14. Die Rückkehr des Palazzo

Crestina war dabei, sich für einen Stadtgang zu richten, den sie einmal im Monat zu unternehmen pflegte: »Der Stadtgang des schlechten Gewissens«, wie sie ihn nannte. Einmal im Monat legte sie den schweren Schlüssel des Palazzo in ihren Korb – bisher stets umsonst, wie sie wusste, aber es beruhigte sie – und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus. Sie öffnete nie das Tor, sie umrundete lediglich das Gebäude, soweit man es von der Stadtseite her umrunden konnte, warf einen Blick zu den schmalen Schießschartenfenstern, die es auf dieser Seite gab, und überprüfte das Schloss. Sie schob den Schlüssel nie hinein, sie war sich sicher, dass sie nie so weit gehen würde: Sie war zufrieden mit dem bescheidenen Ritual, den Palazzo nur aus der Ferne zu überprüfen.

An manchen Tagen jedoch – aber nur wenn sie ohnehin mit ihrem Boot zu irgendwelchen Inseln fuhr – pflegte sie auch von der Kanalseite her einen Blick auf das Haus zu werfen. Sie beobachtete die Fenster, warf vor allem einen Blick auf die Altane, was an heißen Sommertagen besonders schmerzhaft war, da sie hier immer zusammen mit Riccardo die Kühle des Abends genossen hatte.

Wenn sie an solchen Tagen in ihre unaufgeräumte Wohnung zurückkehrte, wenn sie mit einem Blick die stets mit Büchern voll gehäuften Stühle und Schemel vorfand, die kaum jemandem einen Platz zum Sitzen gewährten – wobei bisweilen auch noch ihr Bett in diese Unordnung einbezogen war –, verfiel sie mitunter in eine bestimmte Art von Traurigkeit, die sie jedoch stets abschmetterte mit einem ihrer bequemen Lebensleitsätze: Es ist, wie es ist.

»Ich kann es ja ändern«, pflegte sie dann vor sich hin zu murmeln. »Zu jeder Stunde des Tages kann ich es ändern. Wenn ich nur will. Und was nutzt es schon, wenn ich es ändere, wo ich doch keinerlei überflüssiges Geld besitze, um dieses Haus wieder in Ordnung zu bringen?«

Das genügte dann wieder für eine gewisse Zeit, die ihr ausreichend schien, um sich auf den Weg zu machen.

Zu Beginn dieser stets fruchtlosen Versuche, die Wurzeln ihrer Herkunft nicht völlig zu beschneiden, hatte sie stets Tage gewählt, die in irgendeiner Form einen gewissen Symbolcharakter besaßen. Also etwa: ›Der Tag, an dem ich mit Riccardo zusammen das Buch der Christine de Pisan Die Stadt der Frauen begonnen habe.‹ Oder ›der Tag, an dem wir Petrarcas Canzoniere ins Französische übersetzten‹. Oder irgendetwas, was sie den ›Arrest am Spinnrocken‹, wie sie es nannte, überhaupt vergessen ließ. Wozu sie meist hohe Festtage wählte, um damit ganz bewusst gegen die Normalität zu verstoßen.

Heute hatte sie einen Tag gewählt, der nur zum Teil Symbolcharakter besaß. Sie hatte diesen Tag gewählt, weil sie beschlossen hatte, in den nächsten Tagen wieder zur limonaia aufzubrechen, und weil sie, bewusst oder völlig unbewusst, annahm, dieser Mann mit der gipsverschmierten Mütze könne wieder auftauchen. Und sie an irgendetwas gemahnen, was sie aus seiner Sicht ins Unrecht setzte. Sie wusste, dass es ein ziemlich verquerer Gedankengang war, aber seit jenem Treffen in den Sümpfen war sie ihn nicht mehr losgeworden. Sie hatte sich schuldig gefühlt, ohne recht zu wissen, weshalb. Aber dass es mit diesem verlassenen Palazzo zu tun haben musste, war ihr klar.

Sie betrat das Haus in der Dämmerung.

