2. Der Palazzo

»Ich frage mich, weshalb wir eigentlich nicht mit einem unserer Boote zu unserem Palazzo gefahren sind«, sagte Ludovico irritiert, als sie später an Land gegangen waren und zu Fuß weitergingen. »Schließlich hat unser Haus doch ein Wassertor. Zumindest hast du uns jahrelang davon erzählt.«

»Der Geruch des Wassers ist hier übrigens auch nicht besser als zuvor«, stellte Clemens fest. »Vermutlich hast du das meiste ohnehin nicht mehr richtig im Kopf.«

Crestina klopfte ihrem Sohn mit dem Hausschlüssel leicht auf den Arm.

»Mein Kopf funktioniert noch ziemlich gut«, erwiderte sie dann. »Ich hoffe, der deine ist so gut, dass du mir morgen Früh gleich mitteilen kannst, ob der Kontrolleur diesmal die Kontrollmarken richtig angesteckt hat, ob der Lukengast seine Augen besser öffnet als beim letzten Mal und die falsch gelagerten Güter gleich entdeckt, ob die Stauereifirma mit ihren Schauerleuten problemlos zurande kommt und die Kaiarbeiter am Kai diesmal nicht gleich meutern, wenn auch nur das Geringste falsch läuft.«

Sie machte eine Pause und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Und überhaupt sind wir jetzt gleich da, und es lohnt keine weitere Kritik.«

»Aber«, Ludovico zögerte und blieb für einen Augenblick stehen, um einige Träger mit Möbelstücken an sich vorbeizulassen, »ich dachte, der Zugang wäre in einer stillen Gasse. Hier sieht es aus, als zöge gerade jemand aus. Wem hattest du eigentlich für unseren Palazzo die Verantwortung überlassen?«

Crestina schaute beunruhigt auf die Männer, die hastig an ihr vorbeigingen, jeder voll beladen mit Körben und großen oder kleineren Möbelstücken.

»Natürlich Margarete und Lea«, erwiderte sie beunruhigt. »Sie hatten jeweils ein Stockwerk des Hauses gemietet und haben auch von Zeit zu Zeit nach unseren Sachen geschaut. Schließlich können diese Leute ja ebenso gut auch aus einem der Nachbarhäuser kommen.«

Aber bereits in den nächsten Augenblicken wurde klar, dass die Kolonne der Männer nicht aus einem anderen Palazzo kam, sondern aus ihrem. Crestina hielt einen der Möbelträger an, fragte nach seinem Herrn, aber der Mann schüttelte nur verständnislos den Kopf und ging weiter.

»Hast du nicht gesagt, dass es einen venezianischen Dialekt gibt?«, wollte Ludovico wissen. »Vermutlich beherrschst du ihn nicht mehr.«

»Beeilt euch, rennt die Gasse vor und bleibt an der Tür stehen«, sagte Crestina hektisch, ohne auf den neuerlichen Einwurf einzugehen. Die beiden gehorchten und eilten Crestina voraus bis zum Eingang. Bis sie ihre Söhne eingeholt hatte, waren diese mit den Männern bereits in einen aufgeregten Disput verwickelt, der soeben in einen Streit auszuarten schien.

»Sie wissen von nichts, sie kennen hier niemanden. Sie sollen diese Sachen zum Boot tragen, das sei alles«, sagte Clemens leicht verlegen. »Und sie verstehen deine Sprache nicht.«

»Sie verstehen meine Sprache nicht?« Crestina schüttelte empört den Kopf. »Und eure verstehen sie?«

»Wir haben den Dialekt von Vater gelernt«, erklärte Clemens bereitwillig, »du warst dir ja immer zu gut dafür, wie ›das Volk‹ zu sprechen. Hat Vater zumindest gesagt.«

»Es ist Jahre her, dass ich mich bemüht habe, diese Leute zu verstehen«, wehrte sich Crestina, »und Riccardo legte keinen Wert auf irgendwelche Dialekte. Er fand anderes wichtiger.«

»Ja, Vergil und Horaz«, lachte Ludovico und schob einen der Männer zur Seite. »Das wird dir hier wenig nützen. Horaz!«

Inzwischen hatte sich auch Crestina einen Weg in das Innere des Palazzo gebahnt, trat dann allerdings schockiert zurück, wobei sie sich heftig die Nase zuhielt.

»Was um Himmels willen …!«, stieß sie hervor, um gleich darauf in einen Hustenanfall auszubrechen.

