6. Das ›Hohe Lied‹ Salomos

»Ich hätte dich fast nicht gefunden«, sagte Crestina, als sie ein paar Tage später in Margaretes Wohnräume hinabstieg. »Es riecht heute nach gar nichts.«

Margarete kam ihr lachend entgegen, wedelte mit einem stark riechenden Streifen Papier vor ihrer Nase und öffnete dann die Tür zu ihren Räumen.

»Wenn du ein paar Minuten später gekommen wärst, hättest du mich ganz gewiss gefunden.«

»Du meinst, deine beiden Helferinnen hätten dann schon dafür gesorgt?«

Margarete deutete zu einer kleinen Kammer hinüber und bat Crestina zu sich.

»Sie sind heute völlig zahm«, sagte sie dann leise, »und machen nur brave Arbeiten.«

Die beiden Mädchen saßen auf dem Boden, und während die eine mit einem Spatel Creme aus einem großen Topf in kleine Döschen füllte, beklebte die andere sie mit bunten Aufschriften.

Crestina grüßte freundlich, aber die Mädchen blickten nicht hoch.

»Sie sind nicht gerade höflich«, sagte Crestina irritiert.

Margarete lachte.

»Sie wissen ja auch nicht, wer du bist.«

»Wieso?«

»Nun, in diesem Haus gibt es nur wenige Personen, die man kennen muss, und da klar ist, dass dies nicht mein Palazzo ist und du über Jahre nicht anwesend warst, ist die logische Folgerung, dass die Besitzer andere Leute sein müssen.«

»Du meinst Lea?«, fragte Crestina verblüfft.

Margarete lachte.

»Natürlich Lea. Und dann gibt es noch Moise, der in ihren Augen so etwas wie ein Stammeshäuptling ist, und den sie verehren wie eine Gottheit. Vor allem, weil er lesen und schreiben kann. Und das kann nur eine von ihnen gerade ein bisschen, wie du ja offenbar schon festgestellt hast.«

Crestina hängte ihren Schal an einen Haken und sah sich um.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es dir in all den Jahren ergangen ist und wie weit du deine Ideen verwirklichen konntest. Damals, als ich abfuhr, hast du gerade dein erstes Parfum entwickelt. Aber jetzt«, Crestina trat eine Stufe hinunter in einen anderen Raum, »jetzt sieht es natürlich nach etwas ganz anderem aus. Fast scheint es so, als hättest du deine Duftpalette ins nahezu Unendliche erweitert.«

»Ja, ja, ich weiß«, gab Margarete zu. »Damals hatte ich lediglich den Wunsch, mir mithilfe der Düfte ein Leben aufzubauen, das mich unabhängig machen sollte. Ich wollte einen Beruf, der mir Freude bringen würde, mir ganz allein. Inzwischen ist etwas mehr daraus geworden. Und manchmal ist mir die Verantwortung für alles schon fast zu viel.«

Das, was Crestina nun in den weit geöffneten Nebenräumen des Untergeschosses vor sich sah, erinnerte sie an vornehme Geschäfte in Florenz oder Mailand, die sie früher irgendwann einmal mit ihrer Mutter zusammen besichtigt hatte, als sie noch die Hoffnung hatte, ihre Tochter von ihren Büchern wegzulocken. Und es war auch ganz gewiss nicht nur eine Fülle der unterschiedlichsten Parfüme, deren Flakons in den diversen Regalen standen, es war einfach alles, was damit zu tun hatte: Tiegel mit stark duftenden Salben, Seifen, bemalte Alabastrongefäße und Deckelgefäße für Duftöle, Honigpackungen für stumpfes Haar, Mandelpaste für die Hände, Badesalz und vieles, von dem sie noch nie gehört hatte. Sie betrachtete die ausgestellten Kostbarkeiten, dann drehte sie sich abrupt zu Margarete um.

»Ist das also das, wovon du geträumt hast, was du dir immer vorgestellt hast?«

»Nun, ich habe das erreicht, was ich mir einst wünschte. Vor allem wollte ich keine Abhängigkeit mehr von Familie und Faktor, das war das Wichtigste. Und ich wollte –«

Crestina unterbrach.

»Aber da war doch noch ein Faktor, als wir ankamen, oder etwa nicht?«

»Das stimmt schon, aber er untersteht mir, nicht meiner Familie. Und ich muss keine grapschenden Hände ertragen, wenn er neben mir sitzt. Ich kann ihn entlassen. Und das weiß er. Und er würde sich hüten, etwas zu tun, womit er mein Missfallen erregt. Und außerdem wollte ich natürlich von meiner Arbeit leben können. Gut leben.«

Crestina lachte und machte eine Handbewegung über die Räume.

»Ich habe den Eindruck, dass du sogar hervorragend von deiner Arbeit leben kannst. Das ist ja wohl kaum nur ein Geschäft, das du inzwischen besitzt.«

Margarete lachte.

