18. Carnevale

»Um Himmels willen, es war doch nur Spaß!«

Crestina fühlte, wie sie ganz langsam mit dem Rücken an der Küchenwand hinunterrutschte, wie sich etwas in ihrem Kopf zu drehen begann und wie sich dieses schwarze Gewand, die Toga der neri, und die Maske, nun über sie beugte. Ein Gewand, das zuvor schweigend an der Tür gestanden hatte.

Sie hörte, wie die Erbsen aus ihrem Topf über den Boden kullerten, wie sie den Topf hinterherrutschen ließ, unfähig, mit ihren Fingern noch irgendetwas festzuhalten.

»Es war nur ein Spaß!«, sagte Margarete erschrocken und riss sich die Maske vom Gesicht. Sie nahm die Schöpfkelle aus dem Wasserbehälter, begoss ein Tuch damit und legte es auf Crestinas Stirn.

»Komm, wach auf. Es war wirklich nur ein Ulk. Ich wollte dich doch nur erschrecken. Ein klein wenig nur.«

»Mit dem Gewand der neri kannst du nahezu jeden bei uns in der Stadt zu Tode erschrecken«, murmelte Crestina mühsam. »Wie kommst du nur auf solch eine Idee?«

»Nun, wir haben gestern bei uns im fondaco carnevale gefeiert, einer unserer Leute aus Nürnberg hatte diese Maske getragen und wollte sie nun an jemanden weitergeben, dem es Spaß machen würde, in Venedig als Staatsinquisitor zu erscheinen.«

»Madonna!«, seufzte Crestina kopfschüttelnd und versuchte, die Erbsen wieder einzusammeln. Margarete nahm ihr den Topf aus der Hand und sah die Freundin prüfend an.

»Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du so schreckhaft bist.«

»Ich bin nicht schreckhaft!«, wehrte sich Crestina, »ich habe nur mit Riccardo zusammen eine ziemlich schlimme Zeit erlebt. Damals, als wir aus Nürnberg nach Venedig zurückkamen.«

»Das konnte ich nicht wissen«, verteidigte sich Margarete. »Sie haben mir im fondaco nur gesagt, dass dieses Kostüm ein wirkungsvolles Kostüm sei.«

»Nun, das war es ja dann wohl auch«, sagte Crestina und versuchte, sich langsam zu erheben. »Aber ich verstehe den Witz immer noch nicht.«

»Nun, du hattest dich so abweisend gegenüber diesem Fest verhalten, dass es mir Leid tat, wenn du zu Hause bleiben würdest, wie du es wohl vorhast. Also wollte ich nichts weiter, als dich ein wenig anzustacheln, mit mir irgendwohin zu gehen. Ich habe sechs Einladungen.«

»Ganz gewiss nicht bei Venezianern«, erwiderte Crestina und wischte sich den Staub vom Kleid.

»Nein, das nicht«, gab Margarete zu, »aber was macht das schon?«

»So ungefähr alles«, erklärte Crestina. »Weil du das wirkliche carnevale eben nur bei Venezianern kennen lernen kannst und die bleiben nun mal unter sich. Heute Abend kannst du dich auf den Balkon stellen und zuschauen, wie bei unseren Nachbarn Boot um Boot anfährt und eine Maske schöner als die andere heraussteigt.«

»Es ist mir völlig gleich, wo ich diesen carnevale feiere«, sagte Margarete entschieden, »ich bin sogar bereit, mit unserem pickelgesichtigen Faktor irgendwohin zu gehen, wenn ich nur überhaupt irgendwohin kann. Und im Übrigen sei man ohnehin nach zwei Minuten mit niemandem mehr zusammen, mit dem man gekommen ist, habe ich gehört.«

»Das mag sein, mich reizt es trotzdem nicht«, gab Crestina zurück.

»Weshalb eigentlich? Ich dachte, du hättest es doch früher über die Maßen geliebt, ganze Nächte durchzutanzen.«

Crestina band eine Schleife an ihrem Kleid, die sich geöffnet hatte.

»Damals gab es einen Freundeskreis, mit dem wir zusammen waren«, sagte sie dann lahm.

»Ein Kreis von Freunden. Und Riccardo?«, fragte Margarete.

»Ein Kreis von Freunden. Und Riccardo«, bestätigte Crestina. Und dachte dabei an diese mehr als seltsame Einladung zu carnevale von dem Mann mit den gipsverschmierten Händen, von dem sie nun wusste, dass er Renzo Grimani hieß. Und es mitnichten nötig hatte, seine Meeräschen aus einem Teich zu stehlen, der ihm nicht gehörte.

Sie hatte in den vergangenen Tagen, als carnevale näher rückte, immer wieder an ihn gedacht. Hatte sich überlegt, was sie tun sollte. Hatte an einem Tag innerlich bereits zugestimmt, sich mit ihm zu treffen, am nächsten wieder mit aller Heftigkeit dagegen polemisiert. Geschämt hatte sie sich auch. Jemanden wiederzusehen, der mehr von einem wusste als ein Beichtvater, war nicht eben ein erhebendes Gefühl.

Sie hatte sich entschlossen, eine neue Übersetzung anzufangen, um sich abzulenken, aber sie hatte kaum drei Sätze geschrieben, als ihre Gedanken bereits wieder abschweiften. Sie versuchte, die Nächte zum Tage zu machen, blieb im Kaminzimmer sitzen, bis ihre Augen nahezu von alleine zufielen, aber zwischen dem einen Satz und dem nächsten sah sie Bilder von einst: den giovedì grasso, den Tag, der mit einem großen Fest auf der piazzetta vor dem Palast des Dogen begann und der der Regierung vorbehalten war – an drei Seiten des Platzes waren Tribünen für die Senatoren und die Patrizier aufgestellt, sodass für die übrigen Venezianer kaum noch ein Platz übrig blieb. Den venerdì, an dem sich die Hälfte der Bevölkerung beim ridotto vergnügte und voller Spannung die Lose öffnete, die verkauft wurden. Dann den sabato, wenn die Stadt bereits wogte wie das Wasser auf der Lagune kurz vor einem Sturm. Der Tag, an dem niemand zu Hause blieb und sich jeder unter die Masken mischte, auch wenn er nicht das Geld besaß, um für sich selbst eine Maske zu erstehen.

Und dann der domenica.

Sie hatte die Tage bis zu diesem Tag in aller Abgeschiedenheit in ihrer Kammer verbracht, hatte weder Lea, die ohnehin am Sabbat nicht in den Palazzo kam, gesehen, noch Margarete, die vom Erdboden verschwunden schien und in den Wirren des carnevale abgetaucht war.

»Such mich nicht«, hatte sie lachend zu Crestina gesagt, »und vor allem mach dir keine Sorgen. Irgendwann werde ich zurückkommen und dann wieder eine brave Geschäftsfrau sein, die sich den Künsten der Cleopatra widmet.«

In der Nacht zum domenica schlief Crestina schlecht. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich in gar keinem Fall auf dieses Treffen mit Renzo Grimani einlassen durfte, und sie hatte zugleich das Gefühl, dass sie sich auf dieses Treffen einlassen musste, dass sie nicht an ihm vorbeikam. Sie spürte, dass sie sich darauf einlassen musste, ganz gleich, was dabei geschehen würde.

Als sie am anderen Morgen erwachte, entschloss sie sich, nach Torcello zu fahren. So wie sie auch früher nach Torcello gefahren war, wenn ihr Leben in Unordnung geraten war und sie den Beistand der blauen Madonna brauchte. Sie ließ sich von einem kräftigen Mann, einem der Regattaruderer, dorthin fahren. Er hatte sie immer gerudert, wenn sie wenig Zeit hatte und genau wusste, dass ihre Kräfte nicht ausreichen würden, um die Strecke in kurzer Zeit zu bewältigen.