Sie hatte ganz bewusst diese Tageszeit gewählt, weil sie sicher sein wollte, dass der Palazzo dann ihr gehörte. Und sich keine unliebsamen Zwischenfälle ereignen konnten, wie bei ihrem letzten Versuch, dieses Haus endlich wieder in Besitz zu nehmen. Sie hatte damals ihre Entscheidung an einem Sonnabend fällen wollen, den sie für einen günstigen Tag gehalten hatte.

Es war dann allerdings alles andere als ein günstiger Tag gewesen. Noch bevor sie um die Ecke ihrer schmalen calle gebogen war, hatte sie schrilles Kindergebrüll gehört: Ein Junge rannte an ihr vorbei mit einem Eisenrohr in der Hand, ein anderer trug einen Hocker und ein Dritter schwang ein Seil in der Hand, als wolle er einen Büffel einfangen.

Er wird einen Ball aus einem Garten holen wollen, hatte sie vermutet, da neben ihrem Palazzo der winzige Hof eines anderen Hauses lag, den die Kinder bereits früher in ihre wilden Spiele mit einbezogen hatten.

Aber diese Vermutung war offenbar falsch gewesen: Die Gruppe der Kinder hatte sich genau vor dem Tor ihres Palazzo versammelt und steckte die Köpfe über dem Schloss zusammen.

Sie beschleunigte ihren Schritt, ein anderer Junge rannte an ihr vorbei, überholte sie, hatte ein Brecheisen in der Hand.

»Damit geht es besser!«, schrie er den anderen entgegen.

Crestina beeilte sich, stand schließlich hinter den Kindern, die sich alle mit irgendwelchen Eisenteilen oder Feilen an dem Schloss zu schaffen machten. »Beeil dich!«, schrie einer und klopfte dem anderen von hinten auf den Kopf. »Ich will sie auch sehen.«

»Was macht ihr da?«, fragte Crestina irritiert, als sie sah, dass der Boden vor dem Schloss voll mit abgebrochenen Astteilen und Holzstücken lag. »Ihr zerstört das ganze Schloss!«

»Das wollen wir ja«, erwiderte einer der älteren Jungen zornig, »sie müssen eingesperrt bleiben.«

»Wer muss eingesperrt bleiben?«, hatte sie verblüfft gefragt und sich zwischen die Kinder geschoben, um die Ursache des Auflaufs in Augenschein zu nehmen.

»Wisst Ihr das nicht?«, hatte einer geschrien. »Das Haus gehört zu der ›Stufe‹!« Ein Ausruf, der ein gigantisches Lachen der anderen hervorbrachte.

»Es gehört zu was?«, fragte sie fassungslos.

»Sie weiß nicht, was die ›Stufe‹ ist«, sagte ein anderer und versuchte ganz offensichtlich, ihre Unkenntnis zu erklären. Er formte zwei Finger zu einem Ring und stieß einen anderen Finger in das Loch.

»Das machen sie da drin«, hatte er dann lautstark gesagt, und ein paar der übrigen Kinder versuchten, ihr auf die gleiche drastische Art und Weise klar zu machen, was sich ganz offensichtlich in diesem Haus abspielte.

Crestina hatte verärgert das Schloss betrachtet. Es war ihr klar, dass sie ihren Schlüssel erst gar nicht aus dem Korb zu nehmen brauchte: Dieses Schloss musste sie erneuern lassen. Sie drehte sich um, eilte die calle zurück und beeilte sich, einen Mann zu finden, der sie in seiner Gondel zu der Wasserseite des Palazzo bringen konnte. Dann besann sie sich. Irgendetwas stimmte hier nicht, und vermutlich war es besser, wenn sie mit Leonardo oder Alvise zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehrte.

Heute nun hatte sie einen Dienstag für ihr Vorhaben gewählt. Einen Dienstag, da dies angeblich nach Leas Vorstellungen aus jüdischer Sicht ein Glückstag sein sollte: der Montag sei ungünstig für den Fortgang einer Sache und der Mittwoch sei schlichtweg ein Unglückstag.

Nun also ein Dienstag, obwohl sich Crestina über sich selbst amüsierte, über den Glauben an eine Sache, der nicht allzu stark war, ob nun jüdisch oder nichtjüdisch. Aber immerhin konnte sie für die heutige Entscheidung sich selbst gegenüber ihr schlechtes Gewissen über ihre Nachlässigkeit, was dieses Haus betraf, etwas dämpfen und sich das Gefühl geben, dass sie die Wurzeln ihrer Herkunft nicht für alle Ewigkeit beschneiden wollte.

