1. Buch

1. Bartolomeo

Bartolomeo kam mit der Flut.

Sie erinnerte sich an den Satz in aller Deutlichkeit.

Aber sie hätte keinesfalls mit Gewissheit sagen können, ob er seinerzeit überhaupt ausgesprochen worden war.

Oder nur gedacht.

Oder gar geschrieben – damals vor fünf Jahren.

Und falls eine dieser Möglichkeiten zutraf, von wem er stammte. Wer ihn gedacht, ausgesprochen oder geschrieben hatte.

Natürlich hätte es Jacopo gewesen sein können, oder Anna. Anna pflegte Sätze in derlei pathetischem Tonfall zu sagen, wenn sie der Meinung war, sie müsse die Vergangenheit heraufbeschwören, wenn sich die Familie, der sie diente, nicht mehr an sie erinnerte.

Am wahrscheinlichsten allerdings erschien ihr, dass dieser Satz ob seiner Schlichtheit von ihr, Crestina, stammte, da sie damals fast noch ein Kind gewesen war. Riccardo, ihr Bruder, hätte die Überschwemmung in der Lagune vermutlich anders beschrieben. Er hätte sich sofort mit wissenschaftlicher Akribie dieses Satzes bemächtigt, hätte die Sache ganz sicher aus dem Stand heraus mit früheren Überschwemmungen verglichen und hätte exakt die Marken an den Gebäuden nennen können, die verrieten, wie hoch das acqua alta damals gestiegen war. Er hätte gewusst, was man unternommen hatte und was nicht.

Sie erinnerte sich, dass Bartolomeo damals, als er mit einer gewaltigen Woge gegen das androne, das Wassertor ihres Palazzos, geschleudert worden war, das Aussehen einer ertränkten Katze gehabt hatte. Eine Katze, die selbst noch im Todeskampf versucht hatte, die Krallen zu zeigen und sich zu wehren. Er hatte also keinesfalls hilflos ausgesehen, etwa wie ein Sack Mehl – auch dies war damals ein Gedanke gewesen. Zumindest ihrer. Oder vielleicht auch nicht und sie hatte ihn möglicherweise sehr wohl wie einen Sack Mehl gesehen und ihre Erinnerung versagte wie bei so vielem, was diesen Teil ihrer Vergangenheit betraf.

Als jener Mann – den sie für Bartolomeo hielt – jetzt mit hastigem Gang über die Mole von San Marco eilte und zwischen den beiden Säulen der piazzetta, an denen die Verbrecher aufgehängt wurden, den Weg zum Dogenpalast einschlug, war sein Gesicht von einem Eifer erfüllt, als wolle er der gläubig versammelten Menge hier auf dem Platz sogleich das urbi et orbi erteilen. Aber trotz allem wirkte er noch immer so, als sei er zufällig mit der Flut angeschwemmt worden und gehöre keinesfalls hierher.

Der Mann trug keine Kutte, was sie für einen Augenblick irritierte. Er war mit dem schwarzen Umhang, der bautta, bekleidet, mit dem Dreispitz und der Maske, die ihm der Wind soeben mit einem heftigen Stoß vom Kopf blies und ihr fast vor die Füße wehte. Noch während sie überlegte, ob sie nach ihr greifen sollte, wurde ihr klar, dass sie keinesfalls das Verlangen spürte, mit ihm zusammenzutreffen. Für einen winzigen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken zu fliehen, da sie inzwischen das Gefühl hatte, als sei sie selbst auf der Flucht vor einer Woge, die sie zu überrollen drohte. Aber dann entschied sie sich abzuwarten, was geschehen würde. Dass etwas geschehen würde, schien ihr sicher.

Es waren inzwischen mehr als fünf Jahre vergangen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. In jener Nacht, in der sie die Nachricht erhielt, dass ihre gesamte Familie an der Pest gestorben war – die Eltern tot, die Großeltern, Cousinen, Vettern, die gesamte Dienerschaft. Sie erinnerte sich auch an jenes Stück Papier, das er ihr damals mit freundlichem Gesicht überreichte, ein Papier, auf dem geschrieben stand, dass der Palazzo ihrer Familie, in dem sie allein wohnte, nachdem ihr Bruder an der Pest gestorben war, in den Besitz seines Ordens übergegangen war. Weil es ihr Vater kurz vor seinem Tod so bestimmt hatte. Angeblich. Und weil es so im Testament stand. Später.