Nun saß sie in dem Boot, die Augen geschlossen, der Ruderer ließ sie in Ruhe. Er spürte, dass sie nicht gestört werden wollte.

Dieser Renzo hatte also Riccardo gekannt. Und er kannte sie. Er hatte mit ihr getanzt, damals in diesen wilden Nächten, in denen sie Riccardos Zorn getroffen hatte, weil er, ebenso wie dieser Salzsieder – sie nannte ihn immer nur den ›Salzsieder‹ in ihren Gedanken, weil sie dadurch etwas von ihrem Zorn aufbrauchen konnte – sie davor bewahren wollte, dass sie sich verschleuderte. Sie war wie ein aufgeschlagenes Buch für ihn gewesen, über Wochen hinweg, während sie darüber gegrübelt hatte, ob sie es sich verzeihen würde, auch nur einen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Und sie schämte sich maßlos. Obwohl sie sich in Schutz nehmen musste, weil alles eben doch nicht ganz so vordergründig gewesen war, wie es nun schien. Bei jeder Begegnung mit anderen Männern hatte sie gemutmaßt, dass man Riccardo verdrängen wollte, ihn ihr wegnehmen wolle, und sie hatte die Stacheln gestellt wie ein Igel, bevor überhaupt jemand beabsichtigte, an diesen Igel nur zu denken. Sie hatte die Messlatte Riccardo angelegt, als sei es die Einzige, die überhaupt möglich sei. Als hätte niemand vor Riccardo in Padua studiert und als sei es nicht erlaubt, dass andere nach ihm in Padua studieren durften. Sie hatte ihn haben wollen, diesen Bruder, besitzen wollen mit Haut und Haaren und so, wie sie vor seinem Tod nicht bereit gewesen war, ihn mit irgendwem zu teilen, so war sie es nach seinem Tod schon gleich gar nicht. Und schon gleich gar nicht mit diesem Salzsieder.

Sie erreichten Torcello, ohne dass sie wusste, was sie tun sollte. Diese absurde Idee, die kommenden drei Karnevalstage mit diesem Mann zu verbringen, war zu verrückt, um überhaupt nur mit sich selbst diskutiert zu werden. Und für den Augenblick hatte sie ohnehin niemanden zum Diskutieren, da Lea mit einem Besuch aus Rom beschäftigt und Margarete im carnevale abgetaucht war.

Sie betrat die Kathedrale Santa Maria Assunta, blieb wie immer am Eingang stehen, um das Bild der Mutter Gottes aus der Ferne zu betrachten. Sie hatte dabei stets das Gefühl, als komme sie nach Hause, als warte hier in dieser Kirche diese Madonna auf sie, Crestina Zibatti, ganz persönlich, um ihr Rat zu erteilen und sie zu trösten.

Aber als sie die wenigen Schritte auf die riesige Tafelwand zugegangen war, niederkniete, hatte sie den Eindruck, als gelinge diesmal die stumme Zwiesprache zwischen der Madonna und ihr nicht. Voller Bestürzung wurde ihr klar, dass sie ihr Geld für den Ruderer umsonst ausgegeben hatte. Ihre Gedanken stürzten wie eine Affenherde über sie hinweg, sie hatte kaum Zeit für ein kurzes Gebet, geschweige denn für die Erklärung ihrer verworrenen Situation. Sie spürte, wie die Kälte langsam in ihren Körper kroch, in ihr emporstieg, als habe sie die Absicht, diesen Körper bis zur Spitze ihrer letzten Haarwurzel auszufüllen, dorthin zu gelangen, wo einstmals ihr Blut geflossen war.

Sie spürte mit Entsetzen, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an diesen Mann, der ihr da unerwartet über den Weg gelaufen war. Und dann warf sie ihn in ihrer Wut und ihrem Zorn mitten hinein in die Gruppe der Sünder des Jüngsten Gerichts, die über ihr an der Wand mit grausamer Genauigkeit abgebildet war.

Sie verließ die Kirche in Panik. Erst als sie bei ihrem Ruderer wieder eintraf, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass die blaue Madonna ihr zugelächelt hatte. Zaghaft, nicht wie sonst mit einem vollen Lächeln.

Die Tierhatz im Hof des Dogen war bereits vorüber, als sie die piazzetta erreichte. Sie sah, wie die Männer die Körper der toten Tiere herauszerrten, wie die Armen der Stadt bereits warteten, um ein Stück des begehrten Fleisches in Empfang zu nehmen. Sie wolle keinen toten Bären, sagte ein kleines Mädchen weinend zu seiner Mutter, der arme Bär tue ihr Leid.

»Du wirst ihn genauso essen wie das Fleisch des Stieres«, entschied die Mutter, »du kannst froh sein, dass der Doge so großzügig ist und auch an die Armen in dieser Stadt denkt in diesen Tagen.«

Crestina wusste, dass sie zu früh war, und sie hatte keinesfalls beabsichtigt, auf diesen Mann zu warten. Zudem war sie plötzlich unsicher, ob er überhaupt ›Säule des Markus‹ gesagt hatte, ob die piazzetta gemeint war oder die Piazza San Marco. Genau genommen, hätte sie ebenso gut auf dem Mond verabredet sein können wie hier inmitten der Menschenmassen, die aus aller Herren Länder kamen: Pilger, die sich zum Aufbruch in das Heilige Land versammelt hatten und auf günstigen Wind warteten, Mütter mit ihren Säuglingen, die winzige Masken auf ihren Gesichtern hatten und sie zum Teil klaglos ertrugen oder auch erbärmlich brüllten. Dazwischen mischte sich das laute Krachen der Kanonen, die von sechshundert Männern aus Friaul und von Kärtnern bedient wurden, und der Geruch des Rosenwassers, mit dem die Eier gefüllt waren, die in die Menge geworfen wurden, schwebte über dem Platz.

Am späten Nachmittag dann sah sie ihn. Er lehnte an einer der beiden Säulen von St. Markus, blickte suchend über den Platz hinweg und ging dann rasch auf sie zu, als er sie entdeckte. Er blieb vor ihr stehen, ein winziges Lächeln stahl sich in sein Gesicht, dann reichte er ihr eine rote, kaum erblühte Rose. »Damit Ihr wenigstens nicht nur mit dem künstlichen Rosenduft vorlieb nehmen müsst.«

Sie hob die Rose an die Nase, sog ihren Duft ein, fragte sich, in welchen Gewächshäusern er sie wohl erstanden hatte und was er dafür hatte bezahlen müssen.

»Wisst Ihr eigentlich, was Ihr mir da neulich angeboten habt?«, fragte sie dann.

»Natürlich weiß ich das«, antwortete er rasch. »Ihr wollt nichts anderes als alle Leute hier auf dem großen Platz auch. Ihr wollt für kurze Zeit eine andere sein. Ihr wollt etwas über Euch erfahren, wozu Ihr sonst nie die Gelegenheit habt. Das wollen alle, die hier sind, auch wenn sie überhaupt nicht darüber nachdenken.«

»Es war ein mehr als seltsames Angebot, das Ihr mir gemacht habt«, meinte sie dann.

