5. Das ›Pestkind‹

»Was um alles in der Welt soll das?«, fragte Crestina entrüstet und starrte zu der Tür, die in das Kaminzimmer führte, in dem sie mit einem Gast zusammensaß und Kakao trank.

Im Türrahmen stand eine Gestalt mit einem schwarzen Umhang und der Maske mit der spitzen Nase, die in den Pestzeiten die Pestärzte trugen.

»Es sind schon wieder Tauben durchs Dach geflogen und haben den Teppich im Studio beschmutzt, und Clemens war wütend, weil auch seine Bücher darunter gelitten haben und Ludovico«, Biancas Wortschwall unter der Maske wurde langsamer, undeutlicher, ohne jedoch abzubrechen. Dabei blieb ihr Blick durch die Augenschlitze unbeirrt weiter auf dem Mann haften, der mit ihrer Mutter zusammen in der sala an einem kleinen Tisch saß und Kakao trank.

»Ich wusste nicht, dass du Besuch hast«, sagte sie schließlich und nahm die Maske ab, dabei jedoch noch immer die Augen weiterhin auf den Besucher gerichtet.

Der Fremde stand lächelnd auf, streckte Bianca die Hand entgegen.

»Genau genommen bin ich kein Besuch«, sagte er dann amüsiert, »aber Ihr habt mich noch nicht kennen gelernt. Ich bin –«

»Ihr seid …«, Bianca stockte, sah dann ihre Mutter fragend an.

Der Fremde lachte.

»Nun getraut es Euch schon zu sagen: Leas ›Pestkind‹ von einst.«

»Ich wusste nicht, dass Ihr im Haus seid«, sagte Bianca verlegen, »sonst hätte ich Euch gewiss nicht mit unseren Taubengeschichten belästigt, die Euch kaum interessieren werden. Und Euch außerdem mit dieser Maske erschreckt.«

»Taubengeschichten gibt es immer«, wehrte er ab. »Tauben waren auch in unseren Räumen. Aber Jacopo hat das Dach immer wieder in Ordnung gebracht. Und mit der Maske eines Pestarztes könnt Ihr mich nicht erschrecken, ich kenne sie.«

Crestina nahm eine weitere Tasse vom Tablett, aber Bianca wehrte ab.

»Ich will Euch nicht stören.«

»Sie war einige Tage bei der Schwester meines Mannes in Pellestrina zu Besuch, ihr Sohn ist Maskenbildner und seitdem hängt Biancas Zimmer oben voller Masken.«

Moise lachte.

»Ihr stört keinesfalls. Wir haben uns nur über Lea unterhalten und ihr etwas törichtes Verhalten, also diese Fahrt nach Rom.«

»Ich hörte, Ihr seid krank gewesen?«, fragte Bianca zögernd.

Moise winkte ab und zuckte mit den Achseln.

»Ja, aber das wäre gewiss kein Anlass gewesen, diese Reise auf sich zu nehmen. Ich war schon fast wieder gesund, bis sie mich überhaupt fand in diesem Wirrwarr von Serraglio. Sie wollte ein Auge darauf haben, welche Frau ich mir da in Rom ihrer Meinung nach ausgesucht hatte, ob ich den richtigen Kontakt mit den passenden Geschäftspartnern hatte, wo ich mein Haupt des Nachts niederlege und«, er lachte, »ob meine Strümpfe, die ich anziehe, auch ohne Löcher sind.«

Er schüttelte hilflos den Kopf.

»Manchmal vergisst sie, dass ich inzwischen ein erwachsener Mann bin und kein armes bei der Pest in irgendwelchen Häusern in Spalato zurückgelassenes Kind.«

»Der Hauptgrund war aber doch wohl ein anderer, oder?«, fragte Crestina zögernd.

Moise trank seinen Kakao aus und stand abrupt auf.

»Der Hauptgrund war der Messias, der angeblich zu uns kommen soll. Wieder einmal.«

Bianca starrte ihn an.

»Er kommt auch hierher?«, fragte sie dann langsam.

