***
Die Fahrt zum Urologen wird schweigsam. Tobias schaut aus dem Fenster, als habe er noch nie ein Gucci-Schaufenster von außen gesehen. Während ich über die Brandenburger Strähnchen vor uns fluche, „Himmelherrgottsakrament!“, versuche ich zu überholen. Endlich hat sie ihr Hinterteil in die Parklücke bekommen, und ich kann schnittig an ihr vorbeifahren. – Natürlich nicht, ohne einen kurzen Blick auf die neue Gucci-Kinderkollektion im Schaufenster zu werfen. Rosa Rüschenkleidchen, wie niedlich!
Wir haben uns zu lange vor einem Arztbesuch gedrückt. Ich, weil ich Angst hatte, nicht einmal fähig zu sein, Mutter zu werden – Tobias, weil er vor hundert Jahren für seine Ex-Ex ein Spermiogramm hat machen lassen. „Mit einem 1a-Ergebnis“, wie er lange stolz betont hat. In letzter Zeit betont er das nicht mehr, wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich.
Ich weiß, es ist das falsche Thema. Aber um Tobias etwas aufzulockern, erzähle ich ihm von meinem amüsanten Erlebnis bei meinem attraktiven, sonnengebräunten Frauenarzt, bei dem ich letzte Woche meine Abschlussuntersuchung hatte. Wobei ich die Beschreibung seines umwerfenden Äußeren natürlich ausspare.
Männer sind sensibel. Und Männer, die in einer halben Stunde Sperma liefern müssen, besonders.
„Und als mir Dr. Wagner dann gesagt hat, Frau Blume, an Ihnen liegt es mit 98-prozentiger Sicherheit nicht“, bin ich ihm um den Hals gefallen und habe ihn dabei zu Boden gerissen. Das hab ich dir noch gar nicht erzählt, oder?“
Tobias erwacht kurz aus seiner Starre, sieht mich fassungslos an. „Deinen Gynäkologen? Und du lagst dann unten ohne auf ihm?“
„Nein!“, versuche ich ihn lachend zu besänftigen. „Das war, nachdem ich auf dem Gyn-Stuhl war. Angezogen.“
„Aha“, sagt er, und wir steigen in den alten, ehrwürdigen Aufzug aus der Jahrhundertwende, der uns nach oben bringen soll.
Oben tatsächlich angelangt, öffnet Tobias die quietschende Aufzugstür und hält abrupt inne. „Wollen wir nicht einfach noch abwarten?“
Wir stehen vor der Praxis im ersten Stock. Die alten Teppiche riechen modrig.
„Abwarten? Was?“, frage ich ihn verwundert. Bis sich dieser Baby-Virus, der unsere schöne Beziehung immer mehr vergiftet, ganz ausgebreitet hat?
„Ich weiß nicht … wenn wir kein eigenes Kind kriegen sollten, … ist es doch auch nicht so schlimm, oder?“
Ich sehe ihn paralysiert an wie ein hysterisches Kaninchen die lachende Schlange.
„Wir gehen da jetzt rein“, erwidere ich, und hoffe die Lage in den Griff zu bekommen, drücke gegen die Tür und betrete die in Grün gehaltene Praxis. Grün ist die Hoffnung. Und glücklicherweise folgt mir Tobias.

 

Die blonde Sprechstundenhilfe hinter dem grünen Tresen lächelt uns freundlich an. Das grüne Ungeheuer steht mitten im Warteraum, so dass auch jeder mitbekommt, wer welche Geschlechtskrankheit hat,
„Blasenentzündung?“, tippt sie einfach mal ins Blaue.
„Nein, äh … mein Freund …“. Ich sehe Tobias erwartungsvoll an. Wenn ich schon den Termin gemacht habe, kann er ja wenigstens reden.
„Guten Morgen, ja ich … soll getestet werden,“ Er quetscht ein misslungenes Lächeln heraus.
„Ah, die Sperma-Probe“, flötet die Vollbusige laut und streckt ihm einen durchsichtigen Plastikbecher hin. Durchsichtig, damit auch jeder sofort sieht, wie viel er konnte?
„Bitte die dritte Tür rechts“, lächelt sie ihn an, und Tobias ist noch blasser, so blass war er zuletzt, als Schalke gewonnen hatte.
Tobias nimmt den Becher irgendwie in Trance entgegen, hält ihn in der Hand und starrt mich an. Dann stellt er ihn auf den Tresen zurück und zieht mich mit sich hinaus.