»Nein, es sind einige. Eines in Mailand, eines in Padua, eines in Florenz, in Genua. Und natürlich in Rom.«

»In Deutschland nicht?«

»Doch natürlich auch. Eines davon habe ich jetzt gerade eröffnet: in meiner Heimatstadt. Was natürlich viel Staub aufgewirbelt hat.«

»Weshalb?«, wunderte sich Crestina.

»Nun, all die Jahre hindurch bin ich in irgendwelchen Fußstapfen gegangen: in denen meines Vaters, meines Bruders, meiner Mutter. Das hier ist jetzt etwas völlig anderes. Es passt nicht zum Bisherigen. Zu den Waffengeschäften meines Bruders schon gleich gar nicht.«

Crestina ging zu einem Regal hinüber, in dem eine Serie von Kolben stand, die durch Glasröhrchen miteinander verbunden waren. Farben wechselten von grün zu rot, von rot zu blau, dann erschien ein magisches Lila – auf einem kleinen Schildchen stand ›Aqua della Regina‹.

»›Aqua della Regina‹, Königinnenwasser, was bedeutet das?«, wollte Crestina wissen.

Margarete lachte.

»Als Katharina von Medici 1533 zur Königin von Frankreich gekrönt wurde, mixten die Dominikanermönche in Florenz, die Gründer der ältesten Apotheke der Welt, der ›Santa Maria Novella‹, ein Parfum für sie, dem sie ihren Namen gaben. Die Königin sorgte dafür, dass ihr Geschenk auch in Paris bekannt wurde, und machte damit die Florentiner Apotheke weltberühmt. Inzwischen werden deren Produkte bis nach China, Indien und Russland exportiert.«

»Und du versuchst es nachzumachen?«, fragte Crestina amüsiert.

Margarete zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, ob es wirklich das ist, was die Mönche damals machten, aber ich hoffe, dass es dem sehr nahe kommt.«

Crestina sah die Freundin prüfend an.

»Darf ich dir eine ungewöhnliche Frage stellen?«

Margarete nickte verwundert.

»Nur zu, ich bin gespannt.«

»Bist du glücklich?«

Margarete runzelte die Stirn, dann lächelte sie vor sich hin.

»Du hast Recht, sie ist wirklich ungewöhnlich, deine Frage.«

Sie nahm Crestina an der Hand, schob sie in einen der kleinen Nebenräume, in denen sie ihre Glasutensilien gestapelt hatte.

»Siehst du, das hier sind Mörser, Kolben, Gläser, Röhren. Sie haben alle Namen. Und es macht mir Freude, mit diesen Dingen zu arbeiten, weil es völlig unterschiedliche Dinge sind: Ich muss mir Flakons ausdenken, mit dem Glasbläser überlegen, was möglich ist und was nicht, ich muss Namen erfinden, die die Leute zum Kauf anregen. Dann sind die Verpackungen wichtig, wenn du solch eine Kostbarkeit verschenken willst, ich denke mir für meine Geschäfte auch die Inneneinrichtung aus, ob Holztäfelung oder Ähnliches, alles erfordert Kreativität. Und das liebe ich. Aber es sind trotzdem leblose Dinge, auch wenn sie Namen haben. Aber das hier«, sie schob einen Vorhang zur Seite, hinter dem ein ziemlich großes Aquarium mit bunten kleinen Fischen zum Vorschein kam, »das hier ist etwas, was lebt. Etwas, an dem ich mich jeden Tag, jeden Abend, sogar nachts erfreue.«

Crestina hatte einen verblüfften Schrei ausgestoßen, ging dann aber näher an den gläsernen Behälter.

»Woher hast du denn die, diese Fische? Sie stammen ja wohl kaum aus dem Kanal?«

Margarete lachte.

»Nein, ganz gewiss nicht. Aber der Bruder des Händlers, bei dem ich in Murano meine Glaswaren besorge, interessiert sich für Fische. Er züchtet sie. Und da ich so begeistert davon war, schenkte er mir eines Tages ein paar davon. Und inzwischen haben sie sich bereits vermehrt.«

Crestina kniete nieder, beobachtete die Fische, zeigte auf diesen, und jenen und stellte Fragen.

»Falls du heute Morgen noch einkaufen gehen willst, solltest du es jetzt tun, sonst kommst du nicht mehr dazu«, warnte Margarete belustigt.

»Brauchst du das?«, fragte Crestina nach einer Weile zögernd. »Brauchst du diese Fische als Gegengewicht zu deiner Arbeit? Ich dachte immer, sie wäre dein Lebensinhalt, eine Arbeit, in der du völlig aufgehst?«

»Das tue ich ja auch, aber …«, Margarete stockte, »ich bin ja die Einzige von euch, die keine Familie hat, keine Kinder hat, niemand, für den sie sorgen kann oder muss. Parfum kannst du nicht streicheln, du kannst nicht mit ihm reden und –«

Crestina lachte.

