9. Bartolomeo

Dass Crestina sich an diesem Morgen mühsam über die Holzstege des völlig überfluteten Markusplatz gequält hatte, hatte zum einen mit der acqua alta zu tun, die sie am Einkaufen gehindert hatte, und zum anderen mit Leas Gespräch im Ghetto am Abend zuvor. Ein Gespräch, das ausnahmsweise nicht mit Bianca oder dem Messias zu tun hatte, sondern mit Clemens. Sie habe gehört, dass Clemens mit nicht einwandfreien Geschäften zu tun habe, hatte Lea ihre Freundin gewarnt.

Von wem sie dies wisse, hatte Crestina wissen wollen.

Lea hatte die Augen gerollt.

»Fragst du das wirklich in dieser Stadt? Wo einer dem anderen erzählt, was ihm ein anderer gerade vor fünf Minuten erzählt hat? Oder welchen Zettel er gerade in irgendeiner Mauerritze entdeckt hat?«

Jetzt, als sie den Kai verließ und den schmalen Steg zur ›Chrestina‹, wie Renzo das Schiff ihr zu Ehren einst benannt hatte – ›Chrestina‹ mit h, weil ihm das besser gefiel –, hinüberging, konnte sie Clemens auf der Brücke sehen, der sich mit einem Mann unterhielt, von dem er ihr gestern erzählt hatte. Ein Mann, mit dem er offenbar ein lukratives Geschäft plante. Ob es einwandfrei war, hoffte sie zu erfahren. Ludovico hatte gebeten, bei dem Gespräch dabei sein zu dürfen, auch wenn ihn dieses Geschäft keinesfalls interessierte. Aber er hatte sich am Tag zuvor vor den Globus gestellt, um den Ort zu finden, an den dieser Mann in nächster Zeit hinreisen wollte: Mexiko.

Der Mann, mit dem das Geschäft ganz offensichtlich stattfinden sollte, stand auf der Brücke und diskutierte heftig mit Clemens, als Crestina näher kam. Sie sah ihn von hinten, einen korpulenten, mittelgroßen Mann in einer vornehmen Kleidung, die ganz eindeutig nicht aus Venedig stammte, eher aus einem der Länder, mit denen die Stadt Handel trieb.

Sie blieb einen Augenblick hinter der Gruppe stehen, zu der sich inzwischen noch ein Offizier gesellt hatte, da sie das Gespräch interessierte.

»Barbados«, sagte der Mann soeben und machte mit der Hand eine kreisende Bewegung, so, als ob sich dieses Barbados gerade im Umkreis der Lagune befände. »Und später natürlich Jamaika.«

Ludovico, der die Mutter inzwischen entdeckt hatte, wandte sich freudig erregt um.

»Stell dir nur vor, er fährt in einigen Tagen nach Jamaika und Barbados.«

»Mit welcher Ladung?«, wollte Crestina wissen, da sie annahm, dieses Geschäft habe etwas mit ihrer Reederei zu tun.

Der Mann wandte sich um, blickte Crestina prüfend an. Dann ging ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, und er legte Ludovico seine Hand auf den Arm.

»Seht Ihr nun die Ähnlichkeit, von der ich Euch bereits erzählte?«, fragte er dann mit einem sparsamen Lächeln.

Crestina sah ihn irritiert an. »Welche Ähnlichkeit denn?«

Der Mann lachte, klopfte sich auf die Schenkel und bedeckte seinen Bart, der das Gesicht halb verdeckte, mit einer Hand. »Nun?«

Crestina spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen. Als Clemens zu ihr herunterkam und ihren Arm berührte, schien sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen.

»Er sagte, wir wären miteinander verwandt. Sogar nah verwandt, nicht nur irgendwie«, meinte er dann zögernd.

»Bartolomeo«, flüsterte Crestina. Dann klammerte sie sich an Clemens' Arm, als sei er der einzige Gegenstand, der ihr in diesem Augenblick Kraft geben könne. »Bartolomeo, ich habe ihn kaum erkannt.«

»Bartolomeo kam mit der Flut«, murmelte sie dann fast lautlos vor sich hin.