 

Wir stolpern die vielen Treppen hinunter und sind endlich an der frischen Luft. Auf der Straße bricht dann alles aus ihm heraus.
„Ich kann nicht. Ich …“ Er stoppt.
„Was?“, will ich tonlos wissen, und meine Knie fühlen sich an wie grüner Schleim, den es in meiner Kindheit in Plastikbechern gab.
„Kinder … ich kann keine Kinder … zeugen, Nora, es tut mir so leid … Ich … ich hab mich testen lassen … vor einem halben Jahr schon … ich wollte es dir damals schon sagen, aber ich hab irgendwie nie … ich hatte so Angst … dass ich dich verliere … es muss an diesen verdammten Masern liegen, die ich letztes Jahr hatte …“
Stille. Ein kleines Mädchen, das uns auf seinem Puky-Dreirad entgegenkommt, wiehert mit seinem Barbiepferd durch die Prärie. Die Welt scheint eine zweite Zeitebene erreicht zu haben. Ich kriege Flecken. Hektische Flecken am Hals und würde am liebsten lachen und wiehern … EIN HALBES JAHR weiß er es schon!?!

 

***
Als hätte ich ein Ziel - irre ich umher. Schwangere Frauen kommen mir entgegen, winken mir zu. Aus Kinderwagen ist höhnisches Babygekicher zu hören. Ich habe das Gefühl, ich drehe mich im Kreis.
Da sehe ich die rettende Insel. Ein kleines, französisches Bistro, umwuchert von Flieder und Himbeeren. Ich durchschreite den betörenden Duft und flüchte mich hinein in ein bezauberndes Ambiente. Kleine braune Bistrotische, liebevoll dekoriert mit echten Mohnblumen.
„Eine Flasche Weißwein zum Mitnehmen, egal welcher“, sage ich, bevor sich meine Augen an das dunklere Licht gewöhnt haben, und setze mich auf einen braunen Barhocker, eine Sekunde, bevor meine Füße ihren Dienst versagen.
Da keine Reaktion von dem Mann hinterm Tresen kommt, kneife ich meine Augen zusammen und sehe ihn finster an. Erst jetzt erkenne ich ihn im Nebel.
Es ist der faltenlose Vespa-Fahrer, der mich erstaunt und besorgt ansieht.
„Ich mach dir eine heiße Schokolade.“ Er entscheidet einfach über meinen Kopf hinweg und fängt an, die Milch aufzuschäumen. Mir ist kalt, und die Vorstellung, die Kälte etwas verscheuchen zu können, lässt mich sitzen bleiben.
Daniel wirft mir immer wieder einen besorgten Blick zu, schüttet Kakao-Pulver in die Tasse, rührt nachdenklich um. Er fragt nicht nach und ich bin ihm sehr dankbar dafür.
„Zigarette?“ Das ist die einzige Frage, die ich gelten lasse. Ich sehe ihn an und rutsche dabei in Zeitlupe vom Barhocker - zu Boden.
Daniel ist sofort bei mir, hilft mir hoch, wir sehen uns an.
„Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben auch nur eine einzige Zigarette geraucht“, sage ich, als würde ich sagen: „Ich habe eine Wassermelone getragen.“ Und wer wie ich über den Tod von Patrick Swayze immer noch nicht hinweg ist, weiß, wie ich mich gerade fühle.
„Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt,“ sagt Daniel, „für alles.“
„Der Haut einer Frau sieht man jede einzelne Zigarette an, sagt meine Mutter immer.“ Ich fröstele.
Er lächelt und streicht mir zart über die Wange.
„Wie ein Babypopo.“
Ich schluchze los, und er nimmt mich einfach in seinen Arm. Und duftet - viel zu gut.
Ich mache mich schnell wieder los, streiche mir meine Haarsträhne aus dem Gesicht und setze mich ungalant schniefend auf den Barhocker.
Daniel stellt mir die heiße Schokolade hin, dazu eine ungeöffnete Flasche Chardonnay, nimmt eine Streichholzschachtel aus einer Schale vom Tresen, zündet das Streichholz an und sieht mir über das Feuer hinweg in die Augen. Eine Sekunde, zwei, drei …
„Mist.“ Er schüttelt seine Hand, denn er hat sich verbrannt. „Wir haben uns verbrannt“, sagt er grinsend dahin. „Für die Liebe muss man manchmal verrückte Dinge tun.“
„Was soll dieses schicksalsschwangere Geschwafel“, fauche ich ihn an und ziehe an der Zigarette, als wäre es die letzte meines Lebens. Natürlich huste ich sofort los. Und die Zigarette geht aus.
Peinliche Szenen habe ich in meinem Leben schon genug geliefert, und ich finde, diese muss verkürzt werden.

