9. In den Sümpfen

Crestina sah den Hut mit den fleckigen Dellen und der zerknautschten Pelzkrempe im Schilf erst, als sie ihn mit den Füßen fast berührte. Der Hut wirkte in seiner Schäbigkeit so, als sei er irgendwann dort vergessen worden, Schnee und Eis waren über ihn hinweggegangen und hatten ihm zu einem unverwechselbaren Aussehen verholfen, das gewiss nicht alltäglich war. Man hätte allerdings ebenso gut vermuten können, sein Besitzer habe sich bereits in die ewigen Jagdgründe begeben und zu dem Hut müsse unbedingt eine Leiche gehören, die schon seit geraumer Zeit darauf wartete, entdeckt zu werden.

Das dichte Schilfgeflecht gewährte keinen Blick auf das, was unter dem Hut verborgen war, und Crestina sah erst beim zweiten Hinblicken, dass es sich um ein Gesicht handelte, das mit angestrengtem Blick über die Lagune starrte. Der Mann hielt eine Flinte in der Hand. Der Mann saß in einer halb vergrabenen Tonne. Der Mann erinnerte sie an etwas.

Zu weiteren Überlegungen kam sie nicht, da auf einmal einige Dinge nahezu gleichzeitig geschahen: Ihr Fuß trat auf einen dürren Ast, der mit einem kräftigen Knacken auseinander brach, ein unterdrückter Fluch wurde laut, dann flog ein Schwarm Enten hoch.

Das Gesicht unter dem zerknautschten Lederhut wandte sich zornig um. Der Mann starrte sie einen Augenblick an, dann seufzte er ergeben.

»Das hätte ich mir ja denken können«, sagte er und blickte zu den Enten empor, die inzwischen aus der Reichweite seines Gewehrs davongeflattert waren.

»Das waren Königsenten«, fuhr er mit unterdrückter Stimme fort, so, als bestehe immer noch eine geringe Hoffnung auf diesen Fang. »Zum ersten Mal seit den letzten beiden Jahren waren es Königsenten.«

Crestina murmelte eine Entschuldigung, dann betrachtete sie den Mann genauer. Erst jetzt fielen ihr einige Gipsflecken auf, die diesen einstmals braunen Lederhut zierten, so, als sei versucht worden, sie zu einem besonders kunstvollen Muster zusammenzustellen.

»Was hättet Ihr Euch denken können?«, fragte sie schließlich, während sie in ihrem Gedächtnis kramte, um ihre Erinnerung hochzuspülen. Der Mann schob sich mühsam aus seiner Tonne heraus und lehnte das Gewehr an einen Baum.

»Alles«, erwiderte er dann und schaute sie prüfend an. »Einfach alles.«

Sie blieb stehen, sah ihn unschlüssig an und überlegte, ob sie zum Angriff übergehen sollte, da Riccardo ihr einst beigebracht hatte, dass dies immer die beste Verteidigung sei.

»Es waren schließlich nicht Eure Enten«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er kniff die Augen zusammen. »Ach, ja«, sagte er dann gedehnt und zupfte das Schilf von seiner Jacke. »Wessen Enten waren es dann?«

Sie wurde unsicher, stellte ihren Korb auf den Boden, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, dabei entdeckte sie halb verdeckt einen Eimer mit Meeräschen. Ein Raubfischer also, dachte sie grimmig. Einer, der sich seine Mahlzeit zu jeder Zeit dort holt, wo er sie bekommen kann. Jacopo fiel ihr ein, der sich stets darüber geärgert hatte, wenn er jemanden dabei erwischte, der ihm die Meeräschen wegstahl.

»Und wessen Meeräschen sind es?«

Der Mann nahm den Hut vom Kopf, schüttelte das Schilf ab.

»Ich nehme an, Ihr wisst so gut wie ich, dass es ein Gesetz gibt, das es gegen ein paar Unzen erlaubt, dass jeder Mann, der eine Flinte und ein Boot besitzt, sich in der Frühe aus der Lagune seine Mittagsmahlzeit besorgen darf. Ich besitze ein Boot. Ich besitze eine Flinte. Sonst noch weitere Fragen?«

Sie starrte ihn an, stutzte, dann war sie plötzlich ganz sicher, dass dieser Raubfischer der ungebetene Gast der limonaia gewesen war.

»Und im Übrigen ist der See mit den Meeräschen verpachtet«, sagte der Mann jetzt mit leiser Stimme, aber so, als gehöre ihm die gesamte Lagune. Und als könne er ihre Gedanken erraten.

