6. Limonaia I

Sie erreichte die limonaia erst am späten Nachmittag, schon halb in der Dämmerung, da sie zuvor noch ihre Korrekturen in der Druckerei hatte abliefern müssen. Sie vertäute das Boot am Ufer der Brenta, stieg dann mit ihrem kleinen Karren, in den sie Lebensmittel für einige Tage eingepackt hatte, den Hang hinauf und blieb aufatmend vor der Tür ihres kleinen Häuschens stehen. Sie nahm den Schlüssel mit dem rostigen Bart aus ihrem Korb und stocherte damit im Schloss, das nach wie vor klemmte. Aber offenbar taten dies alle Schlösser, mit denen sie zu tun hatte.

Sie versuchte, sich zu entsinnen, wann sie zum letzten Mal hier gewesen war, aber sie brachte ihre Erinnerungen durcheinander, konnte nicht mehr zuordnen, was ›vorher‹ und ›nachher‹ geschehen war. Sie wusste nur, dass es in jener Zeit gewesen sein musste, in der tagelang Regen fiel und durch den Sturm ein Dachziegel zerbrochen worden war, sodass sie mit einem Eimer das Wasser auffangen musste.

Am Anfang der Zeit nach dem Verlust des Palazzos, die sie als die ›obdachlose‹ Zeit bezeichnete, war sie ziemlich oft hier gewesen. Die limonaia war der Ort, der am meisten von dem ausstrahlte, was ihr einst etwas bedeutet hatte. Vor allen Dingen auch deswegen, da sie einige der wenigen Möbel, die ihr aus Riccardos Kammer geblieben waren, hier eingestellt hatte: ein Stehpult, eine Truhe, ein schmales Ruhebett, das ursprünglich nur für kurze Pausen gedient hatte, wenn Riccardo sich zwischen seinen Schreibarbeiten zum Nachdenken zurückziehen wollte. Dass sie diese Behausung in der ersten Zeit ihres Alleinseins überhaupt als ihr Heim betrachtet und jeden Tag den mühsamen Weg zu Leonardos Druckerei durch die Lagune gemacht hatte, nur um für ein paar kurze Augenblicke auf Riccardos Liege ruhen zu können, war ein Akt, zu dem sie stand. Auch wenn die wenigen Menschen, mit denen sie damals Kontakt hatte, sie und ihre hektische Suche nach einer Bleibe schon fast für verrückt erklärt hatten.

Sie stellte mit Erleichterung fest, dass der Eimer unter der zerstörten Dachplatte leer war, ging in die winzige Kochecke, stellte ihre Kiste mit Lebensmitteln auf den Tisch und legte in der Schlafnische ihre Bettwäsche auf die Matratze, die an die Wand hochgelehnt war.

Sie betrat den Wohnraum und hatte das Gefühl, dass die Spinnweben, die von der Decke herabhingen, sie umhüllten wie ein Kokon. Aber das störte sie nicht, da sie ohnehin nur alte Kleider trug, wenn sie in ihrem Boot hierher kam. Sie bückte sich, um den Kerzenleuchter vom Boden hochzunehmen, und blieb dabei mit ihrem Rock an einem Nagel des Tisches hängen. Es gab ein hässliches Geräusch, und sie erschrak ein wenig. Dann entzündete sie die Kerzen und wollte soeben den Leuchter auf den Tisch stellen, als sie draußen vor dem Fenster auf einmal einen Schatten wahrnahm. Sie zuckte zusammen, spürte, wie sie wieder dieses durch nichts zu stoppende Zittern überfiel, und überlegte, was sie tun sollte. Das heißt, genau genommen überlegte sie gar nichts. Sie zitterte vor sich hin, erwachte erst aus ihrer Trance, als es an der Tür klopfte und eine fremde Männerstimme ein höfliches »Permesso!« rief.

Das Zittern fiel von ihr ab, fast im gleichen Augenblick, als sie erkannte, dass es nicht Bartolomeos Stimme war.

Sie wischte über ihr Gesicht und öffnete dann zögernd die Tür.

»Ich sah einen Karren, hörte Geräusche, und wollte schauen, ob alles in Ordnung ist«, sagte der Mann, der vor der Tür stand, entschuldigend. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht erschreckt.«

»Weshalb sollte etwas nicht in Ordnung sein?«, fragte sie ablehnend.