»Ich habe Euch kein Angebot gemacht«, wehrte er ab. »Ich fragte Euch lediglich, ob Ihr mit mir carnevale feiern wolltet. Was Ihr in diese Frage hineingeheimnist habt, ist Eure Sache.«

»Wenn es kein Angebot war, so wie ich es damals in meiner euphorischen Stimmung vor fünf Jahren allen möglichen Leuten gemacht hatte – ohne daran zu glauben –, was sollte es dann sein?«

»Ich wollte Euch nur die Gelegenheit geben, für die kommenden drei Tage und Nächte all das zu tun, was Ihr möglicherweise schon immer tun wolltet, ohne überhaupt zu wissen, dass Ihr es tun wolltet. Ihr dürft für eine Nacht oder einige Nächte all das erleben, was in Euch ist, tief drinnen in Euch, was Euch aber bisher immer verwehrt wurde. Von irgendjemandem verwehrt, Eurem Gewissen vielleicht, Eurer religiösen Haltung, Euren angezüchteten Moralvorstellungen. Ihr sollt etwas herauslassen dürfen, was Ihr normalerweise unter Verschluss haltet. Etwas, was Ihr vermutlich bisher immer nur sanft vor sich hin köcheln ließet, aber Euch nie zugestanden habt, es zum Kochen zu bringen. Dadurch erfahrt Ihr etwas über Euch.« Er hielt inne und schaute über den Platz. »Und natürlich auch etwas über mich.«

»Über Euch?« Sie sah ihn verblüfft an. »Woher wollt Ihr wissen, dass ich das will? Dass es mich interessiert? Dass ich etwas über Euch erfahren will?«

Er lachte, nahm sie leicht beim Arm und schob sie mitten in die Menge.

»Natürlich wollt Ihr das. Und wie Ihr das wollt. Ihr seid zweimal zur limonaia gefahren, um Eure Neugier zu befriedigen. Aber Ihr hattet nicht den Mut, die neue Besitzerin des Hauses nach dem Mann zu fragen, der mit beschmutzten Kleidern in ihrer Villa vermutlich den Kamin repariert hat. Ihr habt Euch beim Salzsteuerinspektor unserer Stadt erkundigt, ob es einen Salzsieder gibt, der auf dieser Insel, auf der Ihr mich vor kurzem abgeliefert habt, das Sagen hat oder wer sein Herr ist, und der Inspektor hat mir das unter Prusten erzählt. Und dann wart Ihr noch zu allem Überfluss auf einer Behörde, um zu erfahren, ob es jemanden gibt, der alte Paläste restauriert, Ihr habt so getan, als wärt Ihr an solch einem Mann interessiert, für Euren eigenen Palazzo natürlich und nichts weiter.«

Sie blieb stehen, begann mit einem Male laut zu lachen. Sie lachte, konnte das Lachen nicht mehr stoppen. Sie lachte so lange, bis das Lachen in Weinen überging und die Leute um sie herum böse Blicke auf Renzo warfen, weil sie annahmen, dieser Mann habe dieses schöne Mädchen, das nicht mal ein Kostüm trug, belästigt. Sie wusste nicht, wie lange sie an seine bautta hingeweint hatte vor Lachen, die Seide war bereits durchnässt, aber noch immer hielt Renzo sie an sich gepresst, schweigend. Er stand wie ein Fels in dieser wogenden, lärmenden Menge. Irgendwann gingen sie weiter, und es war ihr von einer Sekunde zur anderen gleich, wo und mit wem sie diese drei Nächte verbringen würde. Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, dass sie endlich erfuhr, was sie und Riccardo nicht getan hatten, obwohl sie es gegen das Ende zu auf der Pestinsel kaum ertragen hatten, dass sie es nicht getan hatten. Und es nun zu spät dazu war.

»Das ist im Augenblick das Haus, das ich am meisten liebe«, sagte Renzo irgendwann, als sie sich aus dem Gewimmel der Masken herausgeschoben und den Weg nach Castello eingeschlagen hatten.

Sie standen vor einem schmalbrüstigen Palazzo, fast zu schäbig, um den Namen Palazzo überhaupt zu tragen. Der untere Teil der Fassade zerfressen vom Meer, an der Vorderfront war eine Reihe von Lastkähnen zusammengekettet, in denen Reste von alten Mosaikböden, Trümmer von Kapitellen, behauene Steine, gesäuberte Ziegel, Mörtelwannen und abgedeckte Säcke lagen, die vermutlich das Material für die Restaurierung dieses Hauses enthielten.

»Das ist es«, sagte Renzo und strich behutsam über eine der halb zerstörten Fresken, deren Ursprung nur noch zu ahnen war. »Ich bin nicht sicher, ob ich es so wiederherstellen kann, wie ich möchte, aber ich versuche es bereits seit einiger Zeit.«

»Wem gehört er?«

»Im Augenblick mir, ich habe ihn gekauft. Irgendwer hatte genug von ihm, weil er nicht mehr den Glanz seiner frühen Zeit zeigte und vermutlich –«

»Ihr habt ihn gekauft, weil Ihr Mitleid mit diesem Haus hattet?«, unterbrach sie ihn ungläubig.

»Mehr oder weniger«, sagte er zögernd, »aber natürlich reizt mich die Arbeit an ihm. Es fasziniert mich eben, etwas wieder ganz zu machen, das so zerstört ist, dass es eigentlich schon kaum mehr existiert.«

»Seid Ihr sicher, dass der Boden noch intakt ist und nicht bereits absackt?«

»Genau darum geht es«, gab er zurück. »Ihr dürft Euch selbst davon überzeugen«, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.

»Was meint Ihr damit?«

»Nun, ich werde Euch jetzt zeigen, wie diese Stadt unter Wasser aussieht, ich bin sicher, dass Ihr es bis heute nicht wisst.«

Sie lachte belustigt. »Und wie soll das gehen? Soll ich etwa hinuntersteigen unter diesen halb zerfallenen Palazzo?«

Er ging ihr voraus und führte sie auf einem Holzsteg in das androne, dessen Boden zum Teil aufgerissen war. Er führte sie in die Küche, die in einem der Nebenräume lag, die zum Kanal hinausgingen.

»Hier liegen Eure Kleider, die Ihr anziehen könnt«, sagte er dann mit aller Selbstverständlichkeit. »Wenn Ihr fertig seid, binde ich Euch den Steingürtel um und setze Euch die Maske auf.«

Sie lachte mit einem Mal nicht mehr. »Ist das Euer Ernst?«, fragte sie dann.

»Natürlich ist es das«, gab er zurück, als sei es das Normalste auf der Welt. »Wolltet Ihr nicht ausprobieren, wie das ist, ein Anderer zu sein? Ein Maurer, zum Beispiel, ein Steinmetz, ein Hilfsarbeiter, ein Mörtelanrührer? Ihr dürft ganz sicher sein, dass Ihr dann die gleichen Gefühle empfinden werdet wie alle, die da draußen jetzt über San Marco wandeln. Auf eine andere Weise selbstverständlich. Aber Ihr werdet diesen carnevale so erleben, wie Ihr ihn nie zuvor erlebt habt.«

»Habt Ihr Euch wirklich vorgestellt, dass ich hier hinuntersteige und dieses Haus von unten betrachte?«, fragte sie fassungslos.

»Was glaubt Ihr wohl, wie diese Paläste sonst restauriert werden könnten? Hier in diesen Lastkähnen befindet sich das Material, mit dem die Rammpfähle in den Schlick getrieben werden, in den Stein, mit dem die Matten befestigt werden, auf denen später der Palazzo dann stehen kann wie auf einer Platte.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Woher seid Ihr überhaupt so sicher, dass ich schwimmen kann?«

»Euer Bruder hat in Padua in den Freundeskreisen immer von seiner Schwester erzählt, die wie ein Fisch schwimmen könne.«

»Das hat Riccardo getan?«, fragte sie ungläubig.