»Von wem?«

»Von wem?« Der Mann lachte. »Was interessiert das Euch? Von Euch doch wohl nicht, oder?«

Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er sehr wohl gepachtet war, von ihrer Familie, seit alters her. Dann entschied sie sich dagegen. Wenn er arm war und gezwungen, seine Mahlzeiten auf diese Art und Weise sich zu besorgen, wollte sie ihn nicht demütigen. Zudem war sie nicht ganz sicher, ob sich die Verhältnisse nicht vielleicht inzwischen geändert hatten. Ihren alten Advokaten hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, und Leonardo verschonte sie mit solchen Lappalien, weil sie es so wollte.

Der Mann packte inzwischen seine Sachen zusammen, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Sie blieb stehen, schaute ihm zu und versuchte, dabei nicht den Eindruck zu erwecken, als müsse sie die Insel bewachen, obwohl sie immer die Gewissheit gehabt hatte, dass dies ihre Insel war. Für Crestina war sie es immer gewesen, und es hätte sie dabei keinesfalls gestört, wenn es in Wahrheit anders gewesen wäre.

»Ich wollte Euch nicht verjagen«, sagte sie plötzlich mit schlechtem Gewissen und wandte sich zum Gehen. »Sicher gibt es noch mehr Enten an diesem Morgen.«

»Gewiss. Aber bestimmt keine Königsenten«, sagte er mürrisch, »die habt Ihr gründlich verjagt. Und überhaupt«, fuhr er dann fort und blickte misstrauisch auf ihre Jagdtasche, die sie lose um die Schulter gehängt hatte, »ich könnte Euch genauso gut fragen, was Ihr denn auf dieser Insel macht? Wer Euch das Recht gibt, hier zu jagen?«

»Vielleicht geht es mir wie Euch«, sagte sie lächelnd. »Ich hoffe, dass mich niemand dabei erwischt. Außerdem ist die Tasche leer«, fügte sie hinzu und ließ ihn hineinschauen. Dann nahm sie ihren Korb vom Boden und wandte sich um. »Im Übrigen suche ich Kräuter«, erklärte sie im Weggehen.

»Kräuter? Zu dieser Jahreszeit?« Er kam näher, warf einen Blick in den Korb und sah mit Verblüffung die fein säuberlich getrennten Fächer, die unterschiedliche Pflanzen enthielten und einen starken Duft ausströmten.

»Ist das Nana Minze?«, fragte er erstaunt. »Wo habt Ihr die denn gefunden? Und was ist das Übrige, wächst es alles hier auf dieser Insel?«

»Ich besuche die kleinen Inseln in diesem Umkreis. Und ich kenne die Stelle, an der die Minze wächst. Zu dieser Jahreszeit sind es natürlich nur noch Reste vom vergangenen Jahr«, sagte sie beiläufig.

»Ich denke, es gibt sie nur in Marokko«, sagte er und roch nochmals in den Korb, den sie ihm entgegenhielt.

Sie lachte.

»Mag sein, aber vieles, was eigentlich woanders wachsen sollte, habe ich auch hier auf den Inseln gefunden. Ich vermute bei manchem allerdings stark, dass unsere frühere Dienerin, Anna, die sich gut mit Kräutern auskannte, sie sich irgendwohin gepflanzt hat, wo sie gedeihen konnten und wo nur sie den Platz kannte.«

»Die Wurzeln sind Iriswurzeln?«, fragte er und zog die Luft ein. »Es riecht nach Vanille?«

»Ja, es sind Iriswurzeln«, gab sie widerwillig zu. »Aber nicht von dieser Insel.«

»Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, in Eure Waidgebiete einzubrechen«, wehrte er ab. »Und bei manchem, was ich hier sehe, wie zum Beispiel dieses Kraut, bei dem ich den Namen nicht mehr kenne, weiß ich nur, dass es gegen Blitzschlag, Lanzenstiche und bösen Zauber helfen soll. Aber ich glaube ohnehin nicht an seine Wirkung.«

»Ihr vergesst das Liebesorakel«, spottete sie.

Er lachte. »Jaja, das Liebesorakel. Habt Ihr es schon einmal ausprobiert?«, fragte er dann amüsiert.

»Ich sammle das Kraut für eine Freundin«, erklärte sie, »nicht für mich.«

Er sah sie prüfend an, wandte sich seiner Angel zu, hielt dann inne.

»Wegen mir könnt Ihr gerne weiterhin Eure Meeräschen fangen, falls Ihr das so gewohnt seid«, sagte sie schließlich.

»Ihr wisst davon?«, fragte er misstrauisch. Dann lachte er. »Ihr könnt es ja gerne in la bocca beichten, die cattaveri interessieren sich ganz gewiss dafür.«

»Mag sein«, sagte sie ruhig und wandte sich erneut zum Gehen.