 

Die Zigarette im Mundwinkel, schnappe ich mir die Streichholzschachtel und den Chardonnay und stürme nach draußen.
Ein eiskalter Wind weht mich fast um, drückt mich mit dem Rücken an die nächstbeste Schaufensterscheibe. Ich wage es nicht, mich umzudrehen, denn ich ahne es und habe recht. Es ist ein Spielwarengeschäft.

 

Tobias findet mich. Zitternd und blass, bei Nino, meinem Eisverkäufer - mit sechs Kugeln Erdbeereis in der blau angelaufenen Hand.
Nino schaut Tobias an, als habe er seine Frau eine Hure genannt. Und Tobias glaubt, dass ich Nino in allen Details von seiner Unfruchtbarkeit erzählt habe. Ich lasse ihn schmoren. So wie er mich hat schmoren lassen, in dem Glauben, nicht fruchtbar zu sein. Je länger ich darüber nachdenke, desto gemeiner finde ich es. Ein halbes Jahr!

 

„Nora, bitte, es tut mir so leid, aber kannst du dir vorstellen, was das Ganze für mich bedeutet?!“ Tobias sieht mich flehentlich an.
Ich starre fassungslos zurück. Und strafe ihn mit Schweigen. Das, was er die letzten Monate so gut konnte. Während ich all die Gyn-Untersuchungen über mich habe ergehen lassen.

 

„Meine Party, ich muss doch noch den Rucola-Drecksdings-Salat machen“, höre ich mich durch dumpfe Watte fluchen. Und mir ist schlecht.
Tobias wirkt irgendwie erleichtert, dass ich noch funktioniere. Er legt Nino ein ordentliches Trinkgeld hin, nimmt mich liebevoll am Arm und führt mich zu unserem Audi. Den Tobias vor einem dreiviertel Jahr gekauft hat, falls ich über Nacht schwanger werde.
Der Kombi scheint mich zu verhöhnen und glotzt wie ein Auto.
Tobias wirkt verzweifelt. „Ich will Kinder mit dir, Nora. Wirklich. Ich liebe dich. Wir könnten … welche adoptieren?“
„Adoptieren?!“, entfährt es mir spitz. „Auf keinen Fall!“

 

Meine Cousine hat ein sehr großes Herz. Sie hat ein Mädchen adoptiert. Mia. Mia ist jetzt elf und knutscht mit einem 16-Jährigen. Letztes Jahr hat meine Cousine herausgefunden, dass Mias Mutter eine 15-Jährige Prostituierte war. Seitdem hat sie panische Angst, bald Großmutter zu werden. Nein, ich glaube an Gene. Auch wenn meine nicht die einer Heidi Klum, sondern eher die einer Bridget Jones sind. Und ich nie auf einer Hochbegabten-Schule angemeldet werden musste. Ich fände es einfach niedlich, wenn mir mein Töchterchen irgendwie ähnlich sieht und ist. Keine Frage. Ich finde Leute anbetungswürdig, die ein fremdes Kind bei sich aufnehmen. Hut ab vor meiner Cousine. Aber – es mag ein Einzelfall sein - ihre Ehe leidet sehr seit Satansbraten Mia.

 

„Wie lange wolltest du dieses Spiel noch treiben?!“, fauche ich Tobias an und Tränen drücken sich mir niagaraverdächtig in die Augen.
Er schluckt, schüttelt unglücklich den Kopf. Er scheint es selbst nicht zu wissen und starrt auf seine braunen Riccardo-Cartillone-Schuhe. Ich habe sie ihm zu unserem Siebenjährigen geschenkt.
„Ich habe einfach … den richtigen Zeitpunkt verpasst. Kennst du das nicht?“
Doch. Kenne ich. Bei meinen Haaren. Wenn sie strähnig ins Gesicht fallen. Und Otto, mein Friseur, gerade nach Malle abgereist ist.
Tobias hält mir bittend die Autotür auf. Wieder fällt mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Ich lasse sie hängen.

 

Ich bin keine Frau, die zusammenbricht. Ich verbiege mich nur manchmal zu sehr.
Ich befehle Tobias, mich zu Jacky zu fahren. Sonst wüsste ich
nicht, wohin mit mir.

 

Himbeersommer
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