ließ sie in einer Sänfte nach Hause bringen.

»Du darfst sicher sein, dass damit deine gefährlichen Unternehmungen ein Ende haben«, sagte sie kopfschüttelnd, »oder etwa nicht?«

»Bist du noch nie von einem Pferd gefallen?«, wollte Crestina wissen.

»Das schon, aber kaum mit diesem ganzen Wust von gefährlichem Beiwerk: Bücherschmuggel auf der Lagune, mit dem Pferd in den Rosengarten nach Padua im harten Frost und Losungsworten, die vollkommen absurd sind: rosa alba, rosa damascena, rosa gallica.«