»Habt Ihr ein Boot?«, fragte er plötzlich, mit einer Spur von Neugierde.

»Zum Schwimmen von San Marco bis hierher und wieder zurück ist es wohl zu weit«, sagte sie bissig.

»Ist es intakt?«, wollte er wissen.

Sie blieb verblüfft stehen.

»Mein Boot? Natürlich ist es intakt. Ich pflege nicht mit undichten Booten wegzufahren. Ihr vielleicht?«, fragte sie dann, weil er sich am Ohr kratzte.

»Nein, natürlich nicht. Aber meines leckt wirklich. Ich sitze hier fest und muss warten, bis mich jemand abholt. Vielleicht seid Ihr ja so gnädig und nehmt mich mit?«

»Ist das nicht auch für einen Mann ein wenig zu abenteuerlich, mit einem lecken Boot in die Sümpfe zu fahren und auf Gottes Hilfe zu hoffen, bis irgendwer kommt und einen mitnimmt?«, spottete sie. »Ich liege dort drüben«, erklärte sie dann und deutete über das Wasser hinweg. »Aber ich fahre jetzt gleich zurück. Tut mir Leid für Eure nicht gefangenen Meeräschen.«

Er holte einen zweiten Eimer unter einer Baumruine hervor und hielt ihn ihr schmunzelnd entgegen.

»Ich habe bereits welche gefangen. Wenn Ihr mich nicht verratet, lade ich Euch sogar zu einer Fischmahlzeit ein. Natürlich nur, wenn Ihr Euch nicht scheut, mit einem Dieb eine Mahlzeit gemeinsam zu haben.«

Sie machte das Boot los, ohne ihm zu antworten, blickte sich dann um. »Wo habt Ihr Eures? Wir könnten es hinter uns herziehen?«

Er kratzte sich wieder am Ohr.

»Dazu ist es zu schwer«, sagte er zögernd.

»Was ist es denn für ein Boot?«

Er zögerte.

»Eine vipera«, sagte er dann rasch.

Sie sah ihn misstrauisch an, zuckte dann mit den Schultern. »Es ist Eure Sache«, entschied sie, mit dem Gedanken im Kopf, dass irgendetwas mit diesem Mann nicht seine Richtigkeit hatte. Eine bragozzo hätte sie verstanden, aber eine vipera hätte ihr Boot ohne weiteres geschafft.

Er wollte ihr das Ruder aus der Hand nehmen, sie wehrte brüsk ab.

»Ich kann das schon. Ich mache das schon seit Jahren.«

Einige Minuten später bereute sie es allerdings, als er in das Wasser blickte und dann hochsah.

»Wenn Ihr auf diese Art weiterrudert, werden wir genau an der gleichen Stelle stecken bleiben wie ich zuvor. Und …«, er zögerte, »… nun ja, Euer Ruderschlag ist zu hastig, aber das wisst Ihr vermutlich.«

Crestina atmete tief durch, gab ihm das Ruder in die Hand und drehte sich um, sodass sie ihm den Rücken zuwandte.

»Ich wollte Euch nicht verletzen«, sagte der Mann rasch und umruderte geschickt einen hochgespülten Baumstamm. »Ich bin froh, dass Ihr mich mitnehmt.«

»Dein Ruderschlag ist zu hastig, du musst ruhig durchziehen, nicht so heftig.« Crestina glaubte Riccardos Stimme zu hören, so laut, als stünde er neben ihr. »Lass dir Zeit, niemand hetzt dich.«

Sie schloss die Augen, der Mann betrachtete sie prüfend und spähte dann aufmerksam zu einer kleinen Insel hinüber, auf der ein Junge ihm zuwinkte. Die Insel gehörte zu den Salinen, die sie früher mit Riccardo besucht hatte, wobei sie nicht mehr wusste, ob sie damals im Besitz ihrer Familie gewesen war oder nicht. Es war alles bereits viel zu weit weg, dachte sie bisweilen, manches schien ihr bereits am anderen Ende der Welt zu sein, obwohl es soeben erst geschah. Manchmal tauchten Bilder vor ihr auf, blieben für Sekunden lebendig, formten sich zu Geschichten. Geschichten, die sich aufbauschten, durch ihren Kopf waberten, sich einnisteten, wenn sie ihr gefielen. Die Bilder der Sümpfe zum Beispiel.