»Mit Fischen doch wohl auch nicht, oder?«

»Doch, mit Fischen kann man schon reden, man muss nur richtig hinhören, dann antworten sie einem. Diese Lebenslust zum Beispiel«, fuhr sie fort und zeigte auf einen der Fische, der soeben eine wilde Spur über die Pflanzen hinwegzog durch den durchbrochenen Stein hindurchschoss und dann an der Wand des Aquariums die Algen abweidete. »Das ist für mich eine Antwort. Vielleicht ist er ja glücklich, oder was meinst du?«

Crestina lachte verlegen.

»Ja, vielleicht schon. Aber mir wäre es sicher zu wenig.«

»Du hast ja auch Kinder. Und sei es nur, dass du dich über sie ärgern kannst.«

Margarete nahm ein Flakon, tropfte etwas von dessen Inhalt auf ihr Handgelenk, roch daran.

»Es ist noch nicht so weit, es braucht mindestens drei Wochen, manchmal auch mehr, bis es fertig ist.«

»Und wie soll es weitergehen mit dir? Dies alles klingt so, als seiest du doch noch nicht zufrieden mit dem, was du erreicht hast. Und als wolltest du etwas anderes machen. Noch einmal?«

»Nicht etwas anderes«, wehrte Margarete ab. »Ich möchte eigentlich nur noch etwas tiefer in meine Arbeit einsteigen.«

»Tiefer?«

»Ja, mich interessieren all diese Pflanzen, die ich verwende, Pflanzen aus dem Heiligen Land zum Beispiel. Die möchte ich sehen, pflücken und zu neuen Düften machen. Vielleicht.«

Crestina setzte sich auf eine der Truhen und begann zu schnuppern.

»Weißt du, ich habe zwar eine gute Nase, aber da ich nie eine Frau war, die sich besonders viel aus ihrem Äußeren machte – seien es nun Kleider oder irgendwelches Zubehör, dazu gehört natürlich auch Parfum –, bin ich vermutlich nicht die richtige Adresse für all das, was dir da so wichtig ist. Vermutlich kann ich nicht einmal den Duft einer Camelie von einer Zitrone unterscheiden. Kannst du das?«

Margarete dachte kurz nach.

»Camelien duften nicht. Aber vielleicht verblüfft dich das, ich kann, grob geschätzt, etwa tausend Düfte unterscheiden. Und dass Zibet scheußlich riecht, daran erinnerst du dich doch gewiss auch noch.«

Crestina schüttelte sich.

»So grobe Unterscheidungen werde ich gerade noch schaffen, aber kaum mehr. Du hast mich mal Ambra riechen lassen und Moschus, aber da habe ich bereits versagt.«

»Aber du wirst es rasch lernen, warte noch einen Augenblick«, befahl Margarete, als Crestina aufstand, »ich zeig dir's. Ich wollte gerade damit beginnen, als ich dich kommen hörte.«

Sie führte Crestina in einen der Nebenräume, die dem Kanal zu lagen, und bot ihr einen Schemel an. Auf einem Kupfergefäß lag ein Stück Holzkohle, das soeben zu glimmen begann.

»Wir kommen gerade richtig«, sagte sie und nahm aus einer Dose drei unregelmäßig geformte weiße Klümpchen, die sie auf die glühende Holzkohle legte.

»Es dauert noch ein paar Minuten«, erklärte sie dann. »Es geht unterschiedlich schnell. Weil es unterschiedliche Proben sind.«

»Und welche Proben sind es?«, wollte Crestina wissen.

»Warte noch einen Augenblick, du wirst es sicher erraten.«

Nach kurzer Zeit stieg ein leichter Rauch auf, und Margarete wedelte ihn in Crestinas Richtung.

»Nun?«

»Das riecht wie in der Kirche«, sagte Crestina nach einer Weile.

»Du hast es erraten. Dann weißt du natürlich auch, was das für weiße Klümpchen sind.«

»Weihrauch?«, vermutete Crestina.

»Olibanum, das Harz des Weihrauchbaums. Das die Ägypter schon vor Tausenden von Jahren ihren Toten mit ins Grab gaben. Dazu auch Duftöle, Balsame, Kräuter.«

»Und was hat dieser Weihrauch mit deinen Träumen zu tun?«

»Es gibt da eine Straße, die älteste Handelsstraße der Welt zum Mittelmeer. Das Land heißt Weihrauchland. Und im ›Hohen Lied‹ Salomos, das ich sehr liebe, gibt es eine Zeile … ›wie ein Geräuch von Myrrhe, Weihrauch und allerlei Gewürzstaub‹. Und genau das wäre es, was mich interessieren und eine lang gehegte Sehnsucht endlich erfüllen würde.«

»Kannst du genauer sagen, was du meinst?«

»Ich möchte dahin, wo es diesen Weihrauch gibt, diesen Weihrauchbaum. Und dann möchte ich das Harz abschaben von diesem Baum.«

»Du selber?«

»Ich selber«, sagte Margarete und blickte an Crestina vorbei auf den Kanal hinunter.

»Ich, Margarete Helmbrecht aus Nürnberg, möchte in dieses Weihrauchland gehen. Und genau dies tun. Kannst du das verstehen?«