Sie husteten alle. Bis auf diejenigen, die ganz offensichtlich die Ursache für diesen Hustenanfall waren: zwei junge Mädchen, schwarze Sklavinnen, die soeben kichernd mit einem Besen einen Berg von Glasscherben durch das gesamte Erdgeschoss zusammenkehrten, um ihn dann vor dem Wassertor liegen zu lassen. Vermutlich störte es sie nicht sonderlich, dass inzwischen Leute in den Palazzo gekommen waren, vermutlich fühlten sie sich als Besitzer dieses Hauses.

»Was sollen wir tun?«, wollte Clemens wissen und blickte seine Mutter fragend an. »Sollen wir sie rauswerfen?«

»Das geht wohl kaum«, sagte Crestina ratlos. »Es kann sich nur um Margaretes Personal handeln, und sie hat schließlich dieses Erdgeschoss ganz regulär gemietet.«

»Das Erdgeschoss und die Treppe, die zum piano nobile führt?«, fragte Clemens und deutete auf die Schalen auf den Stufen, in denen irgendwelche Essenzen vor sich hin brodelten. Schalen, die außerdem im gesamten Raum verteilt waren und dort ganz offensichtlich Versuchszwecken dienten.

»Lea wird Bescheid wissen«, sagte Crestina zuversichtlich, ohne die beiden Mädchen noch eines Blickes zu würdigen, »seht oben nach, ob ihr sie findet. Ihr müsst in der sala nach rechts gehen.«

Sie blieb stehen, sah dann hinüber zur Eingangstüre, an der sie einen jungen Mann entdeckte, der soeben das Haus betrat. Er blickte sie verblüfft an und fragte dann höflich, ohne dabei zu husten, weil er den Rauch vielleicht gewohnt war, ob er ihr helfen könne.

Crestina schaute ihn an, deutete dann auf die beiden kichernden Mädchen und den immer noch größer werdenden Glasscherbenhaufen.

»Falls Ihr es schafft, dass das hier möglichst bald hinausgeschafft wird, dann könnten wir alle besser atmen.«

Der Mann nickte bereitwillig und gab den Mädchen mit der Hand ein Zeichen.

»Gehört Ihr in dieses Haus?«, fragte er dann.

Clemens kam die Treppe herunter.

»Wir können Lea nicht finden, aber oben riecht es zumindest etwas besser.«

Der Mann sah Crestina prüfend an, dann Clemens.

»Seid Ihr etwa Signora Zibatti?«, fragte er und straffte sich etwas.

»Die bin ich«, gab Crestina zur Antwort, »und wer seid Ihr?«

Er sei der Faktor von Margarete, erklärte der junge Mann bereitwillig und nannte seinen Namen, und Margarete sei zurzeit in Nürnberg, richte sich dort ein neues Geschäft ein und bereite eine längere Reise vor.

»Wir haben Lea nicht gefunden«, wiederholte Clemens ungeduldig.

»Wisst Ihr etwa auch, wo Lea ist?«, fragte Crestina in der Hoffnung, dass dieser Faktor alle derzeitigen Geheimnisse dieses Hauses aufklären konnte.

Der junge Mann strich sich verlegen über den Bart.

»Falls Ihr Lea Coen meint, sie dürfte vermutlich noch in Rom sein.«

»In Rom?«, wiederholte Crestina stirnrunzelnd. »Was sollte Lea denn in Rom wollen? Schon damals war sie froh, wenn sie mit ihren kranken Beinen bis zur Rialto-Brücke und wieder zurück ins Ghetto kam. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ihr inzwischen besser geht.«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern.

»Das vielleicht nicht eben, aber es geht um ihren Sohn. Um Moise.«

»Um Moise? Was macht Moise in Rom?«

»Nun«, der Mann wurde von Frage zu Frage verlegener. »Vielleicht habt Ihr davon gehört oder auch nicht. Sie erwarten den Messias.«

Crestina runzelte die Stirn.

»Sie erwarten den Messias in Rom?«

»Eben nicht.«

»Und? Was soll das heißen?«

»Nun, nicht alle erwarten ihn. Oder glauben daran, dass er kommt«, erwiderte der Mann und wandte sich zum Gehen.

»Und?«

»Lea Coen glaubt daran. Moise nicht. Und nun sie ist nach Rom gefahren, in den Serraglio, um Moise dazu zu bewegen, dass er nach Venedig zurückkehrt und auch an den Messias glaubt.«