22. Laguna morta

Es gab drei Orte, zu denen Crestina in bestimmten Situationen ging, um sich Kraft zu holen: Torcello, wegen der blauen Madonna, um zu beten, dann die limonaia, das Gewächshaus an der Brenta, wegen der Vergangenheit, und schließlich die laguna morta, wegen der abgrundtiefen Traurigkeit des Wortes.

Jeder, der diesen Namen zum ersten Male hörte, stellte sich wilde Dinge vor. Die meisten dachten dabei an das Tote Meer, in dem es nichts Lebendiges mehr gab und man die Füße kaum mehr auf den Boden brachte. Aber das traf hier nicht zu. Die Bezeichnung hatte nichts mit dem Salzgehalt des Wassers zu tun. Sie hatte lediglich damit zu tun, dass es hier keine Ebbe und Flut mehr gab, dass es andere Fische gab und eine teilweise andere Flora. Dafür gab es Dutzende von Inseln und Inselchen, die zum Teil ineinander übergingen. Das Ufer zum Festland war ausgefranst, mit Schilf bestanden, der Geruch war an manchen Tagen stark von Fäulnis durchzogen. Auf jeden Fall passte er sich ihrer Stimmung an, mit der sie heute hier herausgefahren war.

Sie wollte nachdenken.

Auf ihrem Inselchen, das sie einst isola déserta getauft hatte. Zusammen mit Riccardo. Das Inselchen war bereits damals bis zu einem Drittel im Wasser eingetaucht, was seine morbide Atmosphäre verstärkte, aber auch nicht unbedingt etwas Besonderes war, denn mehr als hundert besiedelte Inseln waren seit der Römerzeit bereits untergegangen. Die Tiefe des Wassers war gering, an manchen Stellen konnte man den Grund der Lagune sehen, auf dem noch Reste der einstigen Besiedlung zu sehen waren. Der Boden ging schräg nach unten, und wenn man nasse Füße vermeiden wollte, musste man exakt die Grenze zu dem bereits abgesunkenen Teil der Insel beachten. Eine Grenze, die allerdings gut zu merken war, weil dort der Rest einer zerbrochenen Säule lag. An dieser Säule hatten sie und Riccardo einst markiert, wie stark sich Venedig senkte, so, wie man die Größe von Kindern an einem Türpfosten markierte, wenn man ihr Wachstum festhalten wollte. Es hatte einst mit zu Riccardos lebendigem Unterricht gehört, dass er seiner Schwester beibrachte, wie gefährdet diese Stadt war. Ein halber Zentimeter im Jahr oder etwas mehr, hatte er erklärt, und dann hatten sie ihre Kerben eingeritzt. Aber nun waren über lange Zeit hinweg keine Kerben mehr gemacht worden, Riccardo war tot, sie hatte sich mit ihrer Familie durch fremde Städte hindurchgewohnt, in der es keine abgesunkenen Inseln gab. Wie stark sich Venedig weiter senken würde, darüber gab es tausende von Vermutungen. Vermutungen, die sie heute allerdings nicht interessierten.

Sie saß auf dem Säulenstumpf und blickte über die Wasserfläche hinweg, die an der abgetauchten Fläche magisch wirkte, je nachdem, wie der Lichteinfall war. So, als könnten zu jeder Zeit hier Feen auftauchen. Damals hatte sie ein winziges Inselgärtchen angelegt, hatte Mönchsbart und wilden Spargel gepflanzt, sie hatten moleche, kleine Lagunenkrebse, gefangen und geranceole in einem winzigen Becken eingesetzt. Aber von ihrem schwimmenden Garten war nichts geblieben. Die Natur hatte sich längst alles zurückerobert. Und die Menschen hatten sie verlassen.

Sie zählte an ihren Fingern ab: Lea, Bianca, Margarete, Moise, Ludovico. Nach einigem Überlegen zählte sie Bartolomeo dazu, weil es für ihre Überlegung gleichgültig war, ob die Guten mit den Bösen gemischt wurden oder nicht.

Sie musste also damit fertig werden, dass sie allein war. All der Menschen beraubt, die ihr wichtig waren. Nicht aller, noch war Clemens da, er hatte den Zeitpunkt seiner Abreise verschoben, nachdem Ludovico und Bianca das Haus verlassen hatten und damit Ruhe eingekehrt war.

Crestina nahm ein zweites Mal ihre Hand zur Hilfe. Bianca und Margarete würden mit einiger Wahrscheinlichkeit zu denen gehören, die eines Tages zurückkehren würden. Moise hatte sich entschlossen, nun endgültig in Livorno zu leben, bei dem anderen Teil seiner Familie. In Venedig hielt ihn nun nichts mehr seit dem Weggang von Lea, die ganz gewiss nicht zurückkehren würde. Ludovico hatte ihr einen Brief geschrieben, kurz und eindeutig. Er schrieb, dass wohl von Anfang an klar gewesen sei, dass er niemals ein Bürger dieser Stadt werden wolle. Zwar liebe er das Wasser, aber keinesfalls genüge ihm dieses Wasser auf der Mercerie bei acqua alta. Er habe sich endgültig für Jamaika entschieden und den Beruf des Kapitäns auf einem Sklavenschiff.

»Um wirklich an das große Geld zu kommen, gibt es nicht allzu viel, was dazu führen kann.« Und das mit drei Ausrufezeichen.