Bartolomeo kam mit der Flut. Sie erinnerte sich an diesen Satz, der sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, als sei er damals, als er zum ersten Mal Bedeutung gewann, mit einem Meißel in Stein gehämmert worden. Es war ein Satz, an den sie jahrelang nicht mehr gedacht hatte, vor allem deswegen, weil sie auch gar nicht mehr wusste, wer ihn eigentlich gesagt hatte. Es konnte auch ebenso gut sein, dass er nur gedacht worden war an jenem Morgen, als ihre Stadt wieder einmal unter acqua alta litt, wie bereits seit Tagen. Aber sie war all die Jahre sicher gewesen, dass es Bartolomeo schon längst nicht mehr gab, dass er wirklich im Canale Orfano versenkt worden war und dass Renzo damals nicht die Wahrheit gesagt hatte, dass er Bartolomeo auf seinen Schiffen in die Welt hinausgeschickt hatte, um sie zu beruhigen. Sie hatte das damals geglaubt. Mit der Flut konnte er also ganz gewiss nie mehr in ihrem Palazzo angespült werden. Bartolomeo gehörte der Vergangenheit an. Einer Vergangenheit, die so sehr vergangen war, dass Crestina in manchen Nächten, wenn sie sich schlaflos im Bett wälzte, Mühe hatte, sie aus der Versenkung heraufzuholen. Bei Tag würde sie dies ohnehin schon gleich gar nicht mehr versuchen.

Und nun stand dieser Totgeglaubte vor ihr, betrachtete sie mit dem gleichen spöttischen Blick, den sie immer an ihm gehasst hatte.

»Nun, es sind natürlich Jahre vergangen«, gab er lächelnd zu, »aber immerhin erinnerst du dich ja gewiss noch an mein unveränderliches Kennzeichen, sodass ich nie verwechselt werden kann.« Er wandte den Kopf etwas zur Seite und entblößte die eine Seite seines Halses, auf dem eine hässliche Narbe sichtbar wurde.

»Von Piraten?«, fragte Ludovico erregt.

»Nein, von einem Adler«, erwiderte der Mann.

»Den er zähmen wollte und für die Beizjagd abrichten«, spottete Crestina, »als Kind. Und weil sein Geld ganz gewiss nicht gereicht hatte, einen Falken zu kaufen.«

Der Adler schien die Piraten zu übertrumpfen.

»Ein Adler, den Ihr für die Beizjagd abrichten wolltet?«, fragte Ludovico ehrfurchtsvoll, »dazu gehört Mut.«

»Worum geht es eigentlich bei diesem Geschäft?«, wollte Crestina nach einer Weile wissen.

»Er will eines unserer Schiffe mieten«, erklärte Clemens zögernd.

»Und ich darf ihn begleiten«, sagte Ludovico und hielt die Luft an.

Crestina schluckte. »Wobei?«

»Bei seiner Fahrt nach Barbados. Hört mal, wie das schon klingt«, sang Ludovico lautstark vor sich hin. »Barbados, Barbados, Barbados!«

»Ich denke, du willst nach Padua, zum Studium«, sagte Crestina bemüht ruhig.

»Ja, schon, aber was hat denn Padua zu bieten gegenüber Barbados?«, fragte Ludovico abfällig.

»Immerhin den ältesten botanischen Garten der Welt«, erwiderte Crestina. »Und schließlich hast du dich mal für Pflanzen interessiert.«

»Ich habe mich für ziemlich vieles interessiert, aber bisher durfte ich ja immer nur an deinem Rockzipfel hängen«, begehrte Ludovico auf. »Nie durfte ich Abenteuer erleben.«

»Das Abenteuer, das dir Bartolomeo bieten wird, wird vermutlich der Sklavenhandel sein, sehe ich recht?«, wollte Crestina wissen.

»Du bist immer noch so klug wie einst«, grinste Bartolomeo. »Und du kannst gewiss nicht sagen, dass mir dieses Geschäft nichts genutzt hat. Hier«, er deutete an sich herunter, zog dann einen prall gefüllten Beutel hervor, »alles selbst verdiente Dukaten, und hier meine Kleider, meine Schuhe.«

»Vom Blut der Sklaven gekauft«, sagte Crestina zornig.

