13. Limonaia II

Der zweite Besuch in der limonaia begann mit einem Albtraum.

Crestina hatte das Boot kaum verlassen und am Ufer vertäut, als ein ohrenbetäubender Lärm zu vernehmen war: Kinderschreie, Hundegebell, dazwischen aufgeregte Rufe von der Höhe der Villa, und über allem das wütende Gekreische eines Papageis.

Bevor sie noch ausmachen konnte, was die Ursache des Lärms war, kamen zwei riesige Hunde angerannt, die sie mit wütendem Bellen empfingen. Sie blieb stehen, sprach beruhigend auf die Hunde ein, dann folgte eine Schar von Kindern, eine Frau in dem Gewand einer Dienerin. Ein Mann, der Kleidung nach kein Venezianer, rannte auf die Hunde zu und bemächtigte sich der Halsbänder.

»Das hier ist Privatbesitz«, sagte er dann keuchend, halb entschuldigend, halb anklagend. »Die Tiere sind keine Fremden gewohnt.«

»Nun, mich werden sie wohl ertragen müssen«, sagte Crestina, wobei sie weiterhin mit leiser Stimme sprach, um die Hunde nicht erneut zu reizen. »Ich wohne hier.«

Der Mann sah sie verblüfft an, scheuchte die Hunde zur Seite, die sich bereits zum nächsten Angriff rüsteten.

»Und wo bitte?«, wollte er dann wissen und kniff die Augen zusammen.

»In der limonaia«, erklärte Crestina und deutete den Hang hinauf. »Dort oben.«

»Nun, die Kinder spielen dort oben im Baumhaus«, sagte der Mann zögernd, »gehört das etwa auch Euch?«

»Ja, das tut es«, sagte sie, amüsiert über das betroffene Gesicht des Mannes, »aber Kinder, die in einem Baumhaus spielen, bekommt Ihr nicht so leicht wieder herunter.«

»Ich werde fragen«, sagte der Mann misstrauisch, und Crestina war sicher, dass er ihr keinesfalls glaubte, dass sie hier irgendetwas zu sagen hatte.

»Es hieß, das gehört alles zu unserem Grundstück«, murmelte er im Weggehen, »und es hieß außerdem, wir seien hier weit und breit ohne Nachbarn.«

Crestina belud ihren kleinen Karren, und die Hunde begannen erneut zu bellen, als sie auf die limonaia zuging. Der Mann bemühte sich vergebens, sie zu beruhigen, aber das Gebell wurde eher noch stärker. Erst als ein Junge, kaum größer als die beiden Hunde, herbeirannte und sie am Halsband zog, verstummten sie.

Crestina stellte ihren Karren vor der limonaia ab, nahm den Schlüssel aus dem Korb, schob ihn in das Schloss.

»Ihr seht, er passt«, sagte sie dann heiter und betrachtete die kleine Gruppe, die hinter ihr stand.

»Das habe ich nicht bezweifelt«, sagte der Mann verlegen und bekam einen roten Kopf. »Keinesfalls, es hatte uns nur niemand darüber aufgeklärt, dass die limonaia nicht zum Haus gehört. Wir sind neu hier. Ich bin übrigens der Erzieher dieses Satansbratens«, sagte er. »Mein Name ist Beat Kugler.«

Crestina nannte ihm ihren Namen, trat dann in das Haus und warf einen Blick in die Ecke, in der sie bei ihrem letzten Besuch den Wassereimer aufgestellt hatte – gegen den Regen. Der Eimer war leer. Sie sah zur Decke und stellte fest, dass die zerstörte Dachplatte ausgewechselt worden war.

»Nun, da haben offenbar noch mehr Leute angenommen, dass die limonaia zum Haus gehört«, sagte sie und deutete auf die neue Dachplatte. »Zumindest regnet es jetzt nicht mehr herein.«

»Der Dachdecker war vor einigen Tagen hier«, erklärte der Mann, »der Dachdecker, der Kaminbauer und der Maurer.«

Sie nickte und überlegte, dass sie sich nun aussuchen konnte, was dieser Unbekannte vom letzten Mal wohl für einen Beruf haben könnte.

»Wir werden versuchen, nicht mehr so viel Lärm zu machen«, sagte der Mann, als er sah, dass Crestinas Korb voll mit Büchern und Papieren war, »Kinder sind nun mal laut.«

Crestina nickte freundlich, zuckte dann zusammen, als von der Richtung des Baumhauses ein neuer ohrenbetäubender Lärm ertönte und lautes Kinderweinen. »Kann ich helfen?«, fragte sie höflich.