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Diese limonaia steht leer, vermutlich ebenso lang wie die Villa, die ständig ihren Besitzer wechselt, so wie andere Leute ihr Hemd.«

Er betrachtete sie aufmerksam, trat einen Schritt näher und bemerkte offenbar den Riss in ihrem Rock und die Spinnweben in ihrem Haar.

»Zuletzt soll eine Dienerin hier gewohnt haben, die zum Putzen herkam, so hat man mir erzählt. Aber es wird hier viel erzählt. Was wahr ist und was falsch, weiß niemand.«

Crestina wischte über ihr Haar, um die Spinnweben zu entfernen, zog ihren Rock zusammen, um den Riss zu verbergen, bemühte sich aber keinesfalls, den Irrtum aufzuklären, dass sie keine Dienerin sei. Sie hatte sich angewöhnt, so wenig wie möglich über ihre Person auszusagen, und das nicht erst, seit sie im Auftrag Leonardos manchmal diese nicht ganz ungefährlichen Kurierdienste für die Gruppe der Buchhändler ausführte, die in jedem Fall die Inquisition auf den Plan rufen würde, wenn es jemand erfuhr.

»Euer Dach ist nicht in Ordnung«, fuhr der Mann fort und deutete nach oben. »Beim nächsten Regenguss wird es ungemütlich für Euch werden.«

»Dafür gibt es Eimer«, sagte sie steif und deutete hinter sich.

»Nun ja, so kann man es natürlich auch sehen«, sagte der Mann achselzuckend und wandte sich zum Gehen.

Er hatte sich bereits ein paar Schritte entfernt.

»Gehört die Villa jetzt Euch?«, rief sie ihm nach.

Er drehte sich um und sah sie abschätzig an.

»Sie gehörte erst Leuten, die alles verlottern ließen«, sagte er dann hart. »Das Dach kaputt, der Kamin halb zusammengebrochen, die Türen schief in den Angeln, die Treppen morsch. Und als diese Leute dann irgendwann das Interesse verloren an einem Haus, das nahezu unbewohnbar geworden war, geriet es an andere, denen es wichtig war, dass sie eine Palladio-Villa besaßen. Und das war's dann auch schon. Die jetzigen Besitzer sind zwar zu dumm, um überhaupt zu wissen, was es bedeutet, eine Palladio-Villa zu besitzen, aber sie tun wenigstens etwas dafür. Zumindest stopfen sie sie bis an die Decke voll mit kostbaren Möbeln und Teppichen, ganz gleich, ob es zusammenpasst oder nicht. Wie lange die Liebe hält zu diesem armen Haus, das sich nicht wehren kann, weiß ich nicht.«

Er machte eine Pause und blickte über sie hinweg.

»Es müsste ein Gesetz geben, das Leuten, die keinerlei Verantwortung für die Dinge haben, die ihnen anvertraut sind, verbietet, solche Dinge zu besitzen«, fügte er grimmig hinzu.

Dann wandte er sich um und verschwand grußlos in der Nacht.

Sie schloss die Tür und stellte für sich fest, dass er keinesfalls besser ausgesehen hatte als sie. Auf seiner Hose hatte sie Schlammflecken entdeckt, seine Hände waren schwarz von Ruß und der seltsame Lederhut, den er trug, der aussah wie eine ziemlich schäbige Tiara, war voll mit Gipsspritzern.

Ein Kaminbauer also oder ein Maurer, der sich urplötzlich zum Weltenrichter berufen sah, dachte sie verärgert, als sie später zu Bett ging. Vielleicht war er auch nur ein armer Dachdecker, der hier ein paar Dachziegel neu verlegen durfte und sich dabei in das Gefühl hineinsteigerte, dass diese Villa eigentlich ihm gehören müsste, weil nur er in der Lage war, sie auch gebührend zu schätzen. Sie drehte sich zur Wand, hatte Mühe einzuschlafen, drehte sich wieder zur Tür. Sie fragte sich plötzlich, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, aber offenbar waren ihr die Gipsspritzer auf dem Hut und der Ruß an seinen Händen wichtiger gewesen als Augen und Mund oder Nase. Sie seufzte, ärgerte sich über ihre Beschäftigung mit einer Angelegenheit, die sie nichts anging und ihr im Grunde genommen auch völlig egal war.

Zumindest bildete sie sich ein, dass dem so sei. Und dass sie auch die schmutzigen abgebrochenen Fingernägel nicht störten, weil es nun mal seine Fingernägel waren und nicht die ihren.