»Weshalb nicht? Er war so stolz auf Euch. Niemand von uns hatte eine Schwester, die schwimmen konnte wie ein Fisch. Und außerdem noch tauchen.«

»Ich habe es seit Jahren nicht mehr getan«, erwiderte sie zögernd. »Mit wem auch?«

»Dann wird es Zeit, dass Ihr es wieder übt«, sagte Renzo und ließ sie zurück.

Sie stand in der Kammer, in der auf einem Stuhl Arbeitskleider lagen, wie sie die Männer trugen, die sie sonst auf irgendwelchen Gerüsten stehen sah. Sie legte die Kleider an, betrachtete sich in einem Spiegel an der Wand.

»Sie werden mich nach San Clémente schicken, wenn mich jemand erkennt«, murmelte sie. Aber seltsamerweise störte es sie nicht.

Die Kälte des Wassers empfing sie wie ein Schock. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie in der nächsten Sekunde wieder aus der Finsternis emporsteigen, die Haare aus der Mütze nehmen, den Steingürtel, den Renzo ihr um die Hüfte geschnürt hatte, ablegen und das Licht des Tages, das es nur noch in Spuren gab, in sich aufsaugen, um für immer gegen die Finsternis gefeit zu sein.

Aber nach den ersten Sekunden des Schreckens, spürte sie ihre Hand in der Hand Renzos, sie spürte seine Wärme durch die Handschuhe hindurch, spürte die Kraft, die er ihr gab. Sie konnte ihn durch die Maske, die nicht ganz dicht war, erkennen, die Lampe, die er ihr mit dem Lederband auf der Stirn befestigt hatte, und die zweite, die in seiner Hand pendelte, zeigten die Konturen unter Wasser deutlicher, als sie es erwartet hatte: Sie sah die Piloten, die Rammpfähle, Stamm an Stamm wie hölzerne Soldaten nebeneinander gereiht. Sie sah die Algen, die einen dichten Belag um die Pfähle bildeten, die Geflechte, die die Erdanschüttungen festhielten. Sie sah auch die Reste verwüsteter Städte, die seit Jahrhunderten als Steinbruch für Neubauten benutzt worden waren.

Und sie sah den Mond im Wasser, verschwommen, als wolle er gerade zum Vollmond hinüberwechseln. Irgendwelche kleinen Fische, die in Schwärmen herbeischwammen, leuchteten kurz auf, waren vorüber, ehe sie wahrnehmen konnten, um welche Fische es sich handelte.

Sie berührte mit ihren Händen den Boden, auf dem sie stand, spürte den Schlick unter ihren Fingern, warf einen weiteren Blick zu Renzo hinüber, der sie führte und es ihr gleichtat, genauso, wie er es ihr zuvor gezeigt hatte. Sie nahm seinen wachsamen Blick wahr, seine Augen prüften ihr Gesicht, dann zog er sie sanft nach oben, da er vermutlich das Gefühl hatte, dass ihre Luft inzwischen knapp wurde. Und dies, obwohl er sie zuvor hatte pumpen lassen wie ein Maikäfer.

Sie tauchten langsam auf. Er entfernte im Auftauchen einige Steine aus ihrem Steingürtel, dann sahen sie über sich die dunklen Umrisse der Barke, an deren Rändern sie sich emporziehen konnten.

Sie prustete das Wasser aus, schüttelte den Kopf, spürte, wie der Druck in ihren Ohren langsam nachließ. Sie hielten sich beide tief atmend am Rand des Bootes fest, nahmen die Masken ab. Renzo strich ihr mit einer sachlichen Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Klettern wir hoch?«, fragte sie mühsam.

Renzo lachte.

»Nur für den Augenblick. Jetzt kommt die Hauptsache.«

»Die Hauptsache?«

»Diesmal braucht Ihr keine Maske, auch keine Maikäferübung und kein Hecheln, folgt mir einfach.«

Er ließ sie in einen der anderen Kähne steigen, half ihr beim Überqueren des nächsten Kahns, dann entdeckte sie, dass sie um eine Ecke in einen sehr schmalen Seitenkanal kamen, der ganz offensichtlich an dieser Stelle leer gepumpt worden war, vermutlich, um besser arbeiten zu können. Sie stiegen hintereinander eine Leiter hinunter, dann stellte sie fest, dass sie nun zwischen die Piloten schauen konnte, die hier weniger dicht standen. Renzo, der ihr nachgestiegen war, zwang sie in eine Umarmung mit einem Rammpfeiler, dann zog er sie mit sich in die Mitte der Unterwelt des Palazzos. Er legte den Arm um ihre Schulter und begann mit ihr in dem bereits schwindenden Tageslicht zu tanzen.

Sie schloss die Augen, stellte sich das Gewicht des Palazzos über ihr vor, öffnete die Augen wieder und sah Renzo an.

»Es ist verrückt, ich weiß«, sagte er lächelnd, »aber Ihr dürft sicher sein, dass Euch nichts geschieht. Das Haus ist zwar schon einige Jahrhunderte alt, aber es fällt gewiss nicht zusammen. Zumindest nicht in diesem Augenblick, in dem wir hier tanzen.«

Wieder schloss sie die Augen, drehte sich mit diesem Mann, den sie kaum kannte, zwischen den Piloten, spürte die Feuchtigkeit der Algen durch ihre Kleider hindurch, roch den moderigen Geruch des Holzes. Sie spürte ein leichtes Schwanken des Bodens, ihre Füße standen nicht immer eben, aber die Traumhaftigkeit ihres Tuns ließ alles andere verblassen.

Als Renzo sie nach einer Weile sanft aus dem Gewirr der Piloten herausführte und sie nach oben stiegen, hatte sie das Gefühl, für einen Augenblick nicht in dieser Welt gewesen zu sein.

Er zog sie wieder in das Transportboot, sie verließen die Barke, stiegen über die Wassertreppe in den Palazzo. Renzo führte sie in die Küche, die aussah, als sei sie bereits benutzbar. »Ihr könnt Euch hier umziehen«, sagte er dann und reichte ihr Handtücher. »Ich gehe nach oben. Wenn Ihr fertig seid, kommt nach.«

Sie stieg aus dem Arbeitsanzug und legte die Kleider an, die in der Nähe des Herds über einer Stange hingen: eine weiße bautta. Dann ging sie die Treppe hinauf, deren Treppenstufen sie an ihren eigenen Palazzo erinnerten: ausgetreten, knarrend, an manchen Stellen zerfressen vom Hochwasser.

Als sie in die sala trat, blieb sie an der Treppe stehen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht das Bild, das sich ihr bot. An den Wänden steckten Kerzen in Kerzenhaltern, auf einem kleinen Tisch mit einer alten kostbaren Spitzendecke standen Teller und Schüsseln, von denen ein betörender Duft emporstieg. Dass der Mosaikboden über weite Strecken zerstört war, die Ziegelsteine zerbröckelt, der Stuck an den Decken zerfressen, als hätten ihn die Mäuse zernagt, störte sie nicht.

