***

 

Mit der schlafenden Lisa im Arm, stehe ich weinend vor Magdas Tür. Zum Glück ist sie da, aber besonders begeistert über meinen spontanen Besuch scheint sie nicht zu sein.
„Nora, du schon wieder. Und schon wieder Tränen. Tut mir leid, hier ist auch gerade dicke Luft. Ines zickt rum, ich glaube fast, sie kommt so langsam in die Wechseljahre.“
„Oh je. Ich will auch gar nicht stören. Bin schon wieder weg.“ Ich drehe mich um und wische mir schnell eine Träne ab.
„Warte, was wolltest du denn?“ Magdas Stimme klingt so, als wäre sie mit den Gedanken bereits ganz woanders.
„Ach, kümmere du dich erst mal um Ines. Wir können ja die Tage quatschen. Und bitte vertragt euch wieder, ja?“
„Nicht so leicht mit einer komplett hormonverdrehten Frau. Endlich versteh ich die Männer.“ Magda lächelt, und ich lächle bemüht zurück.
Und ich verstehe Tobias auch sehr gut. Das ist ja das Merkwürdige. Ich bin zutiefst verletzt und enttäuscht und würde ihm am liebsten wild auf die Brust trommeln. Ich beschließe, ihm Zeit zu geben.
Rasch gehe ich mit Lisa nach Hause und packe für uns ein paar Sachen in einen Koffer. Windeln, Lätzchen, Weleda-Popo-Creme, Strampler, Fläschchen, Beba-Milchpulver … Himmel, da bleibt ja für meine Schuhe gar kein Platz mehr. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht das Gefühl, für jede erdenkliche Gelegenheit ein paar Schuhe zu benötigen. Meine weißen Asics-Tiger-Turnschuhe mit den grünen Streifen reichen völlig, der restliche Platz in meinem Leben wird mit Milchpulver und Windeln gefüllt.
Lisa im Boogaboo und den Rollkoffer in der anderen Hand, mache ich mich auf zur S-Bahn und bete, dass sich Jacky unser erbarmen wird.
Ich fühle mich einsam wie eine Palme auf einer kleinen Insel, kaufe in einer Apotheke noch eine Packung Oropax für Jacky und schiebe den Kinderwagen verzweifelt auf Jackys Haus zu, über das holprige Kopfsteinpflaster.
Die alte Frau Piske kommt gerade mit ihrem Dackel zur Haustür heraus, sieht mich mit dem Kinderwagen und Koffer bestätigt an, rückt ihre Perücke zurecht und kneift die Augen.
„Ach nee, zu Hause rausjeflogen? Zwee Männers waren wohl doch eener zuviel, wa?“
„In der Tat“, sage ich traurig, und sie tätschelt mir die Wange.
„Det wird schon. Wir Weibsbilder, wir sind ja stark. Wer hat die janzen Trümmer nachm Krieg wegjeschafft? Also.“
Ich lächle sie durch einen Perlenvorhang an und weiß, dass sie recht hat. Gestärkt gehe ich ins Treppenhaus, lasse den Boogaboo unten stehen, setze Lisa in den Ergo Carrier und zerre den schweren Koffer eisern hinauf. Bitte, lieber Gott, lass Jacky da sein. Sonst bin ich verloren.
Lisa gluckst, ihr scheint die Reise in unser unsicheres Leben richtig Spaß zu machen.
Ich klingle, und Jacky macht sofort auf: im schwarz-orange Spitzen-Negligé und mit einem verführerischen Lächeln auf den Lippen. Ihr Lächeln gefriert, und wir starren uns beide fassungslos an.
„Wie siehst du denn aus?“, entfährt es mir kichernd.
„Und was machst du jetzt hier?!“, entgegnet sie sauer. „Werner kommt in zwei Minuten, Gregor ist noch eine Stunde in der Kita und ich hab jetzt keine Zeit für …“, sie spreizt ihre Finger: „Ach, ich weiß einfach nicht, ob ich den Jüngeren oder doch den ollen Tobias nehmen soll!“ Sie verdreht ihre Augen.
Mein Kichern hat sich in ein hysterisches Räuspern verwandelt. „Schön zu wissen, wie du über mich denkst.“
„Das weißt du ganz genau. Also, was ist los? Hast du Tobias verlassen und willst jetzt etwa hier pennen?“ Sie sieht mich an, als würde ich von ihr verlangen, in ihrem Negligé einmal durchs Müttercafé in Mitte zu spazieren.
„Nein, will ich nicht.“
„Willst du doch. Komm schon rein.“ Sie lächelt mich an und öffnet weit die Tür.
Eine beste Freundin zu haben, ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Auch, oder gerade, wenn sie einem knallhart sagt, was sie von einem hält.
Eine Minute später, ich habe Lisa in Gregors Babywippe von Baby Björn gelegt, die wunderbar beruhigt, und bin gerade mitten am Erzählen, da klingelt es erneut. Jacky, die aufgrund meines Redeschwalls noch nicht dazu gekommen ist, ihr Negligé auszuziehen, und ihr Outfit offenbar auch völlig vergessen hat, öffnet Werner so. Der arme Mann starrt erst sie in schwarzer Spitze und dann mich, die ich im Hintergrund auf dem Sofa sitze und bemüht lächle, fast schon panisch an.
„Ihr wollt … einen Dreier?!“, entfährt es ihm überfordert, und wir prusten los.
„Oh ja, komm rein“, lacht Jacky, zieht ihn gespielt verführerisch zu sich und gibt ihm einen dicken Kuss. „Natürlich nicht. Nora ist nur vor Tobias geflohen. Aber warum genau, das erzählt sie gerade, jetzt komm schon.“