»Und, was ist in Eurem Palazzo? Gibt es da etwa keine Sklaven?«

»Sie gehören nicht mir, sie gehören Margarete.«

»Jaja, als ob das von irgendwelcher Bedeutung wäre, wem sie gehören. Vornehme Damen lassen sich von ihren Sklaven zu ihren Liebhabern fahren, das kannst du fast auf jedem Bild sehen, das gemalt wird. Alles vom Blut der Sklaven, oder? Und meinen heutigen Reichtum verdanke ich deinem Mann. Nie hätte ich mir eine Reise leisten können zu den Orten, die mich von jeher interessierten, wenn er mich damals nicht über die Meere geschickt hätte. Was als bösartige Verbannung für immer gedacht war, wurde mein größtes Glück. Und nicht ich wurde den Haifischen zum Fraß geliefert, sondern vermutlich dein Mann.«

»Renzo ist in Konstantinopel begraben«, sagte Crestina steif. »Er starb am Fieber. Und nicht auf einem Schiff, sondern in der Stadt, in der wir lebten. Bei der Ausübung seiner Geschäfte.«

»Geschäfte!«, lachte Bartolomeo. »Und bei dem ›Fieber‹, wie es damals in bestimmten Häusern grassierte, das Franzosenfieber, die Blattern oder was sonst alles. Was ich natürlich nur vom Hörensagen weiß, denn ich war schließlich nicht dabei. Aber es hieß, dass es alles gewesen sein konnte, bis hin zur Lepra.«

Sie starrten ihn alle verblüfft an.

»Mich hat er nie mitgenommen in diese Häuser, nicht ein einziges Mal«, beschwerte sich Ludovico, »weil ich angeblich dafür viel zu jung war. Ich hatte in Konstantinopel einen Hauslehrer und durfte doppelte Buchführung lernen, weil das nun eben mal so Usus ist in Venedig. Ganz gleich, ob man sie braucht oder nicht.«

»Als du deinen Vater in diese Häuser begleiten wolltest, warst du elf. Es war dein Vater, der dagegen war, dass du ihn begleitest. Er war zwar derjenige, der wollte, dass du zum Mann wirst, aber ganz gewiss nicht so früh.«

»Ja, er wollte das. Du nicht«, sagte Ludovico störrisch.

»Vielleicht könnten wir doch versuchen, jetzt unser Geschäft fortzusetzen«, sagte Clemens peinlich berührt. »Das hier sind wohl kaum Dinge, die uns dabei weiterhelfen.«

Ludovico drehte sich um und verließ rennend das Schiff.

»Eines lass dir gesagt sein«, sagte Crestina und blickte Bartolomeo zornig an. »Diesen Sohn bekommst du nicht, so wenig, wie du mich bekommen hast.«

Dann wandte sie sich um, im Rücken das Lachen Bartolomeos.

»Wir werden sehen. Wir werden sehen.«

Renzos Tod war ungeklärt geblieben, auch wenn er am Ende noch einen Namen, einen möglichen zumindest, erhielt. Das war das Einzige, was an Bartolomeos Aussage seine Richtigkeit hatte. Aber Lepra war es ganz gewiss nicht gewesen. Was es nun wirklich gewesen war, darauf konnten sich die verschiedenen Männer, ein Herbarius, ein Pigmentarius, zwei Venenschlager, ein Physicus und ein echter Medicus, nicht einigen. Sie nahmen ihre Gulden und verließen das Haus. Manche versprachen wiederzukommen, aber sie kamen nie.

Crestina erinnerte sich an diese Wochen mit Grauen. Sie erinnerte sich, wie sie sich dem ›Abschneiden mit dem Messer‹, das als letzte Möglichkeit galt, widersetzt hatte und für ihren Mann kämpfte.

Begonnen hatte es, als Renzo von der Frankfurter Messe zurückgekehrt war, mit Schüttelfrost und Schmerzen im Herzbereich. Der erste Medicus, den Crestina zu Hilfe rief, sagte, dass er von dieser Krankheit noch nie etwas gehört hätte. Sie sei unspezifisch, sei bei den großen Ärzten der Vergangenheit nicht beschrieben. Und sie passe in das Krankheitsbild vieler Krankheiten. Vermutlich ginge die Sache auch so rasch wieder weg, wie sie gekommen sei. Mit einem Aderlass, der nie schaden könne, und unter Zurücklassung von diversen Salben und Kräutersäckchen, hatte er sich verabschiedet.