Am Fenster, dem Kanal zu, stand eine Figur, eine fremde Figur. Sie trug eine Maske. Ihre Kleidung war kein Karnevalskostüm, weder ein arlecchino, ein Clown, noch überhaupt eine Figur der commedia. Es war ein Kostüm, wie sie nie eines zuvor gesehen hatte: blaugrüne, matt seidene Gewänder, wie die Farben des Meeres an fernen Gestaden. Dazu trug sie eine glitzernde Maske in den gleichen Farben, in denen sich das Kerzenlicht brach, sodass sich die Farben wie ein Kreisel auf der Wand spiegelten. Der kunstvolle Hut aus grünblauem Samt war, wie bei einem Sultan, mit einem dicken Wulst umgeben, darüber waren Perlenschnüre gewunden, Spitzentüll verhüllte einen Teil der grünen Maske.

Crestina blieb an der Treppe stehen. Die Maske wandte sich langsam um und kam auf sie zu. »Wer seid Ihr?«, fragte sie leise.

»Weder Mann noch Weib«, schrieb die Maske auf eine kleine Tafel, die sie Crestina entgegenhielt.

»Woher kommt Ihr?«

Die Maske wischte die Tafel frei.

»Von einem anderen Stern«, schrieb sie dann.

»Wie können wir miteinander reden, wenn Ihr von einem anderen Stern kommt?«

Die Maske ließ ein leises Lachen in sich aufsteigen und bot ihr den Arm.

»Ich habe Venezianisch gelernt. Dort oben bei uns«, schrieb er dann auf das Täfelchen. »Ich habe ein galaktisches Essen vorbereitet aus Dingen, die es nur auf unserem Stern gibt und deren Zusammensetzung hier unten nicht bekannt ist.«

Er führte sie an den Tisch, der in der Mitte der einen Seite der sala aufgestellt war, die durch einen Vorhang den Eingang zu einer Tür verdeckte. Hinter dem Vorhang erschienen, von unsichtbarer Hand gereicht, Platten, Schüsseln, Schalen mit Gerichten, die sie nicht kannte. War eine der Schüsseln leer, so stellte die Maske sie auf eine Bank, die von unsichtbaren Händen zurückgezogen wurde.

Das Essen verlief schweigend. Und verkehrt herum. Man begann mit dem Nachtisch, begab sich dann an das Hauptgericht und endete bei der Vorspeise.

Das, was sie aß, hätte sie nicht bezeichnen können. Es schmeckte exotisch, konnte von Tieren stammen, die sie nicht kannte.

»Gebt Euch keine Mühe«, sagte Renzo, »Ihr habt ganz gewiss bisher noch nie Elch gegessen.«

Als die Teller abgeräumt waren, überreichte ihr die Maske ein mit Rosenwasser gefülltes Duftei, das Crestina lachend in Empfang nahm.

»Wenigstens sehe ich diese Dinge einmal, bevor sie den Frauen auf die Kleider geworfen werden.«

»Wie geht es weiter?«, wollte sie wissen, als das Essen beendet war.

Die Maske stand auf, reichte ihr die Hand.

»Dürfte das nicht klar sein? Wir werden das tun, was alle anderen jetzt auch tun: tanzen. Dazu nehmen wir die Musik von Castello, die ist schöner als die von Cannaregio.«

Sie lachte. »Die von Cannaregio könntet Ihr ohnehin nicht nehmen, das ist viel zu weit weg.«

»Ihr wohnt am anderen Ende von Cannaregio, da könnte man es nicht hören, das stimmt.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wisst Ihr etwa auch, wie die Leute heißen, bei denen ich wohne?«, spottete sie.

»Den Namen der jetzigen nicht, den der vorherigen schon. Im Übrigen habt Ihr Euren Wohnsitz ziemlich oft gewechselt. Aber davon wollen wir jetzt gewiss nicht reden. Und wir nehmen das Kaminzimmer zum Tanzen, es ist zwar alles andere als gemütlich, aber ich denke, es ist auf jeden Fall besser als hier in der sala, wo wir uns auf dem aufgerissenen Mosaikboden möglicherweise die Beine brechen würden.« Er ging ihr voraus, sie durchquerten die Kapelle, betraten das Kaminzimmer.

Und begannen zu tanzen.

Nach einer Weile führte er Crestina zu einem tiefen Sessel vor der Feueröffnung. Von unten erklangen Stimmen, eines der Holzscheite zerbrach, Funken stoben in den Raum, irgendwo erklangen die Töne einer Harfe.

»Ihr könntet mir etwas vorlesen«, sagte die Maske in die Stille hinein.

»Vorlesen?«

»Wäre das so falsch?«

»Nein«, erwiderte Crestina zögernd. »Ich wüsste nur nicht, was.«

Renzo deutete an die Wand gegenüber, die bis zur Decke mit Büchern gefüllt war. »Reichen die für eine Nacht?«

Sie lachte, stand auf, ging zu dem Regal.

»Wartet«, hielt Renzo sie zurück, »ich habe eine bessere Idee. Ich hörte, Ihr schreibt Gedichte?«

Sie schluckte. »Von wem wisst Ihr das?«

»Ist das wichtig zu wissen?«

»Vielleicht nicht«, sagte sie nach einer Weile.

»Ich nehme an, dass es Sonette sind?«

»Ja.«

»Könnt Ihr eines auswendig?«

»Ja.«

Er lachte.

»Ihr müsst es natürlich nicht tun. Wir können uns auch gerade so gut durch die Bücher hindurchlesen. Und zwischendrin immer wieder tanzen.«

Sie ging zum Fenster und drehte ihm den Rücken zu.

Die Götter, die uns alle einst gespalten,
Ihr wütend Urteil auch an uns vollbracht,
Ins Weltall stießen sie uns, gaben Nacht,
Damit wir blind und klirrend dort erkalten.

Sie machten halb, was einst für ganz gehalten,
Zerbrachen zornig, was sie selbst erdacht.
Uns blieb die Rache, die wir voll erbracht:
Ein namenloses Heer mit kraftlos grausamen Gestalten.

Die Häuser leer, am Himmel kalte Sonnen.
Die wärmen nicht, wo doch dein Atem fehlt.
Ich friere einsam. Und traure. Ob all der ungelebten Wonnen.

Und seh den Trotz, der deine Stirn erhebt:
Wir weigern uns. Wir werden nie verbrennen.
Wir lachen ihrer. Selbst in Äonen werden wir uns wiederkennen.

Das Gedicht stand im Raum, als sie zum Kamin hinüberblickte.

Sie hatte nie verraten, für wen es einst geschrieben worden war. Und sie war auch nicht bereit, es zu erklären.

Die Maske war inzwischen hinter sie getreten und schrieb etwas auf das Täfelchen. »Euer Schlafgemach ist hinter dem salotto«, stand dort. Sie blickte hoch, die Maske hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und entfernte sich.

Sie blieb einen kurzen Augenblick stehen, wandte sich um und machte sich anschließend auf den Weg zu der Kammer hinter dem salotto.

Als sie ihre Gewänder abgelegt und sich in einer bescheidenen Waschschüssel das Gesicht gereinigt hatte, stieg sie in das Bett, das eher einer etwas komfortableren Pritsche ähnelte, als einem Bett, das in diese Gemächer passte. Sie kroch unter die Decke, schaute auf die Wand, auf der sich das Wasser des Kanals spiegelte, das von Zeit zu Zeit von Lichtblitzen durchzuckt wurde, die von den Gondeln mit ihren Lampen stammten.

Sie schloss die Augen und fragte sich, was der morgige Tag bringen würde.

Am frühen Morgen erwachte sie durch die lauten Stimmen der Barkenführer, die ihre Waren zum Rialto transportierten. Sie stieg aus dem Bett, streckte einen Finger in den Waschkrug und stellte fest, dass das Wasser warm war. Irgendeiner dieser unsichtbaren servi hatte es vermutlich bereits gebracht, als sie noch schlief.