Es war Anna, die sie als Kind bereits mit dieser magischen Welt der Sümpfe vertraut gemacht hatte. Sie hatte sie lieben gelernt, und später als junges Mädchen war dieses Gefühl, in einer völlig anderen Welt zu sein, wenn sie nur einen Fuß auf diesen oft schwankenden Boden setzte, noch intensiver geworden. Natürlich waren diese Besuche ohne das Wissen der Eltern geschehen, und nicht einmal Riccardo war in diese Verschwörung mit eingeweiht gewesen.

»Was wird ein Mann schon darüber wissen, was es in den Sümpfen zu suchen gibt?«, pflegte Anna stets abfällig zu sagen, so, als seien Enten, Blesshühner und Bekassinen Frauensache. Aber natürlich ging es nicht nur um Enten und Bekassinen. Es ging um Kräuter, die Anna ›dort irgendwo‹, wie sie sagte, zu suchen pflegte, wobei dieses Irgendwo ein sehr genau umrissener Ort war, den eben nur sie kannte und von dem nicht einmal sicher war, ob Anna bei diesen Orten nicht vielleicht sogar selbst die Hand im Spiel hatte. »Das gab's früher hier nicht«, konnte sie zum Beispiel flüsternd und mit verschwörerischem Ton sagen. »Ich habe dafür gesorgt, dass es jetzt hier wächst.«

Crestina stapfte also bereits damals bereitwillig hinter den breiten Rockschößen Annas hinterher, einen Korb am Arm, auf dem Kopf eine Haube, sodass sie sich kaum von den Bauernmädchen unterschied, wenn jemand sie dort angetroffen hätte. Aber es traf sie natürlich niemand dort an. Anna hatte ihre Schleichwege, sie wusste genau, in welchem Monat sie dieses oder jenes Kraut finden und ernten konnte, und sie wusste ebenso gut, wie es zu verwenden war.

»Den Fenchel so spät wie möglich im Herbst oder im Winter, erst, wenn die Dolden schon ein paarmal geerntet sind, dann nimmt man die ganze Pflanze. Sein Öl ist dann fast um die Hälfte höher als in der Erntezeit«, konnte sie zum Beispiel sagen. Oder: »Die Hagebutten sind natürlich nicht nur für den Tee. Wenn du die Kerne auspresst, dann hast du ein wunderbares Hautöl, das man schon im Altertum verwendet hat.«

Im Palazzo gab es niemanden, der sich nicht auf Annas Heilkünste verlassen hätte. Die Diener wollten ohnehin keinen dottore und die Familie Zibatti schwor ebenfalls auf Annas Künste. Der Dottore wurde nur für Crestinas Stiefmutter bemüht, und da ging es weniger um echte Krankheiten als um eingebildete.

»Ich werde gewiss den Schlagfluss bekommen, wenn ich nicht möglichst bald in eines dieser berühmten Bäder gehen kann«, pflegte sie in gewissen Zeitabständen zu jammern, wobei die Bäder lediglich dazu dienten, ihren neuesten Kleiderstaat vorzuführen und mit ihrem Cicisbeo zu schäkern. Oder: »Weshalb kann mir niemand erklären, woher diese schrecklichen braunen Flecken auf meiner Hand herrühren«, konnte sie klagen, und jedermann rannte dann mit Schüsseln und Rosenwasser herbei, mit Salben und Tinkturen, wovon die braunen Flecken allenfalls stärker wurden, als sich in Luft aufzulösen.

Crestinas Erinnerungen und Sehnsüchte an Lagune und Sümpfe hatten die Zeit nach Riccardos Tod überstanden. Genau genommen hatten diese Sümpfe ihr geholfen, die Leere auszufüllen nach ihren endlosen Umzügen in der Stadt, in denen sie selbst weder Sinn noch Erfüllung gefunden hatte. In den Sümpfen dagegen konnte sie zwischen den einzelnen Schilfinseln umherstreifen, konnte mit schmutzverschmierten Kleidern, die sie erst wechselte, wenn sie wieder in die Stadt zurückkehrte, stundenlang auf einem Stein sitzen und in den Himmel blicken. Wenn sie zurückkam mit ihrem Boot, das sie sich irgendwann angeschafft hatte, weil sie nicht auf die Hilfe von irgendwelchen Bootsführern angewiesen sein wollte, hatte sie stets das Gefühl, dass sie einen winzigen Schritt ihrer Gesundung entgegenging. Einer Gesundung, die allerdings nie allzu lange anhielt, da sie fast jedes Mal mit nahezu magischer Gewalt am Ende ihrer Tour meist auf jener Insel landete, die das eigentliche Ziel ihrer Fahrten auf der Lagune war: die Insel, auf der Riccardo damals an der Pest gestorben war. Die Insel, auf der sie noch immer diese schwarzrote Rose wässerte, damit sie jedes Jahr von neuem zur Blüte kam.