Er weigerte sich, ein zweites Mal zu kommen, nachdem Renzo bereits am nächsten Tag hohes Fieber hatte. Sofort geisterte die Idee der Pest durch die Räume. Damit brauchte es keine weitere Beurteilung, hatte der Mann gesagt. Die Beulen wolle er schon gleich gar nicht sehen, nicht einmal von der Tür aus. Und in drei Tagen sei ohnehin alles vorbei. Und vielleicht seien es auch die Pocken.

Aber es kamen keine Beulen. Und es dauerte länger als drei Tage.

Als klar war, dass es sich weder um die Pest noch um die Pocken handeln konnte, waren andere Quacksalber sofort wieder bereit, sich die Gulden von diesem reichen Reeder zu verdienen: Der eine kam mit Harnglas und Buch unter dem Arm und versuchte es mit Amuletten, der andere mit der Empfehlung einer Wallfahrt, der Lachsner probierte es mit Gesängen und magischen Riten, der so genannte ›Wodansfinger‹ sollte die Dämonen vertreiben, und der ›Gode‹ wollte die gesamte Familie in seine Behandlung mit einbeziehen, während wieder andere es mit Kräutersud und Salben versuchten. An manchen Tagen schien es Crestina, als sei die gesamte Heilkunst der vergangenen Jahrhunderte auferstanden und habe sich hier in ihrem Haus versammelt.

Später dann, als die Krankheit sich unter den diversen Behandlungen nicht besserte, sondern verschlimmerte, folgten Albträume und Wahnvorstellungen. Und dann begann die durch nichts zu unterbrechende Schlafsucht, die von einem übel riechenden Schweiß begleitet war. Der Kranke müsse schwitzen, verordnete ein Bader. Und trinken. Aber schwitzen vor allen Dingen. Also stapelte Crestina Federbetten auf Renzo und nähte ihn auf Rat des Baders in Pelze ein, was er jedoch schon gar nicht mehr wahrnahm.

Das Einzige, was Crestina blieb nach diesen Wochen des Leidens und der Qual, war der Name der Krankheit: Es sei vermutlich der ›Englische Schweiß‹ gewesen, behauptete der Letzte der unfähigen Heiler. Und hielt auch für diesen ›Dienst‹, den er Crestina erwies – auch wenn es nur ein möglicher Name war –, nochmals die Hand auf.

Dass es sich um eine Krankheit gehandelt hatte, die mitnichten so unbekannt gewesen war, wie man ihr hatte weismachen wollen, erfuhr sie erst viel später: In Hamburg waren innerhalb von vier Tagen vierhundert Menschen gestorben, über den Rhein und die Donau war die Krankheit nach Basel, Straßburg und Wien gekommen, und hatte dort gewütet. Und es gab kaum eine Stadt in Deutschland, die nicht von ihr betroffen war und aus der die Menschen nicht flohen, um sich zu retten, weil sie annahmen, diese Krankheit sei schlimmer als der ›morbus gallicus‹.

Einige Tage später hatte es den Anschein, als habe Ludovico endlich sein Berufsziel gefunden. Hatte er bisher ständig gependelt zwischen Arzt, avvocato und Apotheker, so war er nun endgültig sicher, dass er Kapitän werden wollte. Genauso wie Clemens das beabsichtigte, was seine Mutter jedoch keinesfalls befürwortete.

Crestina atmete auf, da bisher nur sicher gewesen war, was Ludovico nicht hatte werden wollen: Salzhändler. Nun also ein Beruf, von dem sie annehmen wollte, dass er nicht über die Maßen gefährlich sein würde, wenn man einmal davon absah, dass von den Fischern natürlich immer irgendwelche auf See blieben. Sie wusste zwar nicht, wieso ihr jüngster Sohn mit einem Mal auf diesen Beruf verfallen war, aber da Clemens nur den Kopf schüttelte und sie fragte, ob sie etwa ihre Söhne auch noch bis dreißig behüten wollte, wie Lea dies tat, hatte sie geschwiegen. Auch wenn Padua nun nicht mehr zur Debatte stand und sie es gerne gesehen hätte, dass ihr Sohn in diese Stadt gegangen wäre.

»Mein Sohn studiert in Padua«, hatte sie sich schon sagen hören, und sie wusste, dass das nicht nur gut klang, sondern dass es ihr außerdem fast so erschien, als halte Riccardo auch darüber noch seine Hand. Riccardo, nicht Renzo. Was ihr jedoch nicht einmal ein schlechtes Gewissen eintrug.

