4. Drei Frauen

Margarete und Lea erschienen einige Tage später, nahezu zur selben Zeit.

Lea wirkte wie üblich abgehetzt, die Haube saß schief auf ihren zerzausten Haaren, obwohl es vermutlich keinerlei Grund für irgendwelche Hetze gab. Zumindest konnte es nicht die Vorbereitung des Sabbat sein, die sie sonst jedes Mal in Sorge gebracht hatte: Heute war Montag und kein Freitag, und die Öllampen und Kerzen für den nächsten Sabbat würde Lea vermutlich am Mittwoch vorbereiten, um nicht in Zeitnot zu geraten, was ihr jedoch selten gelang.

»War er schon hier?«, fragte sie atemlos und riss dabei das Tuch so heftig von ihrem Kopf, dass ein Teil ihrer Haarnadeln auf den Boden fiel.

Crestina schüttelte lächelnd den Kopf. Sie hatten sich Jahre nicht gesehen, und dieser Satz schien ihr nicht unbedingt ein Begrüßungssatz zu sein.

»Ich weiß zwar nicht, wen du meinst, aber eigentlich kann es sich ja nur um Moise handeln.«

Lea atmete tief durch, ging dann auf Crestina zu und umarmte sie.

»Entschuldige. Wegen dieses Kindes vergesse ich noch immer alles, was sich gehört.«

Crestina lachte laut. »Kind! Wie alt ist er denn inzwischen, dreißig oder mehr?«

»So ungefähr«, erwiderte Lea verlegen. »So ganz genau wissen wir das ja nicht. Und es geht ja eigentlich nicht nur um Moise, sondern auch um Ruth, wie du weißt.«

Crestina wusste es zwar nicht, aber da in den nächsten Minuten der Name Ruth ständig wiederholt wurde, konnte es sich nur um irgendeine Verwandte oder Freundin handeln. Als Margarete nur kurze Zeit später eintraf, waren sie bereits mitten im Gespräch über den Serraglio in Rom und wie man dort überhaupt leben könne, das Ghetto von Venedig sei dagegen ein Ort der Erholung, was es jedoch ganz gewiss nicht war.

Margarete stieg in das Gespräch ein, von Lea ebenso wenig begrüßt wie Crestina, aber immerhin hatte sie all die Jahre mit Lea zusammen hier im Palazzo gelebt und wusste um ihre Bedenken wegen der möglichen Schwiegertochter Ruth, die in Rom im Ghetto lebte.

»Was hast du eigentlich gegen diese Frau?«, fragte Crestina irgendwann, als eine Gesprächslücke entstand und Lea bereits aufstehen wollte.

Die Freundin plusterte die Backen auf.

»Sie kann nicht kochen. Sie spricht unsere Sprache nicht gut, weil sie irgendwo aus einem Dorf in Russland stammt, und ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt schreiben kann.«

»Hebräisch schreiben, meinst du doch, oder?«, hakte Crestina nach.

»Ja, natürlich Hebräisch«, antwortete Lea verblüfft, so, als sei es ungehörig zu fragen, was Crestina mit ihrer Frage meinte.

»Aber es gibt sie doch dutzendweise, diese Leute, die mit dieser Sprache ihre Schwierigkeiten haben, sie immer noch nicht können, selbst wenn sie unzählige Male angefangen haben und dann wieder aufgeben. Auch kluge Leute«, wagte Margarete einzuwenden.

»Moise kann jede Frau haben, die er haben will, jede«, empörte sich Lea. »Schönheit allein genügt nicht.«

»Aha, sie ist also schön«, stellte Crestina fest. »Das wusste ich nicht.«

»Woher auch, du warst ja jahrelang weg«, sagte Lea vorwurfsvoll und jetzt müsse sie so rasch wie möglich nach Hause.

Als auch Margarete aufstand, um zu gehen, waren unten Stimmen zu hören, und kurz darauf kam Jacopo mit einem riesigen Ballen mit Kissen, Decken und Polstern die Treppe heraufgekeucht.

»Was ist denn das?« fragte Crestina verblüfft.

»Es soll zu dem jungen Herrn, zu Ludovico«, schnaufte Jacopo unter seiner Last und ging auf die Treppe zu, die in das Obergeschoss führte.

»Wozu braucht er denn so was, dein Sohn?«, fragte Lea verblüfft und befühlte rasch einen der kostbaren Stoffe, die sich Jacopo um den Hals geschlungen hatte, damit sie den Boden nicht berührten.

Crestina seufzte.

»Das weiß ich nicht. Vielleicht hängt das mit seiner seltsamen Vorstellung von seinem zukünftigen Beruf zusammen.«

»Was will er denn werden?«, wollte Margarete wissen.

»Das weiß er eben noch nicht«, erwiderte Crestina ratlos. »Heute will er Kapitän werden und möglichst gleich jetzt in fremde Länder reisen, morgen will er mit Stoffen handeln und übermorgen nach Padua zum Studium und sich …«, Crestina stockte, »… sich dort umsehen. Was immer er auch darunter versteht.«

Die Freundinnen lachten.

