3. Heimkehr ohne Heimkehr

Die nächsten Tage waren wenig geeignet, sich um Leas Probleme mit dem Messias und mit Moise zu kümmern: Es schien Crestina, als ziehe sie in eine neue Stadt ein. Vor allem in ein neues Haus. Ein Haus, das ihr nicht mehr gehörte.

Es begann bereits am frühen Vormittag, als sie in die Küche kam, aus der lautstarke Frauenstimmen zu ihr herausdrangen. Als sie die Tür öffnete, zuckten die beiden Sklavinnen zusammen und ließen vor Schreck fast eine Schüssel fallen, in der sich ganz offensichtlich geschlagenes Eiweiß befand.

»Schlisserbiben«, buchstabierte die eine von ihnen und hielt der anderen ein Buch unter die Nase, »Schlosserrieben«.

»Schlisserboben«, sagte die andere und schob das Buch, ohne einen Blick darauf zu werfen, unsanft zur Seite, da sie ganz offensichtlich nicht lesen konnte.

Der dann folgende Disput in einer Sprache, von der Crestina nicht ein einziges Wort verstand, war heftig und hätte sie nicht eingegriffen, wäre vermutlich die Schüssel mit dem geschlagenen Eiweiß doch noch auf dem Boden gelandet. Um was es ging, war nicht eindeutig zu erkennen, vermutlich, um diese ›Schlisserrieben‹, von denen sie nie zuvor etwas gehört hatte. Auf dem Herd köchelte heißes Öl vor sich hin, und auf dem Tisch standen diverse Vorräte, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun hatten, aber vermutlich für eine Großfamilie hätten reichen können. Wenn sich die Köchinnen einig gewesen wären. Schließlich nahm das eine der beiden Mädchen ein Blatt Papier und malte darauf irgendwelche Gebilde. Dann hielt sie es Crestina aufmunternd entgegen. Aber da diese weder die Zeichnung noch die dazu gehörenden Zutaten erkannte, schüttelte sie lediglich hilflos den Kopf und versuchte, in den Teil der Küche zu gelangen, den sie einst als den ihren betrachtet hatte.

Aber es schien, als hätte es in dieser Küche nie einen Teil gegeben, der je ihr gehört hatte. An den Essensresten, die in irgendwelchen Ecken in irgendwelchen Töpfen vor sich hin krusteten, konnte sie sehen, dass Lea wohl noch immer in Rom weilte, da diese Überreste von irgendwelchen Speisen ganz gewiss nichts mit der jüdischen Küche zu tun hatten. Für wen die ominösen ›Schlisserrieben‹ gedacht waren, ließ sich ebenfalls nicht erkennen.

Crestina hatte soeben ihren Korb vom Schrank heruntergezogen, ein Korb, aus dem ihr ein Durcheinander von Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln und alten Lappen auf den Kopf fiel, als sich die Tür öffnete und der junge Mann vom Tage zuvor hereinkam. Er schüttelte missbilligend den Kopf, nahm den Mädchen, deren Stimmen in der gleichen Sekunde verstummten, das Buch aus der Hand und schob dann die Hälfte der Zutaten auf dem Küchentisch auf ein Brett, sodass nur noch ein überschaubarer Teil übrig blieb. Dann stieg er mit den Mädchen in einen Disput ein, der ganz offensichtlich in derselben Sprache geführt wurde wie zuvor. Es war ein Mischmasch von Worten, das Crestina nur als wildes, undurchschaubares Gewirr aus Lauten bezeichnen konnte.

»Wir haben sie noch nicht sehr lange«, erklärte der Mann entschuldigend, »aber sie sind willig, auch wenn sie bis jetzt nur das kochen können, was sie einst in ihrem Urwald gekocht haben. Eine der beiden kann bereits ein wenig lesen, was jedoch mehr zu Streit führt, als gut ist, da die andere sich im Nachteil fühlt. Und sie dürfen natürlich nicht mehr hier sein, wenn Ihr in die Küche wollt. Ich nehme an, dass wir alle etwas leichtfertig mit den einstigen Abmachungen umgegangen sind, da Ihr ja nicht da wart und Lea Coen über einen längeren Zeitraum ebenfalls nicht.«

Crestina versuchte, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen, und erwiderte lediglich, dass sie nun zum Markt ginge. Der Mann lächelte und verschwand dann.

Sie genoss das Einkaufen am Rialto, auch wenn sie niemand mehr von früher her kannte, sie verweilte auf dem Fischmarkt, wo sie glaubte, sich noch an eine der Frauen zu erinnern, aber an die Namen der Fische musste sie sich erst wieder gewöhnen. Sie kaufte danach Gemüse ein, aber selbstverständlich waren es hier andere Sorten als in Konstantinopel, und sie hatte das Gefühl, als seien sie hier frischer. Dann trat sie, nicht übermäßig befriedigt von ihrem bisherigen Vormittag, den Heimweg an und hoffte, dass nicht ein weiterer Wirbelsturm durch ihr Haus gegangen war.

Aber die Küche war inzwischen in einem ordentlichen Zustand und ein paar in Fett ausgebackene Gebilde standen auf einem Teller auf dem Tisch: »Lasst Euch die ›Schlosserbuben‹ schmecken«, stand auf einem Zettel, der daneben lag, »mit herzlichem Gruß und nochmaliger Entschuldigung, Thomas Pircklin.«

Sie machte sich an die Vorbereitung des Mittagessens, was ungewohnt war, da sie in Konstantinopel natürlich ein großes Hilfspersonal gehabt hatte, das sie hier erst wieder zusammenstellen musste. Jacopo, der Neffe ihres früheren Dieners Jacopo, der an der Pest gestorben war, hatte bis jetzt Grobarbeiten übernommen und war für Dienstbotengänge eingeplant. Ob sie eine Köchin einstellen würde, wusste sie noch nicht. Vor ihrer Abreise hatten sie abwechselnd zu dritt gekocht – Lea, Margarete und sie. Heute erwartete sie zum Essen lediglich Clemens und Ludovico, da sie ihrer Tochter Bianca erlaubt hatte, eine Woche bei einer Tante auf der Insel Pellestrina zu verbringen.