Nun, nach diesem wenig glücklichen Treffen mit Leonardo vor kurzem, das sie mehr als unzufrieden zurückgelassen hatte, war ihr Bedürfnis stärker denn je gewesen, wieder einmal zu dieser Insel, die sie Riccardos Insel nannte, zu fahren. Aber dann kam urplötzlich die Erinnerung an die anderen Sumpfinseln, die sie liebte: Sie erinnerte sich plötzlich an den kleinen Teich mit den Meeräschen und an ganz bestimmte Kräuter, auch wenn jetzt nicht die richtige Zeit für die Ernte war.

Als sie an diesem Morgen daher aufgebrochen war, war es kaum ein Tag, der zu einem längeren Verbleiben in der Lagune verlockt hätte. Es war ein tiefgrauer, verhangener Tag, nicht die Spur eines Farbtupfens war am Himmel auszumachen. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, und es schien, als ob der nächste Regen bereits über dem Wasser hing. Möglicherweise stand sogar das nächste acqua alta bevor, das Hochwasser, und sie stellte sich vor, dass sie mit ihren nassen Schuhen über den überfluteten Markusplatz gehen würde, und wenn sie Pech hatte, würde irgendein ungeschickter Mensch sie möglicherweise von diesem schmalen Steg ins Wasser stoßen, wie es ihr bereits einmal passiert war. Aber trotz des unfreundlichen Wetters hatte sie stets das Gefühl einer besonderen Lebendigkeit, wenn sie hier abtauchte. Die absolute Stille, die nur in großen Abständen vom Flügelschlag irgendwelcher Vögel durchbrochen wurde, beruhigte sie, machte sie fröhlicher, als sie es sich zu erhoffen wagte. Niemand, der sie nach diesem Palazzo fragte, der ihr aufgezwungen worden war, niemand, der wissen wollte, ob sie endlich eine Bleibe gefunden hatte in dieser großen Stadt, niemand, der sich darüber mokierte, dass sie mehr oder weniger ›aus Truhen lebte‹, weil sie zu jeder Zeit bereit sein wollte zum Aufbruch.

Jetzt, da sie sich der Salineninsel näherte, erlosch ihre Heiterkeit allmählich, weil sie sich im Unklaren war, wie sie diese Begegnung mit dem Unbekannten einstufen sollte. Wie sie sie beenden sollte, ohne weitere Unhöflichkeiten zu begehen. Bis jetzt hatte keiner von ihnen auch nur den Ansatz gezeigt, seinen Namen preiszugeben.

»Ihr braucht Euch nicht weiter zu bemühen«, sagte der Mann hastig, als das Boot am Strand auflief, »mein Helfer ist bereits da. Ihr braucht das Boot auch nicht erst festzumachen, es ist seicht hier.«

Sie sah einen Jungen am Ufer, konnte aber kein Boot bei ihm entdecken.

»Ich frage mich, wie Ihr in die Stadt zurückkommen wollt«, sinnierte sie. »Ohne Boot dürfte es schwierig sein.«

»Ich will nicht in die Stadt«, antwortete er rasch. »Ich bleibe hier.«

»Hier? In den Salinen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Viele Salinenarbeiter bleiben an bestimmten Tagen in den Salinen. Das Salz wird morgen abgeholt.«

Also Dachdecker, Maurer und jetzt auch noch Salinenarbeiter, überlegte sie, als sie das Boot wendete, die Meeräschen sollten ihm gut bekommen. Vermutlich teilte er sie mit dem Jungen am Strand vor der baufälligen Hütte, die am Rande der Salzfelder stand.

Der Abschied war mehr als kühl. Der Mann nickte ihr zu, murmelte etwas undeutlich vor sich hin, was ein Danke sein konnte, dann sprang er ans Ufer und winkte. Sie winkte zurück.

Als sie später ihren Bootsplatz am Kai erreichte, hatte sie das Gefühl, als sei das Geheimnis, das diesen Mann umgab, noch um etliches größer geworden. Und sie dachte, dass sie ihr beiderseitiges Abschiedswinken auch ebenso gut hätten bleiben lassen können, da keiner von ihnen beiden etwas damit hatte zum Ausdruck bringen wollen. Und vermutlich würde sie diesen Mann auch ganz gewiss nicht so rasch wiedersehen, falls er nicht eines Tages ein zweites Mal ungebeten vor der limonaia auftauchte.

Wobei sie unsicher war, ob sie dies wollte oder nicht.