Es lagen nun also im Palazzo ständig Karten auf irgendwelchen Tischen, im Kaminzimmer, in der sala, irgendwann kam ein Astrolabius dazu, den Clemens für seinen Bruder irgendwo aufgetrieben hatte. Beim Essen bestritten ihre Söhne das Gespräch, und sie wunderte sich, wie viel Clemens vom Beruf des Kapitäns wusste, da er schließlich unter der Leitung seines Vaters in den Beruf des Reeders hineingewachsen war und der Kapitänsberuf nie recht zur Diskussion gestanden hatte.

Als Bianca von einem Besuch bei der Tante in Pellestrina zurückgekehrt war, beteiligte sie sich an diesen Gesprächen und bei manchen Essen hatte Crestina das Gefühl, als stünde sie außerhalb ihrer Familie. Eine Familie, die nun nichts weiter im Kopf zu haben schien, als sich Fahrten auszudenken, die Ludovico eines Tages machen würde. Fahrten, zu denen er selbstverständlich seine Schwester mitnehmen würde. Und da dies alles war, was zu Crestina herüberdrang, war sie endlich auch eine Mutter, die aufatmen konnte, da ihre Kinder offenbar einen richtigen Weg eingeschlagen hatten. Vor allem deswegen, da sie ganz sicher war, dass über die Mitreise Biancas noch nicht das letzte Wort gesprochen war.

Es war der Sturm, der Crestina nach Afrika führte. Nachdem die acqua alta die ganzen Tage bereits jegliches Gondelfahren erschwert hatte, machte es der Sturm nun vollends unmöglich. Und als an diesem Morgen die Fensterläden zu klappern begannen und ein Sturm sich ankündigte, waren alle im Haus unterwegs, um die Läden zu schließen und die Türen zu sichern. Crestina rannte ins Kaminzimmer, weil sie wusste, dass Ludovico, den sie ins Erdgeschoss geschickt hatte, dort vor seinem Arbeitsplatz meistens die Fenster geöffnet hatte. Als sie den Raum betrat, flogen ihr bereits die Karten entgegen, mit denen ihr Sohn gearbeitet hatte. Sie nahm sie rasch auf, legte sie an seinen Platz, dabei blieben ihre Augen an einer Karte hängen, die sie bisher noch nicht hier gesehen hatte. Sie wusste nur von einem Kapitän, der eine andere Route nach Konstantinopel ausprobieren und zuvor Zypern besuchen wollte, weil er dort Geschäfte zu machen hatte. Von Afrika, das hier nun in voller Größe zu sehen war, war nie die Rede gewesen. Sie beugte sich über die Karte, die Ludovico wohl soeben kopiert und vergrößert hatte, ein Ausschnitt, der ein Stück der westafrikanischen Küste aufzeigte. Eine zweite Karte, die daran befestigt war, zeigte den Weg zu den Westindischen Inseln und den Weg nach England. An einigen Stellen der Karten waren rote Kreise um ganz bestimmte Punkte gezogen. Zum Beispiel um einen Ort in Afrika, der Bonny hieß. Von dort aus führte ganz offensichtlich eine Route nach Barbados und Jamaika und dann weiter nach England.

Bevor sie in ihrem Kopf die Alarmglocke läuten hörte, stürzte Ludovico zur Tür herein und blieb wie erstarrt stehen, als er sah, womit seine Mutter beschäftigt war.

»Du bringst mir alles durcheinander«, sagte er dann bemüht ruhig. »Jetzt muss ich vermutlich wieder von neuem anfangen.«

Crestina richtete sich mühsam auf, blickte ihren Sohn prüfend an.

»Du hattest mir von Barbados und Jamaika erzählt«, sagte sie dann stockend, »aber nichts von Bonny in Afrika.«

»Ich hatte nicht angenommen, dass dich das interessiert«, gab Ludovico freundlich zurück.

»Und dann die Weiterreise von dort nach Barbados und Jamaika und nach Liverpool. Ich wüsste gern, was es damit auf sich hat.«

»Das ist das so genannte Handelsdreieck«, erklärte Ludovico bereitwillig. »So habe ich das gelernt bei meinem Lehrer. Meinem Privatlehrer«, fügte er dann süffisant lächelnd hinzu. »Ich hoffe, er hat mir nichts Falsches beigebracht. Ich meine, weil du eben so dastandest, als drehe sich die Sonne plötzlich um die Erde und nicht umgekehrt.«

Crestina ließ sich auf einen der Stühle fallen.