Und so ging sie die altvertrauten Wege, die sie jahrelang gemieden hatte, die sie jedoch noch immer im Traum hätte gehen können: Rialto, an den Gemüseständen vorbei, am Fischmarkt vorüber, bei den Kräutern ein kurzer Halt, dann einmal links, einmal rechts, geradeaus, am Geschäft des Maskenmachers mit den ausgebreiteten Waren vor dem Laden vorbei, daneben die Putzmacherin, dann der Laden mit den bunten Papierproben. Und schließlich die enge Gasse, die ans Ziel führte und normalerweise in völliger Stille lag.

Sie hatte sich nicht dazu entschließen können, diesen Besuch mit jemandem zusammen zu machen. In ein Haus zu gehen, das sie seit fünf Jahren nicht mehr betreten hatte. Das Schloss hatte sie inzwischen auswechseln lassen, aber der Schlosser hatte sie vorweg gewarnt, dass es durchaus möglich sein konnte, dass sie Schwierigkeiten damit haben könnte, weil sie unbedingt den gleichen Schlüssel hatte verwenden wollen.

»Weshalb?«, hatte der Mann sie irritiert gefragt, »ein neues Schloss ist nicht so viel teurer. Und Ihr habt die Sicherheit, dass Ihr auch ins Haus kommt.«

»Weil es der alte Schlüssel ist, den ich schon hundertmal benutzt habe, früher«, hatte sie kurz gesagt.

Der Mann hatte mit den Schultern gezuckt, seinen Auftrag ausgeführt, aber vermutlich bei sich gedacht, dass es immer wieder Verrückte mit den sonderbarsten Wünschen gab.

Jetzt stand sie vor dem Haus, betrachtete die Rückseite, die Landseite, die noch nie besonders anziehend gewesen war und es nun nach dieser langen Zeit erst recht nicht mehr war: Der Putz blätterte in breiten Schwaden fast über die gesamte Hausseite ab, ein Fenster hing schräg im Rahmen, eine Scheibe war zerbrochen und über allem flogen Schwärme von Tauben.

Sie schob den Schlüssel in das Schloss, er hakte, quietschte, sperrte sich. Aber sie gestand ihm all das zu. Ein Haus, das fünf Jahre hindurch mehr oder weniger sich selbst überlassen war, durfte Mucken haben. Ein Haus, das von irgendjemand bewohnt worden war, den sie nicht gekannt hatte, das vielleicht nie geputzt und auf jeden Fall von niemandem geliebt worden war, durfte trotzig sein und sich jenen gegenüber unnahbar zeigen, die es nun übernehmen wollten. Ein Haus, das verlassen war seit jenem Tag, als es die Möbelträger ausgeweidet hatten.

Der Tag, an dem sie ihr erstes Sonett geschrieben hatte. Sie versuchte es zu memorieren, stellte dann fest, dass es ihr jedoch nur bis zur zweiten Stanze gelang.

»Bartolomeo kam mit der Flut.«

Der Satz überfiel sie, als sich das Schloss nach etlichen Widerständen endlich hatte öffnen lassen. Sie hatte sich durch die Tür hindurchquetschen müssen, da vermutlich irgendwelche störrischen Gegenstände, die sich dahinter befanden, den Eintritt erschwerten. Sie schob mit ihrem Fuß die Reste eines Eimers zur Seite, der vermutlich zum Auffangen des Regens gedient hatte. Irgendwelche Stofflappen lagen auf einem wirren Haufen an der Seite. Dann blieb sie stehen: Sie stand auf einem Boden, der einst mit schwarz-weißen Platten ausgelegt worden war, jetzt entstand der Eindruck, dass es sich immer nur um schwarze Platten gehandelt haben konnte, da der verkrustete Schmutz keine Farbe mehr erkennen ließ.