»Nein, nein«, wehrte der Mann hastig ab und wandte sich zum Gehen, »wir haben bereits genug Chaos veranstaltet,«

Sie schloss die Tür hinter sich, öffnete das Fenster, um die stickige Luft hinauszulassen. Als das Weinen näher kam, schloss sie das Fenster wieder. Aber kaum ein paar Sekunden später klopfte es an die Tür.

»Verzeihung, ist Mirandolo vielleicht bei Euch?«

Crestina öffnete die Tür, blickte die schwarze Dienerin, die mit zerzaustem Haar vor ihr stand, fragend an. »Der Junge ist mit dem Mann mitgegangen«, sagte sie zögernd.

»Es ist nicht der Junge«, schluchzte die Frau, »es ist der Papagei.«

Sie habe keinen Papagei fliegen sehen, erwiderte Crestina höflich.

»Er fliegt ja auch nicht«, sagte das kleine Mädchen, das inzwischen dazugekommen war, überlegen. »Er ist an einer Kette.«

Auch an der Kette habe sie keinen Papagei gesehen, sagte Crestina müde und unterdrückte ein Gähnen.

»Sollte Euch Mirandolo belästigen, so braucht Ihr nur ›va a casa‹ sagen, das versteht er«, sagte die Dienerin, bestimmt eine Sklavin, im Weggehen. »Es ist das Einzige, was er wirklich versteht, aber natürlich keinesfalls tut. Alles andere muss er erst lernen.«

Sie hatte keine Lust, sich um diesen Mirandolo zu bemühen, sich Gedanken darüber zu machen, was er alles verstand und was nicht, und nickte nur kurz mit dem Kopf.

Sie schloss die Tür, brachte den leeren Eimer nach hinten zu der Gartentür und beschloss, sich irgendwann bei diesen neuen Nachbarn für die ungewollte Dachreparatur zu bedanken. Er konnte also Maurer sein, Dachdecker oder Kaminbauer, überlegte sie, als sie spätabends endlich im Bett lag und sich den Mann nochmals ins Gedächtnis rief, den sie bei ihrem letzten Besuch bei der limonaia getroffen hatte, aber irgendwie wirkte er wie niemand, der diesen drei Berufsgruppen zugehörte. Wobei sie sich sofort fragte, wie er denn dann wirkte. Bevor sie zu einer Entscheidung kommen konnte, war sie eingeschlafen. Aber noch im Schlaf verfolgten sie die schrillen und nachgeplapperten Worte des Papageis, der offenbar wieder aufgetaucht war: »Va a casa! Va a casa! Va a casa!«

Der Morgen, auf den sie sich gefreut hatte, weil sie in Ruhe ihre Korrekturen lesen wollte, verlief anders, als sie es erwartet hatte.

Sie hatte kaum ihr Nachtgewand abgelegt, als sie der Schrei eines Pfaus und ein heftiges Klopfen an der Tür erneut aufschreckte.

»Er ist nicht hier, Euer Mirandolin, oder wie er heißt«, sagte sie verärgert, während sie die Tür öffnete und dabei ihren Morgenmantel zu schließen versuchte, da sie dachte, die schwarze Dienerin stünde wieder vor ihr.

»Ihr müsst allmählich annehmen, dass wir eine mehr als lästige Familie sind«, sagte die Frau, die ihr gegenüberstand und den Kleidern nach vermutlich die Herrin war, »aber eigentlich sind wir das ganz gewiss nicht. Und schon gar nicht stöbern wir um diese Zeit friedliebende Menschen aus dem Schlaf auf. Aber es geht diesmal weder um diesen Papagei noch um den Pfau oder die bellenden Hunde, die sich mein Mann für die Jagd hält. Das Schreckliche ist diesmal, dass er nicht nach Hause gekommen ist.«

»Wer?«, fragte sie und bemühte sich um einen ruhigen Ton.

»Mein Mann«, sagte die Frau mit einer Stimme, die nahe dem Weinen war.

»Und Ihr vermutet ihn hier bei mir«, sagte sie stirnrunzelnd und öffnete die Tür, sodass der Raum übersichtlich vor ihr lag.

Die Frau zuckte zusammen und schüttelte irritiert den Kopf.