»Geduld, Geduld, Geduld«, sagte Lea dann und war ganz offensichtlich froh, dass auch andere Mütter ihre Plage mit ihren Söhnen hatten.

Als Crestina am Abend in Ludovicos Zimmer zum Gutenachtsagen kam, blieb sie verblüfft an der Tür stehen.

»Um Himmels willen, was ist denn hier passiert?«

Der gesamte Raum war ausgeräumt, weder Tische noch Stühle, noch Schränke waren vorhanden, stattdessen bestand das Zimmer nunmehr aus Kissenbergen, die auf Polster geschichtet waren. Dazwischen saß ihr Sohn, gekleidet in muslimischer Tracht.

Ludovico lachte seine Mutter an.

»Nun, was hältst du davon?«

Crestina schluckte und nickte.

»Ja, schon«, sagte sie dann matt. »Hat das irgendetwas mit deinem zukünftigen Beruf zu tun?«

Ludovico sah sie verblüfft an.

»Wie kommst du denn da drauf?«

»Ich weiß nicht, mit irgendetwas muss es doch zu tun haben.«

»Hast du vergessen, dass ich so aufgewachsen bin?«

»Ich erinnere mich nicht, dass jemand von uns in der Familie je so herumgelaufen wäre.«

Ludovico lachte.

»Ich schon. Clemens auch bisweilen. Aber wir haben es natürlich immer vor dir, vor euch, geheim gehalten.«

»Und jetzt?«

»Jetzt?«

Ludovico stand auf und zog einen kleinen Gebetsteppich unter den Kissen hervor.

»Nein, nein, so weit gehe ich nicht«, wehrte er ab, als er das entsetzte Gesicht seiner Mutter sah. »Wir bleiben alle ganz brave Katholiken. Aber Vater ist tot. Und was er sagte, galt und gilt.«

»Das heißt, was ich sage, hat keinerlei Bedeutung?«

Ludovico räkelte sich verlegen auf seinen Kissenbergen.

»So würde ich das nicht unbedingt ausdrücken«, meinte er dann vage, »aber immerhin ist nun doch alles anders, oder etwa nicht?«

Als Crestina spät am Abend auf der Terrasse stand und auf den Kanal hinunterschaute, grübelte sie über die Zeit, die sie mit ihrem Mann Renzo in den diversen Ländern verbracht hatte, und wie fest ihre Bindung an diese Länder noch war. In Zypern hatten sie nur kurze Zeit gelebt, in Alexandria länger, in Konstantinopel am längsten, weil Renzo sein Geschäft dort am besten führen konnte. Da er bei seinen Fahrten nicht jedes Mal seine Familie mitnehmen konnte, hatten sie dort ein Haus besessen, in dem es Gegenstände aus Venedig gab, sodass sie niemals eine völlige Entwurzelung verspürt hatte. Dass ihre Kinder, die nicht hier geboren waren, vermutlich alles anders sehen würden, damit musste sie leben.

Aber Crestina hatte Konstantinopel nie geliebt.

Sie hatte sich dort nie zu Hause gefühlt, nie sicher, auch wenn diese unzähligen Mauern und Festungen ihren Bewohnern dieses Gefühl hätten geben sollen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, in einem Käfig zu leben: eine gewaltige Seemauer, bereits in der Antike zum Schutz seiner Bewohner erbaut, nach der Landseite zu eine ständig erweiterte, gigantische Landmauer. Mauern, die im Laufe der Jahrhunderte Perser, Araber und Awaren abgehalten hatten.

Aber ihr Lebensgefühl war nie so gewesen, dass sie hätte sagen können: Heimat. Es war ihr stets alles fremd geblieben, und ihr Bemühen, diese Fremdheit zu überwinden, war ständig von einem Gefühl des Versagens begleitet. Sie hatte sich – schon kaum, dass sie richtig angekommen waren – gefühlt, als habe sie nur darauf gewartet, problemlos in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Ihre Mutter, die ihre Stiefmutter war und deren Lebensinhalt darin bestanden hatte, irgendwelchen Besuchern irgendwelche Dogengeschichten glaubte erzählen zu müssen, um die Einmaligkeit von Venedig auch ins rechte Licht zu setzen.