Sie blickte zu dem breiten Tor hinüber, das zum Kanal hinausführte und jetzt verrammelt war. Sie sah die Treppe hinauf, die in die sala führte. Sie schloss die Augen und sah die Szene in aller Deutlichkeit wieder vor sich: Anna, die die langen Röcke emporgerafft hatte und in das Wasser hinunterstieg, das bereits fünf Treppenstufen emporgeklettert war, Jacopo, der sich bekreuzigte, Riccardo, der ihr den Arm schützend um die Schultern legte. Und das Bündel, das die Flut in ihr Haus geschwemmt hatte. Damals. Bartolomeo.

Sie überließ sich ihren Erinnerungen, setzte sich auf die Steinbank neben der Tür. Fast andächtig nahm sie die Geräusche des Hauses auf, die Gerüche. Ihr Blick ging zu dem Brunnen auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, er war hoch angefüllt mit Müll und Schrott. Ein paar Tischbeine ragten empor, jemand musste die Scherben der Laterne über der Treppe zusammengekehrt haben. Doch dann muss demjenigen die Lust vergangen sein, und er hatte den Rest in die Ecke gekehrt. Von oben hörte sie Taubengeflatter, ein Boot tutete, sie hörte sein Horn durch die Türe hindurch, obwohl das Wassertor von innen verriegelt war. Irgendwo tropfte Wasser.

Und sie sah die Gondel. Diese schwarze, halb zerstörte Gondel, die wie ein flügellahmer, großer Vogel im androne lag, schräg auf die Seite gekippt, als habe sie mit dem letzten Atemzug sich dieses Haus ausgesucht, um hier ihr Leben auszuhauchen. Jacopo hatte die Gondel damals in den Pestzeiten ins Haus gebracht, damit er eine Arbeit hatte, die ihn von all dem ablenkte, was damals geschah. Er hatte sie notdürftig repariert, aber dann war il morbo auch über dieses Haus gekommen, und niemand hatte sich mehr um die noch halb zerstörte Gondel gekümmert, die ohnehin niemand brauchen würde. Nun, da die Zeit über sie hinweggegangen war, die Sitzpolster von Mäusen zerfressen, getrockneter Vogelmist über die gesamte Länge des Bootes verteilt, der schwarze Lack vermutlich von irgendwelchen Tieren abgekratzt, unterstrich sie die Morbidität dieses Hauses in einer Weise, die kaum zu überbieten war. Und die riesige Küche in einem der Nebenräume nahm auch den letzten Hoffnungsschimmer, dass es möglich sein würde, sie in den nächsten Tagen wieder zu benutzen: Wer immer hier gekocht hatte, vor langer Zeit, hatte sich gewiss nicht als verantwortungsbewusste Köchin gefühlt. Töpfe und Pfannen lagen dreckverkrustet im Wasserstein, ein Waschzuber stand mit eingedickter Seifenlauge und undefinierbaren Wäschestücken in einer Ecke.

Crestina würde also Zeit brauchen, um dieses Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand zu bringen, Zeit und Geduld.

Sie strich über die Wand hinter der Sitzbank, deren Putz weitgehend abgeblättert war. Im vorderen Teil des androne waren die Spuren der Verwahrlosung am deutlichsten, da man genau sehen konnte, wie weit die Überschwemmungen in den vergangenen Jahren gegangen waren.

Sie stieg die breite Treppe zur sala hinauf, sehr langsam, so, als wolle sie sich für den Vorgenuss des schönsten Raumes des Palazzo möglichst lange Zeit lassen. Aber sie brauchte diese Zeit nicht: Mit einem Blick war die sala zu überblicken. Hier hingen die Tapeten von den Wänden, mit Taubenkot bespritzt, eine Maus huschte hinter die Verspannung und verschwand in einer Ritze.

Und dann hörte sie das Lachen.

Es schien aus dem Nichts zu kommen, perlte wie Wasser von den Wänden, verschwand und begann von neuem. Bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie erschrocken sein sollte oder ob dazu kein Anlass bestand, hörte sie eine Stimme, eine Frauenstimme, girrend, hätte sie ganz sicher gesagt, wenn sie sie an anderen Orten gehört hätte.