»Um Himmels willen, nein, es ist nur –«

»Habt Ihr nicht Eure Dienerschaft, die Ihr ausschicken könnt, um Euren Mann zu suchen?«, unterbrach Crestina sie.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie sind heute Morgen alle, der Kugler, die Dienerin, samt Hunden und Papagei, in der Frühe aufgebrochen und zurückgefahren in die Stadt. Ich bin, nun ich bin allein im Haus. Und ich bin nicht gewohnt, allein zu sein. So weit hier draußen. Und irgendwo höre ich dauernd Geräusche.«

»Was für Geräusche?«

»Das weiß ich eben nicht. Ich bin neu hier. Ein neues Land, eine neue Stadt, neue Diener, neue Kinder außer meinen eigenen. Und plötzlich Hunde, Papageien. In der Stadt haben wir noch einen Affen in einem Käfig im Garten, mit dem ich schon gleich gar nichts anzufangen weiß. Alles neu, alles anders. Bis auf den Kugler, der zu uns gehört, aber sich bei der Erziehung der Kinder als völlig unfähig erweist.«

»Mögt Ihr nicht hereinkommen?«, schlug Crestina höflich vor.

»Nein, nein«, wehrte die Frau ab, »ich habe ja nicht einmal die Haustüre abgeschlossen und man weiß ja nie«, sagte sie dann zögernd und schaute über die Wiese. »Ständig Leute, die hier herumfragen.«

»Leute, die herumfragen?«, fragte Crestina irritiert und ging neben der Frau her in Richtung der Villa. »Wer macht das denn?«

»Nun, ich verstehe sie ja nicht, diese Leute. Ich spreche Eure Sprache bis jetzt nur ganz schlecht, und der Kugler hat gesagt, dass er italienisch kann, aber ich habe den Eindruck, dass er nicht einmal die Dienerin versteht. Der Einzige, der die Sprache kann, ist mein Mann, und der ist nicht da.«

»Ich möchte mich im Übrigen bedanken«, sagte Crestina und blieb vor dem Haus stehen.

»Bedanken? Wofür?«

»Nun, dafür, dass Eure Familie meine zerstörte Dachplatte hat reparieren lassen.«

Die Frau sah sie verblüfft an. »Eine zerstörte Dachplatte? Davon weiß ich nichts. Ich weiß auch nicht, wer das gemacht hat, ich habe mit den Handwerkern nichts zu tun, darum kümmert sich mein Mann. Er hatte den Kaminbauer bestellt, den Dachdecker und den Maurer. Ihr wisst ja nun, dass nur er Italienisch kann. Er braucht es, für seinen Beruf«, fügte sie dann zögernd hinzu.

Crestina blickte sie abwartend an.

»Es ist nicht unbedingt ein besonders ehrenhafter Beruf«, sagte die Frau stockend, »es ist so …«

Er ist Henker, dachte Crestina und wälzte in ihrem Kopf bereits tröstende Sätze für diese Frau, die offenbar kurz davor war, die Nerven zu verlieren.

Die Frau biss sich auf die Lippen.

»Er verdient viel Geld, mein Mann, und meine Familie war völlig verschuldet. Mein Vater hatte unser gesamtes Geld verspielt und wäre in den Schuldturm gekommen. Und da habe ich eben ihn genommen. Ich stamme aus Basel«, fügte sie dann hinzu, als sei dies eine Erklärung für ihr hartes Schicksal.

Fast so schlimm wie der Henker, dachte Crestina erschrocken. Eine unglücklichere Verkettung von Umständen konnte sie sich kaum vorstellen.

»Habt Ihr Lust, mit hereinzukommen?«, fragte die Frau plötzlich und machte eine einladende Bewegung in Richtung des Hauses.

Crestina wehrte hastig ab. Nein, sie wolle nicht mit ins Haus kommen, sie habe zu tun.

Die Frau sah sie verwundert an.

»Ihr habt doch ganz sicher noch nicht einmal ein Morgenessen eingenommen. Ich würde mich freuen, wenn Ihr mir Gesellschaft leisten würdet.«

Crestina sah die Bilder vor sich abrollen, als sei alles erst gestern geschehen. Sie sah den hell erleuchteten Garten, das Zucken der Pechfackeln, sie sah den Vater aus dem Haus kommen, sie glaubte, das Gespräch mit Lukas Helmbrecht zu hören, in dem ihre Hochzeit beschlossen worden war, sie sah die Mutter mit ihrem Cicisbeo durch den Garten wandeln, ihm spielerisch mit dem Fächer auf die Hand schlagen, wenn seine Sätze zu kühn wurden.

Sie wollte nicht in dieses Haus, das sie seit damals nie mehr betreten hatte. Es genügte, dass die Erinnerungen an diese Zeit sie nicht losließen und in der hintersten Ecke ihres Kopfes lauerten.