»Ich würde gerne mit dir reden«, sagte sie dann.

»Aber gerne«, erwiderte Ludovico, »ich wollte ohnehin gerade eine Pause machen, als der Sturm kam.«

»Erzähl mir doch bitte von diesem Kapitän, in dessen Dienste du eintreten willst.«

Ludovico lachte.

»Da ist nichts Neues dazugekommen. Es ist so, wie ich es dir bereits erzählt habe. Zypern, dann Konstantinopel. Wie es weitergeht weiß ich nicht.«

»Afrika kommt in dieser Reise nicht vor?«, wollte Crestina wissen.

Ludovico schüttelte den Kopf.

»Er ist der Kapitän, nicht ich. Wo er überallhin möchte, weiß ich nicht.«

»Dieses so genannte Handelsdreieck«, sagte Crestina und fuhr mit dem Finger die Linien auf den Karten nach, »das ist doch die Sklavenhandelstrecke, oder? In Bonny werden sie zusammengejagt, zusammengetrieben. Dann kommen sie auf die Schiffe nach Barbados, werden dort an die Zuckerplantagen verkauft, und der Kapitän kehrt mit Zucker, Melasse und Rum nach England zurück. Und einem gewaltigen Profit. Ist das so?«

»Falls nichts dazwischenkommt«, bestätigte Ludovico ernst.

»Was dazwischenkommt?«

»Nun, Meuterei, Sturm, Feuer. Das sind die Hauptgefahren. Abgesehen von Seuchen und ähnlichen Dingen.«

»Aber ansonsten ist der Kapitän dann ein reicher Mann, wenn diese Hauptgefahren ausbleiben, stimmt das?«

»Ja, das ist er wohl.«

»Willst du in die Fußstapfen eines solchen Kapitäns treten?«

Ludovico sprang auf.

»Was soll diese ganze Fragerei?«, sagte er dann heftig. »Was traust du mir zu? Und weshalb denn überhaupt nicht? Du hast deinen Palazzo, Clemens hat seinen Salzhandel, Bianca wird vermutlich einmal heiraten. Ich muss für mich selber sorgen. In England gehen die zweiten Söhne entweder in den Kirchendienst oder zum Militär. Ich will weder das eine noch das andere. Und«, Ludovico machte ein paar Schritte auf seine Mutter zu und ließ seinen Finger an der Wand entlang über die Bilder der Dogen gleiten, »da ich auch ganz gewiss nicht die Chance haben werde, einstmals hier zu hängen, muss ich mir eben etwas anderes einfallen lassen. Wenn Vater noch lebte, hätte er ganz gewiss nichts dagegen.«

Eine Weile war Stille. Ludovico starrte auf die Dogenbilder, als könne seiner Mutter von dort eine Offenbarung zuteil werden, die ihm nutzen würde.

»Wieso bist du eigentlich so sicher, dass diese Sklavenkapitäne das große Geld machen können?«

»Schau dir doch deinen Vetter an«, sagte Ludovico laut und ging zum Fenster, »so etwas wie wir, so einen Palazzo, hat er schon lange. Du siehst ihn zwar nicht von hier und er liegt auch an einem schmalen Seitenkanal, aber es ist trotz allem ein Palazzo. Und das Mobiliar ist erstklassig.«

»Warst du schon dort?«

»Ja.«

»Von wem hat er diesen Palazzo? Ich meine, wem hat er früher gehört?«

»Woher soll ich das wissen?«, sagte Ludovico störrisch. »Meinst du, jemand, der einmal als Spitzel der Stadt gearbeitet hat, sich seine Dukaten mit der Denunziation von Menschen verdient hat, erzählt einem grünen Jungen wie mir, wie er sich diesen Palazzo erobert hat?«

»Aus welcher Zeit stammt er denn?«, fragte sie dann zögernd.

»Hör zu, ich kann einen Palazzo vielleicht von einem Wohnhaus unterscheiden, aber ganz gewiss kann ich dir nicht erklären, ob seine Fassade der späten Renaissance angehört oder aus dem 14. Jahrhundert stammt und weitgehend aus gotischen Elementen besteht«, sagte Ludovico aufgebracht.