Zunächst nahm sie an, das Lachen komme aus dem Nachbarhaus und es dringe durch ein Fenster über dem Kanal. Aber dann wurde ihr klar, dass es nicht von außen kam, sondern von innen: Es musste aus einer der Schlafkammern im Mezzanin kommen. Sie durchquerte die sala, den salotto, das Kaminzimmer, ging zurück und stieg die schmale Treppe hinauf, die in das obere Mezzanin führte. Das Lachen schien näher zu kommen.

Sie blieb für einen kurzen Augenblick vor der geschlossenen Tür zur Schlafkammer ihrer Eltern stehen. Als das Lachen allmählich in ein heftiges Stöhnen überging und fast eine Orgie ahnen ließ, riss sie die Tür mit einem gewaltigen Schwung auf.

Vor ihr am Fenster, das auf den Kanal hinausführte, saßen in der Fensternische zwei Personen. Eine Frau, ein Mann. Beide nackt und so eindeutig ineinander verkeilt, dass selbst ihr, die sie sich auf diesem Gebiet nicht auskannte, klar war, was hier stattfand. Der Mann drehte das Gesicht zu ihr um, nicht eben rasch, die Frau, eher ein Mädchen, ein sehr junges Mädchen, fast noch ein Kind, stieß einen Schrei aus und sprang mit einem Sprung unter die Decke des Bettes, das neben dem Fenster stand.

Crestina brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, dass der Mann, der keine Tonsur trug, Bartolomeo war. Sie brauchte einige weitere Sekunden, um sich zu entscheiden, wie sie diese Situation meistern sollte.

Das Mädchen, das leise vor sich hin weinte, sagte etwas zu Bartolomeo in einer Sprache, die sie nicht verstand. Auf seinen Wink hin nahm sie ihre Kleider vom Stuhl, warf sich ein Hemd über und verschwand.

»Du könntest wenigstens deine Kutte überziehen«, sagte Crestina zornig und wandte sich um.

Bartolomeo lachte.

»Ich besitze keine mehr. Die Zeit der Kutten ist vorüber. Und wenn du Mut hast, schaust du dir wenigstens an, was es hier zu sehen gibt. Ich bin ganz sicher, dass es für dich ein einmaliges Erlebnis ist. Auf jeden Fall doch dein erstes, oder täusche ich mich?«

Sie wandte sich ihm wieder zu, versuchte sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Aber sie merkte in der nächsten Sekunde, dass es ihr nicht gelang und ihr Blick wie von einer magischen Kraft nach unten gezogen wurde.

»Was um alles in der Welt machst du hier?«, brachte sie schließlich mühsam hervor.

Er ging ohne Hast zu dem Stuhl neben dem Bett, nahm sein Hemd und seine Unterkleider von der Lehne, zog beides in aller Gemächlichkeit an. Dann sah er grinsend zu ihr hinüber.

»Ich halte Hof«, sagte er und machte eine weit ausholende Bewegung. »Im gleichen Raum wie einst deine Eltern. Und wie du siehst, macht es Spaß.« Er zog im Stehen seine leinene Hose an, dann im Sitzen seine Strümpfe und seine Schuhe.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte den Blick erneut auf sein Gesicht zu heften.

»Du machst was?«

Er verließ den Raum, ging in eine Nebenkammer, holte einen zweiten Stuhl.

»Wenn du es wirklich begreifen willst, brauchen wir Zeit. Hast du sie?«

Sie nickte kaum merklich mit dem Kopf.

»Weißt du eigentlich, was es für jemanden bedeutet, nie einen Schlüssel zu besitzen?«, fragte er dann abrupt. »Nie eine Tür ins Schloss fallen zu lassen und zu wissen, dass sie die Grenze ist vom Draußen zum Drinnen? Von der Welt draußen, die allen gehört, und der drinnen, die nur dir gehört?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass deine Tür nie einen Schlüssel gehabt hätte, damals«, sagte sie irritiert. »Du wohntest über uns, und wir konnten dich hören, nächtelang, wie du über uns über die knarrenden Dielen gingst, Schritt um Schritt, es war deine Kammer, oder etwa nicht?«

»Aber ich hatte keinen Schlüssel zu ihr.«

»Weil ihn irgendwer verschlampt hatte, vermutlich du selber«, sagte sie heftig.