Sie machte sich zurecht, stieg dann rasch die Treppe hinunter, als sie unten ein Hämmern hörte. Sie fand Renzo auf einer Leiter, auf der ein Kübel stand mit einer Kelle darin. »Ihr könnt hier gleich weitermachen«, sagte er und nickte ihr zu, »ich muss für kurze Zeit weg.«

Sie lachte laut.

»Ich war nie zuvor ein Maurer«, sagte sie. »Ihr müsst mir schon zeigen, wie man es macht.«

»Sebastiano wird es Euch zeigen«, erwiderte Renzo und deutete zu einem jungen Mann hinüber, der soeben einen Sack aus dem Lastkahn holte und ihn auf der Schulter ins Haus schleppte.

Bevor sie weitere Einwände vorbringen konnte, war Renzo verschwunden, und Sebastiano nahm eine Kelle in die Hand und zeigte ihr, wie sie den Putz aufzutragen hatte.

»Bringt nicht zu viel davon auf Eure Hand«, warnte er, »es ist ein Gemisch, in dem auch Kalk enthalten ist. Und dann immer mit Schwung«, erklärte er und warf den Mörtel auf die Wand. »Es macht nichts, wenn etwas herunterfällt.«

»Ich vermute, bei mir fällt mehr herunter, als dass es kleben bleibt«, sagte Crestina nach einer Weile, in der ihr Erfolg nicht eben übermächtig war und der Mörtelberg zu Füßen ihrer Leiter beträchtlich wuchs.

Sebastiano lachte.

»Mir ging es auch nicht anders am ersten Tag meiner Arbeit. Heute Mittag werdet Ihr schon besser sein.«

Sie bezweifelte zwar seine Aussage, aber dann stellte sie nach kurzer Zeit fest, dass er Recht hatte: Zwar sah der kleine Abschnitt, den sie hinter sich gebracht hatte, nicht eben gleichmäßig aus, aber immerhin blieb die Masse an der Wand kleben. Irgendwann spürte sie Blasen an ihrer rechten Hand, aber sie war nicht einmal bereit, sie Renzo vorzuführen, als er um die Mittagszeit zurückkehrte.

Er brachte in einem kleinen Beutel Käse, Brot und Wein. Sie setzten sich zu dritt auf die Bänke des Lastkahnes und verzehrten ihr Mahl. Und sie hoffte, dass nicht Leonardo oder Margarete oder Lea zu dieser Stunde hier vorbeikommen und sie in dieser mehr als seltsamen ›Maske‹ auf einem Lastkahn entdecken würden.

Am Nachmittag zeigte ihr Renzo, wie er außen am Palazzo die Fresken abnahm, um sie im Inneren des Hauses wieder anzubringen, damit sie nicht weiter zerstört werden konnten. Danach arbeitete sie weiter an ihrer Wand.

Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, führte Renzo sie zu einem Boot mit einem Ruderer.

»Wohin fahren wir?«, wollte sie wissen.

»Lasst Euch überraschen«, sagte er schmunzelnd, »Ihr fahrt allein. Mich seht Ihr später.«

Die Insel war in gleißendes Licht getaucht.

Sie sah nicht aus wie eine Insel, sondern wie ein Teil des Mondes, auf den sie sich verirrt hatte. Die Salzkristalle glitzerten unter ihren Füßen, als seien sie Edelsteine. Ihre Tritte knisterten, als berührte sie kostbaren Taft.

Es war ihr klar, dass dies die Salzinsel war, zu der sie Renzo damals gebracht hatte.

Dann sah sie die Gestalt am Ufer. Sie trug das gleiche Kostüm wie am Tag zuvor, aber diesmal war es nicht grünblau, sondern silbern. Der Wulst um den Kopfputz war auch heute geschmückt mit Perlenschnüren und kostbaren Seidenbändern.

»Ein Maurer, der einen Mondfürsten besucht«, sagte sie lächelnd, als er ihr ans Ufer half, »wie soll das sein?«

»Der Mondfürst wird sogleich bereit sein für seine Monddogessa«, sagte die Maske und überreichte Crestina galant eine Salzrose. Dann führte er sie in eine der strohgedeckten Hütten der Salzsieder.

Sie betrat den Raum, der eine offene Feuerstelle hatte, ein karges Lager und einen Stuhl mit Tisch, auf dem ein silbernes Gewand ausgebreitet war. Sie kleidete sich um und verließ die Hütte. Die Maske wartete an einer Saline, an der die Salzsieder vermutlich noch bis vor kurzem gearbeitet hatten.

»Heute ist es weniger vornehm als gestern«, sagte Renzo. »Keine unsichtbaren servi, keine kostbaren Speisen. Heute wird der Mondfürst seine Fürstin mit einem kargen Mahl bewirten, mit einem Geschenk des Meeres, mit einem selbst gefangenen Fisch.«

Er legte den Arm um ihre Schulter, führte sie das Ufer entlang, bis sie bereits von Ferne den Geruch des Feuers vernehmen konnte. An einem Steintisch und zwei großen Steinen zu beiden Seiten des Tisches als Stühle ließen sie sich nieder.

Er bemühte sich um den Fisch, der an einem Spieß steckte und sich an einer Hängevorrichtung drehen ließ. Er schnitt das Brot auf dem steinernen Tisch, füllte Schälchen mit Oliven und goss Wein in zwei Becher. Zwei Kerzen steckten in steinernen Haltern. Es war nahezu windstill. Die Kerzen spendeten ein ruhiges Licht.

Auch diesmal gab es ein nahezu schweigendes Mahl.

»Und womit gedenkt der Herr der Salze mich morgen zu beglücken?«, sagte sie und hielt ihm ihre Hände entgegen, auf denen einige Blasen sichtbar wurden.

Er lachte.

»Morgen sind es nicht die Hände, morgen wird es der Rücken sein, der Euch schmerzt. Aber Ihr werdet ganz gewiss ebenso viel Freude an Eurer Verkleidung haben wie heute. Oder irre ich mich da?«

Sie seufzte. »Nein, Ihr irrt Euch nicht. Es war ein sehr seltsames Gefühl. Aber es war natürlich kein carnevale, das ist Euch doch klar, oder?«

»Es ist eine andere Form von carnevale, für mich zumindest. Und ich hoffe natürlich, dass sie tiefer geht als dieses oberflächliche Tun, das nur aus Klamauk besteht. Ihr wart doch ein Maurer in Eurer Seele, oder etwa nicht?«

Sie lachte.

»Ich fürchte, Ihr werdet morgen alles wieder abklopfen müssen, was ich da auf die Wand hingekleckst habe.«

»Glaubt Ihr im Ernst, es kommt auf die Perfektion an bei so etwas?«

»Natürlich nicht«, gab sie zu, »aber ich frage mich, was Sebastiano sich gedacht hat?«

»Sebastiano?«, er blickte sie verwundert an. »Was um Himmels willen hat er damit zu tun?«

»Ich kann das schlecht erklären«, sagte sie, »aber was für uns ein Spiel ist, ist für ihn doch sein wirkliches Leben.«

Renzo schüttelte den Kopf, zunächst verblüfft, dann amüsiert.

»Woher wollt Ihr wissen, was sein wirkliches Leben ist? Schwingt Ihr Euch da nicht zu etwas auf, was Euch nicht zukommt? Und überdies, was soll das heißen, das ›wirkliche Leben‹? Ist das, was wir hier tun, etwa ein falsches Leben?«

Sie blickte über die Lagune, sah das Licht des Mondes im Wasser flackern wie einen riesigen Ball, der auf der Wasserfläche Kindern zum Ballspielen gelassen wurde, ihren Tisch und Renzo mit der Maske.