Jacky wirft sich eine Norweger-Strickjacke mit Zopfmuster über und zieht Werner ins Wohnzimmer.
„Hi“, quetscht er heraus, mit einem irritierten Seitenblick auf Jackys abstruses Outfit.
„Hi. Tut mir leid, dass ich euer Date störe, aber …“, ich breche verzweifelt ab.
„Was ist denn?“, will Werner einfühlsam wissen und setzt sich zu mir.
Ich sehe Jacky an und freue mich für sie, dass sie so einen sensiblen, netten Kerl abgekriegt hat.
„Wieso bist du überhaupt hier“, lenke ich von meinem eigenen Drama neugierig ab. „Du hattest dich bei Jacky doch wochenlang nicht mehr gemeldet?“
Jacky und Werner lächeln sich an, nehmen sich bei der Hand und wirken sehr sehr glücklich.
„Tja, das war genau so, wie wir Mädels es uns immer einreden, wenn ein Typ plötzlich keine SMSe mehr schreibt“, beginnt Jacky strahlend. „Werner lag nach einem Unfall im Krankenhaus, ist das nicht genial?!“
Ich sehe sie an und zweifle an ihrem Verstand.
„Also, ich meine natürlich nicht, dass er einen Autounfall hatte, aber so schwer war der gar nicht. Paar Rippenbrüche eben. Aber was ich meine, er konnte sich deshalb nicht melden, weil sein Akku alle war!“
„Nein!“, entfährt es mir begeistert. „Das ist ja wunderbar! Also eben nicht, dass du im Krankenhaus warst, Werner, aber dass du doch nicht so einer bist.“
„Was für so einer?“, will Werner wissen, aber Jacky und ich lächeln uns nur verschwörerisch an.
„Und“, fährt Jacky glücklich fort, „Werner ist total süß zu Gregor, und wenn man es nicht wüsste, würde man meinen, er ist sein richtiger Daddy.“
„Echt?“ Ich sehe die beiden an und Tränen kullern mir über die Wangen.
„Nora, shit, hab ich was Falsches gesagt? Ja, hab ich, logisch, ach komm, meine Süße.“ Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich ganz feste.
„Wieso kann Tobias das nicht?“, schniefe ich in ihre Strickjacke, und Werner steht leise auf.
„Ich hol dann mal Gregor aus der Kita ab und dreh noch `ne Runde mit ihm im Park, okay?“
„Du bist ein Schatz“, lächelt ihn Jacky verliebt an, und ich schniefe erneut.
Werner schickt ihr noch schnell ein Luftbussi und geht.
„Was mach ich denn jetzt, wo soll ich denn hin, hier stör ich euch doch nur?!“ Ich bin sichtlich verzweifelt. Aber Jacky lässt das nicht zu.
„Weißt du was, Schnegge, ich könnte doch `ne Zeit lang mit Gregor zu Werner ziehn. Wir haben sowieso schon übers Zusammenziehen nachgedacht. Also zumindest ich, und dann kannst du solange mit Lisa hier in meiner Bude wohnen.“
„Wirklich? Ich meine, das würdest du für uns tun?!“ Ich sehe sie an und fühle mich endlich wieder geborgen.
„Klaro. Und ich hoffe mal, dass du das auch für mich tust, wenn ich in ein, zwei Jahren bei Werner rausfliege, weil ich immer meine BHs über den Türklinken hängen lasse.“
„Ach, jetzt hör aber auf. Du bist die alte Pessimistin von uns beiden! Das mit Werner geht gut. Ihr passt zusammen.“
„Meinst du?“
„Klar. Der lässt hundertpro auch seine alten Socken überall rumfliegen.“ Ich grinse. „Der hat Verständnis für Chaos-Frauen.“
Jacky lächelt verliebt, sieht mich dann aber wieder mit diesem Blick an, der besagt: Aber bei Männern weiß man nie.
„Das macht das Leben doch erst spannend. Das man nie weiß, was alles kommt.“
„Ach super, jetzt reicht’s aber wieder mit schlauen Sprüchen, Nora. Pack du deinen Koffer aus, ich pack meinen ein.“
Ich stapele die Windeln im Bad und erzähle von Daniel. „Er ist wirklich niedlich mit Lisa. Er liebt sie sehr.“
„Klar, ist ja auch sein Kind. Außerdem weiß er ganz genau, dass er dich damit weichkochen kann.“ Jacky sieht das Ganze gleich wieder pragmatisch.
„Ja. Weiß er. Er ist einer der Männer, die ganz genau wissen, was Frauen hören wollen. Und das Schlimme ist, ich falle auch noch drauf rein. Und das in meinem Alter! Also, ich meine, inzwischen schmelze ich nicht mehr blind dahin, aber zu Beginn, als wir uns kennen gelernt haben …“
Jacky sieht mich an und ich schüttle den Kopf.
„Nein, wirklich nicht. Ich bin über ihn weg.“
„So, so. Bist du denn immer dabei, wenn er Lisa sieht?“
„Bist du verrückt? Ich geh in der Zeit shoppen, zur Ganzkörper-Massage, Maniküre Pediküre … Nein. Ich will so wenig wie möglich mit ihm zusammen sein. Sicher ist sicher. Zwei Väter zu haben ist übrigens gar nicht so schlecht, man hat öfter mal ein paar Stunden für sich.“ Ich rede es mir ein und glaube es selbst.
Doch dann schüttelt Jacky nur mitleidig den Kopf. „Süße, wenn ich das richtig kapiert habe, hast du keine zwei Väter mehr. Tobias ist raus aus dem Spiel.“
Ich nicke und starre Lisa schmerzerfüllt an. Denn mir wird bitter bewusst, dass ich Tobias verloren habe, für immer.

 

Himbeersommer
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