»Schon gut«, wiegelte Crestina ab, »schon gut. Das war eine alberne Frage. Ich wollte ja auch lediglich wissen, ob du wirklich auf einem seiner Schiffe fahren willst, mit einem seiner Kapitäne. Ich hatte gedacht, er wollte eines unserer Schiffe mieten?«

»Das war nur ein Vorwand, um wieder mit uns in Kontakt zu treten. Er hat selber Schiffe. Er braucht unsere nicht. Er ist reich.«

»Und alles mit der Fracht von Menschen?«

»Ja, mit der Fracht von Menschen. Mit Sklaven.«

»Kauft er sie hier bei uns in der Stadt?«

Ludovico zögerte.

»Nein, er jagt sie selber. Zum Teil wenigstens. Die Tscherkessen, die sehr begehrt sind, natürlich nicht.«

»Kannst du mir's erklären?«

»Was?«

»Wie man zu seinem Geld kommt?«

»Wenn er sie selber jagt, spart er schon einmal die Gelder für die Jäger. Dann darfst du auf einem Schiff eine bestimmte Anzahl von Sklaven transportieren, für die du die Nahrung berechnest. Wenn du diese Lebensmittel aber fast halbierst, kannst du doppelt so viel Sklaven einladen und später verkaufen. Dann schmuggelt man natürlich, meist Rum. Den lädt man auf dem Weg nach England auf kleinen Inseln ab. Und später bekommt man natürlich das Geld für den Zucker und die Melasse in Liverpool.«

»Und das Geld für die Sklaven in Barbados.«

»Ja, natürlich. Unterschiedlich viel. Für einen, der kochen kann, bekommst du selbstverständlich mehr.«

Wieder war Stille, Ludovico schlenderte unter den Dogenbildern entlang und sah seine Mutter eindringlich an.

»Ich will mein Leben selbst in die Hand nehmen, verstehst du das? Ich will nicht immer tun müssen, was mir irgendwer sagt, was ich tun soll.«

»Du willst also so einer werden, wie du es mir gerade geschildert hast?«

»Was ich für den Augenblick will, ist, dass ich darüber nicht länger reden will. Jetzt und hier«, sagte Ludovico schroff und verließ den Raum.

Als Crestina abends in ihrem Bett lag, hatte sie nur den einen Wunsch, dass von ihren drei Kindern wenigstens eines – Clemens, wie sie hoffte – später einmal den einst geplanten Weg einschlagen würde. Und sie hoffte auch, dass die Begegnungen mit Bartolomeo irgendwann einmal zu einem endgültigen Ende führen würden. Wobei sie weiterhin der Frage nachgrübelte, wie ihr Vetter überhaupt zu diesem Reichtum gekommen war, dass dabei am Ende sogar ein Palazzo stehen konnte. Als Renzo ihn damals auf seinen Schiffen in die Welt hinausgeschickt hatte, hatte er nichts besessen, soweit ihr das bekannt war. Das Geld, das er einst durch Betrügereien und Denunziationen bekommen hatte, war längst im Glücksspiel wieder verloren worden. Es musste also unterwegs geschehen sein, dass sich das Blatt gewendet hatte, in irgendeinem Land, in dem Bartolomeo gestrandet war. Wie er von dort zum Sklavenhandel gekommen war, blieb Crestina ein Rätsel. Es sei denn, es hätte mit jenem Schweizer Geschäftsmann zu tun, dessen Frau sie damals in der limonaia kennen gelernt hatte, jene Leute, die einst ihre Villa an der Brenta gekauft hatten. Die Frau hatte damals nicht gewusst, in welchen Geschäften ihr Mann tätig war, aber Crestina war damals ganz sicher gewesen, dass es in Richtung Mädchenhandel gegangen sein musste.

Aber ebenso gut konnte das Schiff, auf dem sich ihr Vetter zu jener Zeit befand, auch gekapert worden sein, und sie war sicher, dass Bartolomeo ein Mann war, der sich in jeder Lebenslage zu helfen wusste und den schon bereits nach kurzer Zeit niemand mehr von der Kapermannschaft unterscheiden konnte. Und vor allen Dingen wusste sie, dass er das, was er sich einmal vorgenommen hatte zu bekommen, auch bekam. Gleichgültig, ob es sich dabei um ein Schiff mit Sklaven am Ende der Welt handelte oder um ihren Sohn Ludovico.