»Es wird gewiss nicht immer so sein«, sagte sie dann leise.

Renzo schob seine Maske nach oben, sodass Crestina sein Gesicht sehen konnte.

»Wenn es das ist, was ich meine, dann kann es selbstverständlich nicht immer so sein. Aber ganz gleich, was sein wird nach diesen drei Tagen, sie werden in Eurer Erinnerung haften bleiben. Man kann sie Euch nie nehmen, egal, was sein wird. Und falls Ihr eines Tages als uralte Frau auf Euer Leben zurückschauen, die Spreu vom Weizen trennen werdet – vielleicht, vielleicht auch nicht –, dann werdet Ihr Euch an diese Bilder erinnern.«

»Es sind unwirkliche Bilder«, sagte sie. »Der Palazzo unter Wasser genauso wie jetzt diese Mondlandschaft in der Saline.«

»Und was stört Euch daran?«

»Vielleicht, dass sie so wunderschön sind, dass man weinen könnte.«

»Ich werde Euch nicht in den Arm nehmen«, sagte Renzo leise, »weil ich Euch nie bedrängen werde. Auch wenn dies ein Augenblick wäre, an dem ich es eigentlich tun müsste.«

»Aber tanzen müssen wir doch auch heute«, sagte sie und stand auf, »oder etwa nicht?«

Er lachte.

»Tanzen müssen wir natürlich auch heute«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Aber diesmal ohne Musik. Diesmal nehmen wir nur die Wellen dazu.«

Und dann tanzten sie auf dem gleißenden Licht des Mondes in der Saline, spürten die Brüchigkeit des Salzes unter ihren Füßen und wussten, dass es keine Worte geben würde, um das zu beschreiben, was soeben geschah. Es war ihnen bewusst, dass es ein Augenblick war, der auch in tausenden von Jahren nicht zu wiederholen sein würde.

Sie erwachte am anderen Morgen in ihrer Hütte, der Geruch von Holz und Hirsebrei drang in ihre Nase, neben ihrem Kopf lag eine winzige silberne Ledermaske.

Sie stieg von ihrer Pritsche, spürte die Müdigkeit noch in den Gliedern vom Tag zuvor, und sie wusste, dass das, was sie erwartete, kaum leichter sein würde. Die Fässer mit Salz, die sie in der Nacht gesehen hatte, mussten ganz offensichtlich gefüllt werden.

Das Morgenmahl war karg an diesem Tag, und sie nahm es zusammen mit einem alten Arbeiter ein, dessen Gesicht von tausend Furchen durchrissen schien. Der Patrone sei bereits unterwegs, informierte er sie, er komme um die Mittagszeit zurück.

»Bis dahin soll ich Euch zeigen, was es heißt, ein Salzsieder zu sein«, sagte der Mann lächelnd. »Aber keine Angst, ich soll Euch nicht zu arg strapazieren, noch immer ist carnevale. Und es arbeiten auch nur einige von uns, weil eines unserer Schiffe in den nächsten Tagen ausläuft.«

Sie lachte, ging dann mit dem Mann vor die Hütte, kniff die Augen zusammen, als die Sonne kam. Das grelle Weiß des Salzes blendete, die Luft war geschwängert mit seinem Geruch. Dann begannen sie mit ihrer Arbeit.

Das Schiff lag an der Mole des Arsenals. Es war eine ziemlich große Kogge inmitten von anderen Kauffahrerschiffen, die vermutlich bald auslaufen würden, zumindest ließ die Hektik darauf schließen. Ballenbinder schleppten riesige Ballen auf das Schiff, große Käfige – vermutlich für Hühner und Schweine – wurden über den Steg transportiert, Gallonen mit Trinkwasser rollten heran.

Sie saß auf einem der Ballen mit Baumwolle und schaute zu.

Es war noch früh am Abend, aber der alte Mann in der Saline war der Meinung gewesen, dass sie genug im Salz gearbeitet hatte. Wobei er ohnehin den Kopf schüttelte über diese seltsame Idee seines Patrons.

Als die Dämmerung hereinbrach, leerte sich das Schiff, die Stimmen wurden leiser, und irgendwann hatte sie das Gefühl, dass sie inzwischen der einzige Besucher dieser Kogge war. Sie sah hinüber auf die Brücke, aber auch dort war niemand zu entdecken.

Erst als die Dämmerung schon fast in die Nacht überging, kam ein Matrose über die Schiffsrampe und übergab ihr das gleiche Täfelchen wie an den Tagen zuvor.

»Ihr werdet im Salon erwartet«, stand in einer kunstvollen Schrift auf der Tafel, und wieder hing eine kleine lederne Maske an der Nachricht, diesmal mit einem Dreizack und der Maske des Poseidon. »Euer Kostüm findet Ihr an Eurem Schlafplatz.«

Sie lächelte vor sich hin, natürlich konnte es sich bei dem Schlafplatz nur um die Hängematte handeln. Sie stieg in den Bauch des Schiffes hinab, Niedergang, an den Ställen vorbei, Verschlage, dann fand sie den Ort, der gemeint war. Die Hängematten waren bereits heruntergelassen. In einer davon fand sie ein Beinkleid, eine Bluse und eine Matrosenmütze. Sie kleidete sich an, sah an sich hinunter und wusste, es war etwas, was sie sich ein Leben lang gewünscht hatte. In die Wanten zu klettern und auf dem Topp zu sitzen, hätte ihr Vater nie und nimmer erlaubt. Aber vermutlich nicht einmal Riccardo, musste sie sich gerechterweise sagen.

»Ich sah Euch vorhin stehen, als Ihr Euch auf dem Deck umsaht, Euer Blick ging zum Topp, ist es das, was Euch interessiert?«

Sie bemühte sich, nicht zu zeigen, was sie empfand bei dieser Frage. In den seltenen Fällen, in denen sie von ihrem Vater auf eines der Schiffe mitgenommen worden war, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dort oben zu sitzen. Eine Herrin der Meere zu sein, dem Himmel nah, aber anders, als es Jacopo ständig gepriesen hatte. Bei jeder Influenza hatte die Dienerschaft hören müssen, dass er nun dem Himmel nah sei und demnächst wohl über den Jordan gehe. Er hatte Bilder von Flöhen gesammelt, abgezeichnet, ausgesucht, und Mappen voll davon in seiner Truhe aufbewahrt. Besonders Anna hatte das nur noch zu wildem Lachen gebracht, in der Meinung, dass in Jacopos Kopf nicht mehr alles in Ordnung sein könne.

Als sie jetzt in die Wanten stieg, Fuß um Fuß höher setzte, das Gesicht nach oben gewandt, nie nach unten, wie Renzo befohlen hatte, wusste sie sich geführt. Als ginge eine unsichtbare Leine von dieser Maske dort unten zu ihr empor, halte sie fest und verhindere ihren Fall in die Tiefe. Es war ein Gefühl der Befreiung, wie sie es nie zuvor gefühlt hatte. Sie stieg höher, noch höher, erreichte den Korb, ergriff ihn, nicht wie einen Rettungsanker, sondern wie ein Stück Freiheit, das ihr soeben in dieser Minute geschenkt wurde. Sie kletterte auf den Sitz und blickte empor. Die Sonne begann soeben unterzugehen. Sie sank langsam, nicht rasch, wie sie wusste, dass es in den Tropen geschah. Sie hatte Zeit, sich umzusehen. Sie sah die Stadt ganz langsam im Dunkel versinken, als ginge sie unter wie einst vor Jahrhunderten die Insel Malamocco. Der Himmel wurde milchig, schien herabzuschweben, verwischte sich dann mit der Erde, ließ den Unterschied zwischen beiden verschwinden. Und sie hatte das Gefühl, dass das, was ihr drei Tage zuvor bei der blauen Madonna in Torcello nicht gelungen war, in diesem Augenblick stattfand.