Sie, Crestina, erzählte nun stattdessen Sultansgeschichten, wobei ihre Besucher, meist Frauen von irgendwelchen Handelsherren, natürlich die Geschichten des Harems weit am meisten interessierten. Kriege ganz gewiss nicht. Und die Vielzahl der unterschiedlichen Kirchen und Moscheen und überbauten Kirchen und zu Moscheen gemachten Kirchen schon gleich gar nicht. Auch nicht die unterschiedlichen Namen der Stadt, wie lange sie Byzanz hieß und wann sie Konstantin, der erste römische Kaiser, der zum Christentum übergetreten war, in Konstantinopel umbenannt hatte. Dass die Stadt 1453 von den Türken erobert worden war und dass von da ab die Sultane in ihr regierten, war nur im Hinblick auf die vielen Frauen, die die Herrscher haben durften, interessant. Dagegen interessierte man sich sehr viel mehr dafür, wie man türkischen Kaffee zubereitete und ob das Kardamom zu Beginn der Zubereitung hineingegeben wurde oder erst am Schluss.

Sie lebte also in einem Sumpf von Tratsch und Klatsch, Geschichten, die von den Frauen heute als Neuigkeit erzählt wurden und morgen bereits von anderen Geschichten, interessanteren, überholt wurden. Gewiss, sie war die Frau eines Reeders, der etwas galt. Ein Mann, der nicht nur wegen seines Berufes angesehen war, sondern darüber hinaus auch als Mann interessant war, mit dem vermutlich jede der bei ihr zu Besuch weilenden Frauen ebenso gern verheiratet gewesen wäre. Aber Renzo war nicht interessiert an anderen Begegnungen. Er hatte diese eine Frau, Crestina, und sie genügte ihm, er liebte sie. Und Crestina machte sich daher auch keine Gedanken, was außerhalb ihres Hauses geschah, das sie nicht allzu oft verließ: Das Gewühle und Gewimmel dieser Stadt flößte ihr auch noch nach Monaten Ängste ein. Selbst wenn sie einen der zahlreichen Diener als Schutz bei sich hatte. Es war ein Schutz, der keinesfalls immer zuverlässig war. Da sie seine Sprache nicht kannte, gelang es ihr auch keinesfalls, ihm klar zu machen, dass es seine Pflicht erforderte, bei ihr zu bleiben, sie vor Bettlern und Dieben zu behüten. Die meiste Zeit auf diesen Stadtgängen verbrachte sie damit, diesen Diener wieder aufzufinden, bevor sie sich in dem Gewirr von Straßen und engen Gassen heillos verlaufen hatte.

Das Einzige, was sie in dieser Stadt von Anfang an fasziniert hatte, war die Karawanserei. Hier trafen sich die Ankommenden, hier gingen die Abreisenden auseinander. Hier gab es Lagerhäuser, Rasthäuser, Herbergen, Ställe für die Tiere. Wobei sie sich am meisten für die Kamele interessierte, die hier meist gegen die Pferde eingetauscht wurden, weil sie auf den weiteren Wegen nicht mehr nützlich waren. Viele der Wege führten nach Jerusalem. Ein Kamelhengst, an dem ganz offensichtlich niemand der Weiterreisenden Gefallen gefunden hatte, da sie ihn über Tage hinweg einsam in seinem Pferch stehen sah, gefiel ihr. Sie verliebte sich in seine Augen. Sie brachte ihm Karotten mit, streichelte seine Nüstern, sprach mit ihm. So lange, bis eines Tages einer der Kaufherren, die in der Karawanserei abgestiegen waren, sie lächelnd ansprach.

»Ich würde Euch empfehlen, vorsichtig zu sein, er ist zurzeit brünstig. Er beißt.«

Sie bedankte sich höflich, ließ sich aber auch in Zukunft nicht davon abhalten, sich in der Sänfte hierher tragen zu lassen, mit diesem Kamelhengst zu reden und ihm Leckerbissen mitzubringen.

Die Kirche der heiligen Sophia, die inzwischen natürlich längst zur Moschee geworden war, besuchte sie selten. Sie konnte für sie kein Gotteshaus sein zum Beten. Die Höhe dieser Moschee, ihre Weite, ihre Fremdheit ließen sie frieren. Aber sie schwieg über ihre Eindrücke den Frauen gegenüber, mit denen sie zusammentraf und mit denen sie nicht nur diese Sultansgespräche hatte, sondern selbstverständlich auch Frauengespräche: Wie Kinder auf die Welt kamen, wie man verhindern konnte, dass sie diese Welt zu rasch wieder verließen. Und vor allem, was man dagegen tun konnte, dass sie zu häufig kamen – was das wichtigste Gespräch war.

Ihre Geburten waren keine leichten. Und all die Geschichten, die ihr Frauen erzählt hatten, waren keinesfalls übertrieben gewesen. Sie waren so, dass sie sich bereits bei dem ersten ihrer Kinder überlegte, ob sie noch weitere haben wollte: Sie hatte zwei Fehlgeburten, eine Tochter starb kurz nach der Geburt und die Krankheiten der Kinder, die am Leben blieben, hielten sie in Atem.

Und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben, das sie zuvor geführt hatte, ein Leben mit Horaz und Ovid und Riccardo, bei weitem angenehmer gewesen war als dieses Eheleben mit Renzo, unabhängig ob hier in Konstantinopel oder in irgendeiner anderen Stadt.