»Ich habe ihn ganz gewiss nicht verschlampt«, wehrte er sich, »aber lassen wir das. Es geht doch um ganz andere Schlüssel. Nicht um diesen hier, den ich nie gebraucht habe, weil ich in diesem Haus allein lebte. Es geht um den Schlüssel der Haustüre zum Beispiel und –«

»Und genau hier frage ich mich bereits die ganze Zeit über, wie du an ihn gekommen bist. Der Advokat hat ihn damals nach dem Prozess mir gegeben. Hast du einen nachmachen lassen?«

Er lachte.

»Nein, das habe ich nicht. Aber wenn du die Aufrufe der Behörden lesen würdest, dann hättest du mitbekommen, dass der Große Rat inzwischen die Herstellung und den Verkauf von Dietrichen verboten hat, weil junge Leute aus durchaus angesehenen Häusern damit ihren Schabernack getrieben haben und jedes Schloss öffnen konnten. Aber ich wollte dir von diesem Schlüsselgefühl erzählen und was es bedeutet, wenn man es wirklich erlebt. Wie das ist, wenn man jemandem eine Tür öffnet, ihn hereinbittet und alles hinter dir gehört dir, verstehst du das eigentlich?«

Sie stand auf, nahm ihren Korb, wollte gehen. Er seufzte, machte einen Schritt und ergriff ihren Arm.

»Geh nicht«, sagte er dann, »es kann ganz einfach nicht sein, dass es dich nicht interessiert, was war und jetzt ist. Ich bin ganz sicher, dass es dich interessieren muss, denn es hat selbstverständlich auch mit dir zu tun.«

»Das hat es ganz gewiss«, sagte sie hart. »Ich wollte nach fünf Jahren der Abwesenheit ein Haus besichtigen, das mir einst gestohlen wurde und nun seit zwei Jahren mir gehört. Du störst mich dabei, ist dir das eigentlich klar?«

Er lachte.

»Natürlich ist mir das klar. Aber es kümmert mich nicht. Nicht für den Augenblick, der uns gehört. Du siehst ja, ich darf endlich das sein, was mir immer verwehrt war: Ich darf ein Mann sein, mit allem, was dazugehört.«

»Und wovon lebt dieser Mann«, spottete sie, »wenn er nicht gerade Hof hält?«

»Von diesem und jenem«, sagte er achselzuckend. »Und von anderem.«

»Und dieses ›andere‹, was ist es? Oder bleibt es dein Geheimnis?«, wollte sie wissen.

Er wischte ein Stäubchen von seinem Rock.

»Genau das.«

»Was soll das heißen?«, fragte sie nach einer Weile misstrauisch.

»Dass es eben ein Geheimnis bleibt. Mein Geheimnis.«

Sie überflog im Kopf seine Möglichkeiten, ließ hundert Ideen an sich vorübereilen, dann spürte sie, wie es ihr übel wurde.

»Du hast es erraten«, spottete Bartolomeo, der sie beobachtete, »du warst schon immer ein kluges Kind.«

»La bocca?«, flüsterte sie.

»La bocca«, bestätigte er. »Und wie du weißt, hat la bocca einen riesigen, gefräßigen Schlund.«

»Du erzählst ihnen also«, sie stockte, »du sagst ihnen alles, was du siehst –«

»Oh, nein, nein, du liegst auf der falschen Linie«, wehrte er ab. »Es geht nicht um irgendwelche Reiter, die zu rasch durch die Mercerie galoppieren, oder Fremde, die hier meldepflichtig sind in unserer Stadt und dies für überflüssig halten kundzutun. Damit beschäftige ich mich nicht.«

»Womit dann?«, fragte sie rasch und dachte dabei an die Wollballen und die Inventarlisten der verbotenen Bücher beim Zoll, die dort in Kürze wieder eingehen sollten und gefälscht werden mussten, damit die Bücher ungeschoren in die Stadt kommen konnten.

Er beobachtete ihr Gesicht, und sie hatte das Gefühl, dass er ihre Ängste mühelos auf ihrer Stirn ablesen konnte, so, als seien sie mit leuchtend roter Farbe dort aufgelistet.