Mit dem Gesicht zu den Wanten stieg sie zurück. Die Maske wartete unten, reichte ihr nicht die Hand, sondern ging stumm voraus und führte sie in einen Raum, der vermutlich der Raum des Patrons war. Sie legte das Gewand des Matrosen ab und schlüpfte in das andere Gewand, das dort lag. Es war passend zu der Maske des Poseidon und sollte vermutlich die Frau des Poseidon, Amphitrite, darstellen oder ganz einfach eine Meerjungfrau. Der Salon, über den sie sich wunderte, war bescheiden.

»Mich interessiert der Luxus holzgetäfelter Räume nicht«, erklärte Renzo. »Ich brauche Räume, die ich benutzen kann. Sie müssen nicht unbedingt hässlich sein, aber ich verwende gewiss nicht das teuerste Holz, das ich bekommen kann.«

Das Gespräch bei diesem Essen war seltsam karg. Es war, als hing das Ende dieses mehr als seltsamen carnevale bereits wie das Schwert des Damokles über ihnen und war bereit, auf sie herabzufallen. Es war ihr klar, dass sie sich auf ein Abenteuer eingelassen hatte, von dem sie nicht wusste, wie es ausgehen würde. Vermutlich wusste es dieser Salzhändler Renzo Grimani genauso wenig. Und sie konnte sich nicht vorstellen, wozu er dies alles veranstaltet hatte, wenn er das Ganze auslaufen lassen wollte, ohne irgendein Ziel dabei zu verfolgen. Natürlich konnten sie sich am Kai verabschieden, freundlich, mit Maske, ohne Maske, sie als Matrose, er als Salzhändler. Sie konnten miteinander durch die Stadt gehen, durch die Berge voller Abfälle, jeder in sein Heim, wobei sie nicht einmal wusste, wo er eigentlich wohnte. Gewiss keinesfalls in der alten Salzhütte oder in dem halb zerfallenen Palazzo. Und natürlich konnte alles auch damit enden, dass sie nicht in der Hängematte schlief, sondern in irgendeinem Bett, das es auf dieser Kogge gewiss gab, auch wenn sie bisher keines gesehen hatte.

Als das Essen irgendwann zu Ende war, stand Renzo auf. Er ging zu einem Regal an der Wand, nahm eine Spieluhr vom Brett.

»Sie stammt von meinem Großvater«, erklärte er dann. »Er war ein Mann der Experimente, und er beschäftigte sich mit Uhren. Wie Ihr seht, hat es hier eine ganze Menge davon. Ich traue ihm zu, dass es ihm auch gelungen wäre, diese Spieluhr zu machen, aber sie stammt aus anderen Ländern. Als Kind habe ich zum Einschlafen immer diese Melodie hören dürfen, ich hörte sie so oft, dass ich sie nun auch ohne weiteres singen könnte, aber sicher gefällt sie Euch besser, wenn wir sie hören und dazu tanzen.«

Er drehte die Uhr auf, reichte ihr dann den Arm. Wenn sie es hätte beschreiben müssen, so hätte sie nur sagen können, dass sie tanzten. Irgendwie fehlten ihr die Worte, um das auszudrücken, was sie in diesen Augenblicken empfand. Sie nahm nicht einmal wahr, dass die Uhr abgelaufen war. Sie tanzten weiter. Immer weiter. So lange, bis Renzo sie behutsam aus seinen Armen entließ und die Uhr ein zweites Mal aufzog. Sie empfand sich wie in Trance. Sie hatte einmal davon gelesen, dass solch ein Zustand eintraf, wenn man einen ganz bestimmten Wein getrunken hatte, in dem irgendetwas gelöst worden war. Aber sie war ganz sicher, dass Renzo nicht zu diesen Mitteln gegriffen hatte, um sie sich gefügig zu machen. Falls er das überhaupt beabsichtigte.

Sie standen nebeneinander an der Reling, als die Uhr zwölf schlug. Von der Stadt her hörte man die Geräusche des Festes, als würden sie wie mit einer gewaltigen Flutwelle noch einmal zu ihnen herüberbranden, so, als solle die Agonie dieses carnevale so weit wie möglich hinausgeschoben werden.

»Wir könnten in die nahe gelegene Kirche gehen«, schlug Renzo vor, »falls Ihr das wollt.«

Sie überlegte einen Augenblick, schüttelte dann den Kopf.

»Nein, ich möchte keinen anderen Abschluss dieser Tage. Tage, für die ich Euch sehr danke«, sagte sie dann entschlossen.

»Ihr entscheidet, ob es ein Abschluss ist«, erwiderte Renzo. »Dieses Schiff läuft am ersten Tag des neuen Monats aus. Nach Zypern. Es wird keine gefährliche Reise werden, wir fahren als Flottille mit Kauffahrerschiffen und bewaffneten Galeeren. Ihr müsstet also keine Angst haben. Falls Ihr mitkommen wolltet.«

Sie nickte, war sich jedoch nicht sicher, was dieses Nicken bedeutete. Ob es überhaupt etwas bedeutete oder ob sie sich nur die Antwort ersparen wollte, weil sie in diesem Augenblick ganz gewiss keine parat hatte.

»Ihr findet Eure Hängematte?«, fragte Renzo, als sie sich umwandten.

Sie nickte, lachte dann.

»Allein der Geruch wird mich in die richtige Richtung schicken. Ich habe noch immer das Salz in den Haaren.«

Er sagte nicht, dass er irgendwo oben in der Kajüte sei, falls sie Hilfe brauche, aber sie wusste, dass es so war. Sie hatte zuvor bereits von einem der Bullaugen aus die Wachen gesehen, die das Schiff behüteten. Also stieg sie in den Bauch des Schiffes hinab, da, wo es am meisten schaukelte. Sie stieg in ihre Hängematte, hatte zunächst Schwierigkeiten beim Hineinklettern und machte zweimalige Bekanntschaft mit dem Fußboden, bis sie endlich richtig lag. Im Schein der Kerze konnte sie ihr Kostüm liegen sehen. Der Fischschwanz der Meerjungfrau schimmerte silbern im Zwielicht, und die grünen Perlen des Kopfputzes glänzten wie Edelsteine.

Sie beschloss, in dieser Nacht keine Gedanken mehr daran zu verschwenden, ob sie mit dieser Flottille überhaupt irgendetwas zu tun haben wollte.

Und sie beschloss außerdem, dass sie kein Aschezeichen auf ihrer Stirn haben wollte.

Sie sah Renzo nicht mehr am anderen Morgen. Er habe das Schiff bereits in aller Früh verlassen, erklärte ihr der Matrose, der sie an Bord gebracht hatte und sie in den Salon führte, in dem ein Morgenessen auf sie wartete.

Er brachte sie in einer Gondel über die Lagune, ließ sie in der Nähe ihres Palazzos aussteigen.

Im androne, in jener halb zerstörten alten Gondel, lagen drei kleine lederne Masken auf einem Stück grünblauer Seide.

Sie erfuhr nie, wer sie dorthin gebracht hatte.