Da ihre Söhne jedoch ganz offensichtlich auf den Schiffen festgehalten worden waren und sich verspäteten, entschloss sich Crestina zunächst zu einem Gang durch das Haus, um die Fremdheit, die sie gegenüber diesem Palazzo bis jetzt empfand, zu überwinden. Er gehörte ihr nicht mehr allein. Sie stellte sich vor, dass sie kaum mehr nur mit einem dünnen Morgenmantel bekleidet durch das Haus gehen konnte, wo sie zu jeder Zeit von Margaretes Faktor oder Moise überrascht werden konnte.

Manche der Möbel waren ihr vertraut, andere dagegen nicht. Und sie wurden auch dadurch nicht vertrauter, dass sie sie berührte, über die Lehnen der Sessel strich, versuchte, ihren Geruch aufzunehmen. Bei manchen Möbeln wusste sie nicht einmal mehr, dass sie ihr überhaupt irgendwann gehört hatten, und bei den Bildern hatte sie den Eindruck, dass sie entweder an völlig anderen Plätzen hingen oder verschwunden waren. Das einzige fest in ihrem Kopf Verankerte waren die riesigen Dogenbilder im Kaminzimmer, an die sie sich erinnerte, bereits von ihrer Kindheit her. Wobei Kindheit in diesem Falle nicht die frühe Kindheit bedeutete, da sie damals in einem höchst bescheidenen Haus in der Stadt gelebt hatten. Der Palazzo wurde erst Teil ihrer Familie, als ihr Vater zum zweiten Mal heiratete und die neue Frau, Donada, den Besitz eines Palazzos als Bedingung für diese Ehe gefordert hatte – kein Palazzo, keine Ehe. Zumindest nicht mit ihr.

Sie hoffte, dass sie ihre Vertrautheit wiedergewinnen würde, wenn ihr Gepäck eintraf, wenn sie all die Dinge, die sie liebte, wieder um sich haben konnte. Aber als ein Teil der Truhen und Kisten endlich am späten Nachmittag ankam, traf sie die Enttäuschung doppelt. Das erhoffte Gefühl der Vertrautheit mit Altbekanntem und des Geborgenseins stellte sich nicht ein. Lediglich die bereits damals halb vermoderte Gondel im androne hatte ihre Abwesenheit überdauert und war inzwischen noch morscher geworden.

Am Abend, als sie auf der Terrasse saß und wie gewohnt ihren Wein trank, vermisste sie die Kühle des Innenhofes ihres bisherigen Hauses und – so seltsam ihr das auch erscheinen wollte – den Ruf des Muezzin. Dagegen irritierte sie das stündliche Läuten der Marangonaglocke vom Markusplatz: Es erschien ihr unmelodisch und bedrängend und so, als wende sie Gott nicht genügend Zeit zu und man müsse sie stündlich an dieses Versagen erinnern.

Flüchtig kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht versuchen sollte, das Zimmer ihres Bruders Riccardo zu besuchen, aber sie gestand sich ein, dass sie Angst vor diesem Raum hatte, Angst vor den Erinnerungen, da sie nicht sicher war, ob sie bereits bereit war, sich ihnen zu stellen. Vermutlich war es viel zu früh dafür. Noch lag der Tod ihres Mannes Renzo kaum ein Jahr zurück. Und wie sie ihr Leben weiterhin gestalten sollte, war ihr bis jetzt mitnichten klar, was möglicherweise auch damit zu tun hatte, dass sie – außer Margarete und Lea – keinerlei Freunde mehr in dieser Stadt besaß. Leonardo, einst der engste Freund Riccardos, war nach Basel gegangen, um dort noch einmal ein Studium zu beginnen und sich aus der ›Alltäglichkeit‹ seiner Druckerei zu befreien, wie er das damals genannt hatte. Wann und ob Leonardo zurückkehren würde, war ungewiss. Und ob er überhaupt je wieder bereit war, zu ihr Kontakt aufzunehmen, ebenfalls. Ihr Abschied damals war nicht eben herzlich gewesen, zumindest von ihrer Seite aus. Und sie hatte damals den Eindruck gehabt, dass er annahm, sie verüble ihm, dass er übrig geblieben war und die Pest sich stattdessen Riccardo als Opfer ausgesucht hatte.

Ihr früheres Leben, ihre wilde Zeit, in der sie zusammen mit den aufmüpfigen Buchhändlern der Stadt der Zensur und der Inquisition getrotzt und verbotene Manuskripte in kühnen Parforceritten unter Wollknäueln in Körben versteckt nach Padua geschmuggelt hatte, war vorüber. Die Isola di San Giorgio, auf der sie damals ihre geheimen Treffen gehalten hatten, war heute vermutlich nichts weiter als eine Insel, auf der Gemüse angepflanzt wurde. Und auf der Fischer lebten, für die sie einst Netze geflickt hatte – als Tarnung. Und um über die Trauer um Riccardo hinwegzukommen.

Nun war sie eine Witwe, die sich um drei Kinder zu kümmern hatte, die ihr über den Kopf zu wachsen schienen. Sie hatte Mutter zu sein, nichts sonst. Und sie war keinesfalls sicher, ob sie damit je zufrieden sein würde.