»Natürlich kommt er hierher«, sagte Moise brüsk. »Wenn man an diese Sachen glaubt, kommt er hierher. Sabbatai Zwi, der Erlöser, war auch einer. Sie tun Buße, fasten, verzichten darauf, bei ihren Frauen zu liegen – was in ihren Augen natürlich Sünde ist. Sie wiederholen den Namen des Messias so lange, bis sie heiser sind.«

»Ich dachte, dieser Sabbatai Zwi sei inzwischen zum Islam übergetreten«, sagte Bianca. »In Konstantinopel, als man ihn verhaftet hatte, sofort als er nur einen Fuß auf das Land setzte. Das stimmt doch, oder?«

»Ich frage mich, woher du das weißt«, sagte Crestina verblüfft, »schließlich war ich in der gleichen Stadt wie du.«

»Aber nicht zu der Zeit, als der angebliche Messias eintraf. Da warst du mit unserem Vater irgendwo auf Salzsuche.«

»Auf Salzsuche«, wehrte Crestina amüsiert ab, »das klingt, als seien wir mit einem Salzschaber auf irgendwelchen Salzseen herumgekrochen und hätten Salz abgekratzt.«

»Nicht normales Salz. Du wolltest doch Salzrosen finden, oder etwa nicht?«, fragte Bianca lächelnd.

»Also, ich denke, mein Wunsch nach Salzrosen interessiert unseren Gast wenig«, sagte Crestina steif.

»Dieser Nathan von Gaza, dieser Prophet, er darf doch gar nicht in das Ghetto hinein«, sagte Bianca. »Zumindest habe ich das so gehört.«

Moise stand abrupt auf.

»Entschuldigt, ich bin schon viel zu lange hier.«

Crestina erhob sich ebenfalls mit einem Blick auf ihre Tochter.

»Ich denke, du solltest dich auf einige der Höflichkeitsregeln besinnen, die man dir irgendwann beigebracht hat. Man fragt keine Leute aus.«

Moise verneigte sich höflich.

»Vermutlich war ich in ihrem Alter genauso wissbegierig«, sagte er dann und wandte sich zum Gehen.

Crestina schüttelte den Kopf, als Moise die sala verlassen hatte.

»Der Umgang mit deinen Brüdern scheint dir nicht ganz zu bekommen«, sagte sie dann. »Wir sollten so bald wie möglich sehen, dass du eigene Freunde bekommst. Freundinnen. Und eine Dienerin, die nur für dich da ist und auf dich Acht gibt, dass du dich wieder einfügst in diese Stadt.«

»Seit wann ist Fragen verboten?«, begehrte Bianca auf. »Ich habe ein Leben lang fragen dürfen: Als wir in Alexandria lebten, als wir in Zypern lebten und auch als wir in Konstantinopel lebten. Und als Vater noch lebte«, fügte sie dann trotzig hinzu.

»Jedes Land hat seine eigenen Sitten«, sagte Crestina freundlich. »Wir leben nun hier. Und zwischen Venedig und den früheren Orten, an denen wir wohnten, besteht ein großer Unterschied.«

»Oh, ja«, spottete Bianca, »das stimmt. Und das vulgare wirst du mir ganz gewiss auch nicht erlauben. Da muss ich dann wohl zu meinen Brüdern gehen. Oder am Ende gar zu Jacopo.«

Crestina starrte ihre Tochter an.

»Von Jacopo wirst du ganz gewiss kein vulgare lernen, schon sein Onkel, der damals in unserem Haus diente, achtete darauf, dass ich das Richtige hörte und lernte.«

»Natürlich. Vergil, Cicero und Horaz«, spottete Bianca. »Man könnte meinen, dass es unseren Vater, bei dem du diese hehren Dinge nicht gelernt hast, nie gegeben hat. Und man könnte ebenfalls glauben, dass Riccardo auch heute noch nicht tot ist. Kaum bist du in dieser Stadt, wird er wieder lebendig. Und sei es nur dadurch, dass alles gilt, was er dir früher beibrachte. Ich warte nur darauf, bis auch wieder dieser seltsame Bartolomeo von den Toten im Canale Orfano aufersteht.«

»Aus dem Canale Orfano kehrt keiner mehr zurück«, erwiderte Crestina abweisend, »nicht einmal Bartolomeo.«