Sie schaute wieder über das Wasser hinweg, das in der laguna morta zum Teil unübersichtlich war. Ein Schilfgürtel schien sich zu bewegen, aber sie hatte noch nie einen Menschen hier getroffen, wenn sie hier war. Noch nie.

Sie überlegte sich, was sie mit dem Palazzo anfangen sollte. Natürlich konnte Clemens hier eines Tages einziehen, wenn er heiraten wollte. Margarete hatte ohnehin darum gebeten, dass ihr Faktor noch eine Weile mit den beiden Sklavinnen hier bleiben durfte, um ihre Experimente zu Ende zu führen. Also konnte sie sich beruhigen, falls ihr danach zumute war. Aber sie hatte den Eindruck, dass ihr heute Morgen nicht danach zumute war.

Das Gefühl, dass sie versagt hatte, dass sie haushoch unter ihren beiden Freundinnen stand, hatte sie bereits überfallen, als die Tore des Palazzos nach Margaretes Abschied soeben zugeklappt waren. Lea war in ihrem hohen Alter noch einmal aufgebrochen zu einem fernen Ziel, von dem sie nicht sicher war, ob sie es je erreichen würde, Margarete war zu einem noch ferneren Ziel unterwegs, bei dem sie ebenfalls nicht sicher war, ob sie es erreichen und auch wieder den Weg zurückfinden würde.

Doch Crestina brach nirgendwohin auf. Sie würde in ihrem Palazzo bleiben, allein. Dann, wenn Ludovico sie endgültig verlassen würde, nicht nur für eine einzige Reise, wenn er für immer auf den Meeren unterwegs war. Dann, wenn sie auf alles verzichtet haben würde. Aber sie konnte nicht einmal sagen, dass dieses Verzichten ihr wirklich ›in der Seele wehgetan‹ hätte, wie das so viele behaupteten, wenn man etwas verließ.

Sie war gelebt worden.

Sie wiederholte diesen Satz, einmal, zweimal, so lange, bis sie ihn selber glaubte.

Sie durchstreifte ihr Leben noch einmal, von Anfang an, korrigierte sich dann. Dieser Satz stimmte nicht. Sie war eigene Wege gegangen. Keine grandiosen eigenen Wege, aber immerhin waren diese Wege ihre eigene Entscheidung gewesen.

Nach Nürnberg war sie damals noch gezwungenermaßen gegangen, aber alles, was danach kam, hatte sie entschieden: Sie hatte die Fischernetze auf der Insel von San Giorgio aus eigenem Antrieb geflickt. Sie hatte gegen den Stachel der Inquisition gelockt. Sie hatte Manuskripte in wilden Parforcejagden nach Padua geschmuggelt. Und sie hatte mit absoluter Hartnäckigkeit den Palazzo zurückerobert, hatte ihn Bartolomeo entrissen, so wie er ihn ihr einst entrissen hatte.

Aber dann, in der langen Zeit der Ehe mit Renzo, hatte sie ihre Eigenständigkeit aufgegeben. Sie war gelebt worden, hier stimmte dieser Satz. Sie war nach Renzos Tod in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hatte genau an der Stelle weitergemacht, die sie einst zurückgelassen hatte. Sie war geblieben, was sie immer gewesen war und nie abgestreift hatte: die wohl behütete Tochter eines reichen venezianischen Handelsherrn, die sich vielleicht in der Literatur der alten Griechen und Römer auskannte, aber nicht einmal alle Schiffstypen aufzählen konnte, die Renzo besessen hatte. Von der Salzinsel hatte sie das meiste auch vergessen. Sie wusste nicht einmal mehr exakt, wie das Salz gewonnen wurde. Und ihre Enkel, falls sie eines Tages welche haben sollte, würden es ebenfalls nicht wissen. Und wenn dieser Palazzo ihrer Familie eines Tages ebenfalls nicht mehr gehören würde, wäre auch er verloren. Niemand mehr würde von den Dogenbildern erfahren, von der Gondel, der lahmen Ente, die Ludovico nach einer kurzen Begeisterung längst wieder aufgehört hatte, in Stand zu setzen, bevor er angeblich nach Pellestrina zu der Tante gegangen war, um seine Abfahrt auf dem Sklavenschiff zu kaschieren.

Die Idee, die am Ende dieser mehr als traurigen Bilanz übrig blieb, erschreckte sie zunächst, dann begann sie sich mit ihr anzufreunden. Zum Schluss war sie sicher, dass diese Idee sie – möglicherweise – aus ihrer derzeitigen Tristesse herausreißen würde. Sie würde alles aufschreiben, was wissenswert war für ihre Nachfahren. Es würde ein langer Brief werden, ein ›Brief an meine ungeborenen Enkel‹. Sie war so besessen von diesem Hilfsseil, das sie sich da geknotet hatte, dass sie nicht mehr darauf geachtet hatte, was um sie herum geschah. Sonst, dessen war sie sich später sicher, hätte sie ganz gewiss die Bewegung an dem Schilfgürtel deutlicher beachtet, sie hätte den flachen Kahn gesehen, der neben ihrem Boot festgemacht worden war.

Und sie hätte ganz gewiss den Mann, der mit einem Male seitlich neben ihr stand und sie nun freundlich lächelnd betrachtete, früher bemerkt.

»Nun, wie weit sind wir inzwischen gesunken?«