Der Mann hatte inzwischen den Eingang des Dogenpalastes erreicht, und sie wusste in der gleichen Sekunde, was nun geschehen würde: Er warf ein zusammengefaltetes Papier in la bocca. Sie wusste es deswegen vorweg, weil sein Gang, seine Körperhaltung, sein nach vorne gestreckter Kopf es ausstrahlten. Diese Absicht in diesem weit geöffneten Mund, der begierig alle Sündigkeiten dieser Stadt – der serenissima, die Heiterste, wie sie sich nannte – in sich aufnahm. Sie wusste, dass in dieser Sekunde mit diesem eingeworfenen Zettel die Uhren für irgendeinen Menschen in dieser Republik anders gehen würden. Dass sein Delikt, ganz gleich, um was es sich handelte und ob es überhaupt als solches zu bezeichnen war, nun nicht mehr sein Geheimnis bleiben konnte. Es würde bekannt werden. Wie bekannt und welche Auswirkungen es haben würde für den Betreffenden, war in diesem Augenblick nicht abzusehen. Ob eine Geldstrafe, Kerker, Verbannung, die Galeere oder gar eine Zurschaustellung seines gemarterten Körpers an einer dieser beiden Säulen auf der piazzetta, blieb ungewiss. Gewiss war nur, dass dieser Mann für seine Tat Geld bekommen würde: fünfhundert Dukaten waren es insgesamt, die seine Behörde für diesen ›Dienst‹ zur Verfügung stellte. Wenn es zum Prozess kam, wurde die Summe dreigeteilt – ein Drittel für die Republik, ein Drittel für die esecutori contro la bestemmia und ein Drittel für denjenigen, der das Unheil in Gang gebracht hatte.

Der Mann, den sie für Bartolomeo hielt, musste seiner Sache sicher sein. Er hatte das Papier mit aller Gelassenheit und Selbstverständlichkeit in diese bocca geworfen. Er hatte sich weder zuvor noch danach umgesehen, ob ihn vielleicht jemand beobachtete. Er hatte seine ›Pflicht‹ getan als Bürger dieser Stadt, die sich die Kosten für irgendwelche Polizisten sparte: Die gesamte Stadt bestand aus Polizisten. Polizisten, die bereit waren, ebenfalls ihre Pflicht zu tun. Vermutlich nicht unbedingt wegen des Geldes, sondern weil sie glaubten, dass alles so seine Richtigkeit hatte. Vor allen Dingen dann, wenn man anschließend in die Kirche ging. So, wie es dieser Mann jetzt tat.

Sie schloss die Augen, aber sie konnte hinter den geschlossenen Lidern sehen, wie alles ablief. Sie konnte sehen, wie er in die Kirche hineinhastete, dabei geschickt den unebenen Stellen des Bodens ausweichend. Sie sah, wie er das Kreuz schlug, sich dann zum Beten niederkniete. Nicht vor dem Hauptaltar, sondern vor einem der Nebenaltäre, die zu dieser Zeit meist weniger besucht waren. Und sie fragte sich, was dieser Mann dort zu beten hatte. Ob er überhaupt betete oder nicht lediglich im Geiste bereits die Dukaten zählte, die ihm für seine Dienste zuteil wurden. Und sie fragte sich, was er damit zu tun gedachte.

Als sie schließlich weiterging, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen den Weg zum Ghetto einschlug, spürte sie, dass sie zu frösteln begann. Sie hatte geglaubt, es hinter sich gelassen zu haben und hatte sich immer wieder laut vorgesagt, dass es vorüber war nach dieser langen Zeit, dass sie gerettet war. Aber sie erkannte jetzt, dass es ihr noch immer nicht gelang, den Bildern jener Zeit zu entrinnen, die ungehemmt auf sie einstürmten. Ihre Gedanken stürzten wie eine Affenherde auf sie zu, ließen sich nicht abwimmeln. Sie fühlte wieder, wie ihr der Schweiß ausbrach und in dünnen Rinnsalen den Rücken hinablief, wie er ihre chemisette durchwaberte, dann zu ihrem Hals hinaufkroch und sich schließlich der darüber liegenden Kleidungsstücke bemächtigte, sodass sie irgendwann das Gefühl hatte, jedermann müsse ihr nun ansehen, dass sie wie ein Säugling von Kopf bis Fuß eingenässt war.

Und dabei war sie nicht einmal ganz sicher, ob sie in ihrem Entsetzen überhaupt richtig hingesehen hatte. Ob der Umhang wirklich eine bautta gewesen war oder nicht doch vielleicht eine einfache Kutte. Der Dreispitz vielleicht nur ein Barett, wie es Tausende von Venezianern trugen, und die Maske, die er ganz offensichtlich nicht einmal vermisste, etwa Teil eines Kostüms vom carnevale, der bald bevorstand.

Aber was immer er auch getragen haben mochte, es machte für sie keinen Unterschied, falls es sich wirklich um Bartolomeo handelte.

Er war in der Stadt, und nur das zählte.

Und er würde sie ganz gewiss finden.

Ganz gleich, wie gut sie sich auch verstecken mochte.