»Ich habe Euch überfallen«, sagte die Frau plötzlich mit hörbar schlechtem Gewissen. »Es ist nur, weil ich plötzlich so in Sorge war.«

»Hatte Euer Gemahl sich für heute Morgen angekündigt?«

»Ja, natürlich. Der Kugler hat noch gestern mit ihm vor unserer Abfahrt hierher gesprochen und –«

»Ihr selbst habt nicht mit ihm gesprochen?«

»Nein, ich war irgendwo anders, ich weiß nicht einmal mehr recht, wo ich war. Diese Kinder, die Diener, das Gepäck … es war einfach alles zu viel.« Sie strich sich über die Haare, atmete dann schwer aus.

»Bitte vergesst die ganze Sache«, sagte sie dann entschlossen, »ich muss Euch wie eine seltsame Figur erscheinen, die nicht damit zurechtkommt, dass sie allein in einem neuen Haus wohnt, das ihr so fremd vorkommt wie eine Hütte auf dem Mond.«

»Und weshalb ist das so?«

»Es schlottert mir um den Leib«, sagte sie langsam, »es ist mir zu groß. Den Vorgängern war es auch zu groß. Und deren Vorgängern ebenfalls. Es liegt auch viel zu weit ab. Man sieht die Stadt nicht.«

»Nun, man ist ja manchmal wohl froh, wenn man die Stadt nicht sieht«, sagte Crestina. »In Pestzeiten zum Beispiel.«

»Es sollen hier auch Leute gestorben sein, in diesen Pestzeiten«, sagte die Frau und sah sich ängstlich um, so, als könnten die Toten in diesem Augenblick wieder auferstehen. »Ich meine, in diesem Haus. Vielleicht sind sie ja hier im Garten begraben …«

Crestina wusste bis heute nicht, wo ihre Eltern begraben worden waren, vermutlich auf irgendeiner der Inseln. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie das Geheimnis aufklären sollte, dann entschied sie sich, dass es für diese Frau in diesem Augenblick wohl besser war, die wahre Geschichte dieses Hauses im Dunklen zu lassen.

Wieder kam der grelle Schrei des Pfaus über die Wiese. Die Frau zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu.

»Wie das jüngste Gericht, findet Ihr nicht auch? Und dann überall diese Spione«, fügte sie zusammenhanglos hinzu, »die vermutlich überall herumsuchen. Und die Inquisition. Und die Giftmorde. Kaum waren wir in der Stadt, da sah ich, wie sie eine Frau –«

»Werden bei Euch die Verbrecher nicht bestraft?«, fragte Crestina sanft.

»Aber doch nicht so«, sagte die Frau empört. »Das alles erinnert mich hier an den Orient«, sagte sie dann mit Nachdruck. »Und ich weiß überhaupt nicht, weshalb mein Mann dieses Haus kaufen wollte. Wozu er es braucht, versteht Ihr? Schließlich haben wir ein großes Haus in der Stadt. Ich sage Haus, aber eigentlich ist es mehr ein Palazzo. Was werden sie in Basel sagen, wenn sie das alles erfahren! Es passt ja nichts zusammen. Und dass es ein berühmter Architekt gebaut haben soll, dessen Namen ich mir ohnehin nicht merken kann, bedeutet mir auch nichts.«

Crestina seufzte. Bevor sie mit Haut und Haaren in die Lebensgeschichte dieser Frau hineingezogen wurde, wollte sie aussteigen.

»Ich würde Euch vorschlagen, dass Ihr nun lieber in Euer Haus zurückgeht, und falls Euer Mann, der sich angekündigt hat, nicht bis zur Mittagszeit zurück ist, könnt Ihr mich rufen.«

Die Frau nickte zögernd, murmelte dann etwas in ihrem Schweizer Dialekt, was wohl ein Dankeschön bedeuten sollte, und entfernte sich langsam.

Crestina ging ins Haus zurück, schloss die Tür, aber bereits nach einer Minute kam die Frau zurück.

»Und wisst Ihr, wie sie Frauen bestrafen, die in Männerkleidung herumlaufen?«, sagte sie dann voller Empörung.

Crestina zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.

»Es gilt als Aufforderung zur Sodomie«, erzürnte sich die Frau, »und ich frage mich wirklich, was sie in Basel dazu –«

Crestina erfuhr nicht mehr, was sie in Basel sagen würden über Frauen, die in Männerkleidung über die Lande fuhren – sie schloss die Tür und schob den Riegel vor.