»Nein, auch nicht ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹, das machen andere. Und der Mädchenhandel, an dem eine ganze Reihe von Adeligen beteiligt sind, interessiert mich ebenfalls nicht. Wenn mich nach jungem Fleisch gelüstet, bekomme ich es ohne große Anstrengung. Ein Fingerschnippen genügt, und dann kommen sie gelaufen.«

»Dann bleibt nicht mehr viel«, sagte sie nach einer Weile müde. »Du bist ein Spitzel des Staates. Du stehst in seinen Diensten. Vermutlich empfängst du hier auch die anderen Spitzel … und hältst Hof, wie du sagst.«

Er nahm seinen Dolch vom Bett, gürtete ihn um und ging an ihr vorbei.

»Falls du beabsichtigst, in Zukunft hier ›Hof zu halten‹, wirst du mir nicht begegnen. Ich habe andere Orte, die mir zur Verfügung stehen.«

»Ich hoffe, du findest sie rasch«, gab Crestina zurück. »Auf jeden Fall würde ich dir raten, den Weg über den Kanal zu nehmen, das vordere Tor bewachen vielleicht schon wieder eine Horde von Kindern, die neulich das Schloss unbenutzbar gemacht haben.«

Bartolomeo fluchte. »Da stecken nur die Mütter dahinter, die einmal, nur ein einziges Mal, eine aufgetakelte Frau ins Haus gehen sahen.«

»Einmal«, wiederholte sie, »wirklich nur einmal?«

Aber Bartolomeo war bereits verschwunden, bevor sie es ausgesprochen hatte. Er verschwand noch immer auf die gleiche Art und Weise, die ihr schon als Kind unheimlich gewesen war: Es blieb nichts zurück von ihm außer jenem ganz leichten Schweißgeruch, den sie von damals kannte und der ihn offenbar unter seiner Kutte nie gestört hatte. Jetzt hatte er versucht, ihn mit einer aufdringlichen Essenz, deren Geruch sie nicht benennen konnte, zu vertuschen.

Sie hätte später nicht mehr genau sagen können, in welcher Reihenfolge sie die weitere Inspektion des Hauses durchgeführt hatte. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie sie überhaupt zu Ende geführt hatte, ob sie nicht irgendwann der Sache überdrüssig geworden und sich, inzwischen schon halb in der Nacht, auf die Altane gesetzt und auf den Kanal hinuntergesehen hatte, da sie weder wusste, wo sie Kerzen finden würde noch die Zunderbüchse. Irgendwann, sehr spät, daran erinnerte sie sich in aller Deutlichkeit, hatte sie dann ihre Bettwäsche aus ihrem Korb genommen und im Kaminzimmer vor dem Kamin, vor dem ein durchgesessener Sessel stand, sich in dessen Polster gekuschelt.

Und noch etwas wusste sie ebenfalls: Sie würde am folgenden Tag Lea vorschlagen, sich um diese Bibliothek zu kümmern, die man ihr angeboten hatte, und sie würde ihr für die Katalogisierung den salotto zur Verfügung stellen. Sie war ebenso sicher, dass sie Margarete sämtliche Räume des androne jenseits der Prachttreppe, die in das piano nobile führte, anbieten würde, damit sie dort in Ruhe ihre Essenzen mischen konnte. Dort konnte sie ihre Flakons auch auf den Boden fallen lassen, und falls es sich nicht gerade um Zibet handelte, würde es gewiss niemanden stören, da es in einem abgelegenen Teil des Hauses stattfand. Und sie war außerdem sicher, dass sie in Zukunft in einem Raum leben würde, der ihr gemäß war. Ein Raum, in dem sie atmen konnte und bei dem sie nicht wie bisher in ihren diversen Wohnungen jeweils sämtliche Stühle freiräumen musste, nur um überhaupt einen Sitzplatz für Freunde zu haben und abends in ihr Bett steigen zu können.

Und Moise würde in dieser sala rennen dürfen, bis er müde auf dem Boden einschlief.

Und wenn sie, die drei Frauen, die Lust überkam, wilde Tänze in dieser sala aufzuführen, so würden sie das tun – zumindest sie und Margarete.