***

 

Ich steche mit meiner Gabel eine kleine Tomate ab. Jacky sitzt mir bei unserem Mittwochslunch gegenüber und sieht mich mitleidig an.
„Und ich frage mich die ganze Zeit, wie dieses riesige Kind jemals da unten herauskommen soll!?“ Ich fasse auf meinen Bauch und bin blass.
„Das ist ein echter Alptraum, ich weiß. Ich hatte ja echt Glück und einen Not-Kaiserschnitt.“
Schlagartig ist mir klar, dass das die rettende Lösung ist, und ich überlege fieberhaft, ob meine auserkorene Klinik, das Westend, auch wirklich darauf spezialisiert ist.
„Aber das ist wirklich keine super Lösung“, verpasst mir Jacky gleich einen Dämpfer.
„Wieso denn nicht? Reißverschluss auf, Kind raus, Reißverschluss wieder zu und das Ganze völlig ohne Schmerzen, da unter Narkose!?“
„Ein Kaiserschnitt ist erstens nicht gut fürs Kind, wegen der Lungenatmung oder so, frag mich nicht, und zweitens ein neverending Horror für dich. Statt ein paar Stunden hast du mindestens eine ganze Woche die fiesesten Schmerzen und musst sogar in die Bettpfanne pieseln. So war’s bei mir zumindest.“
Ich sehe Jacky schockiert an und zupfe an meinen Stützstrümpfen.
„Also gut. Dann brauche ich aber auf jeden Fall eine PDA.“ Ganz egal, was in diesem säuselnden Hebammenbuch steht, das alle Frauen dazu bringen will, im Zeitalter von Waschmaschinen auf eine PDA zu verzichten. Schließlich wäscht man heutzutage ja auch nicht mehr von Hand im eisigen Fluss, sondern benutzt eine wunderbare, technische Errungenschaft, die Waschmaschine. Moderne gebärende Frauen müssen keine Schmerzen mehr erleiden. Einmal im Monat Regelschmerzen und ab und zu auch noch Eisprungschmerzen, das reicht ja wohl völlig!
Wir verschlingen noch schnell unseren Rucola mit Putenbrust, und ich fühle mich irgendwie elend, strecke die Flügel und will ganz schnell nach Hause.

 

Dort angekommen erwartet mich, neben meinem chaotischen Haushalt und meinem mir auf Schritt und Tritt folgenden schlechten Gewissen, weil ich die fertige Spülmaschine immer noch nicht ausgeräumt habe, ein Brief von Daniel! Oder sagen wir besser, ein Zettel, den er unter der Haustür durchgeschoben hat. Mit einer sehr schönen, geschwungenen Handschrift darauf. Im Schönschreiben wird unser Kind also mal keine Probleme bekommen. Im Rechnen allerdings schon, wenn es nach mir kommt. Meine Grundschullehrerin ist wirklich an mir verzweifelt. Dass ich jemals Architektur studieren würde, hätte ich selbst im Leben nicht gedacht. Ich glaube, es war eher eine Rebellions-Entscheidung, da meine Mutter wollte, dass ich African-Tänzerin werde oder Töpferkurse gebe.

 

„Schau bitte im Garten nach. In Liebe Daniel“, steht da auf diesem Zettel und ich gehe mit wankenden Knien, als hätte ich gerade fünf Gläser Eierlikör von meiner Oma auf Ex getrunken, zum Küchenfenster und sehe in unseren Garten.
Der Frühling bemüht sich redlich, die Knospen sprießen zu lassen, doch bisher sind es nur die Blätter der Johannisbeerbüsche, die tapfer Form annehmen.
Ich starre mutig hinaus, als erwartete ich eine Explosion. Oder wenigstens ein Mini-Weltwunder. Und da sehe ich eines: Eine Amsel baut ihr Nest. Und ich fasse intuitiv auf meinen Bauch, als ich die Überraschung von Daniel erblicke. Mein Magen zieht sich zusammen und wird so klein wie ein Jojo.
Auf unserem Rollrasen, der noch nicht richtig angewachsen ist, steht … ein wunderschöner, Kinderwagen aus den 50ern. Eines dieser Prunkstücke, mit denen Mütter, die einen richtig guten Geschmack haben, im Prenzlauer Berg herumschieben. Drumherum ist eine gelbe Schleife gebunden und darin sehe ich, wenn ich meine Augen etwas zusammenkneife, ein ebenso niedliches Enten-Stoffbaby wie das, das Daniel mir bereits geschenkt hat.
Mein Herz steht still und ich spüre die Explosion in meinem Körper.
Dann drehe ich meinen Kopf und sehe die Nachbarin aus Haus 18, die für die Gerüchteküche in unserer Siedlung zuständig ist, neugierig in unseren Garten glotzen.
Schnell wie eine Schildkröte mit eingebautem Motor rase ich los in den Garten und schiebe das Ding aus ihrer Sichtweite. Ich schiebe es zu Magda auf die Terrasse und klingle Sturm.
„Ich darf keinem Fremden aufmachen!“, ruft mir Ruby durch die Tür entgegen.
„Sind deine Mamas nicht da?“, rufe ich zurück. „Hier ist Nora.“
„Ach so, nee, soll ich was ausrichten?“ Ruby scheint mich in die Kategorie „noch fremd genug, um nicht die Tür zu öffnen“ zu stecken, und ich sehe das ein.
„Nein, schon okay, nur viele Grüße. Und keine Sorge, die Wehen haben noch nicht eingesetzt.“
Ich entferne die Schleife und schiebe den hübschen Kinderwagen eilig zur S-Bahn. Eine ältere Frau beugt sich an der Haltestelle darüber und will sich das entzückende Baby anschauen. Als sie das Entenbaby sieht, macht sie einen Satz zurück. Ihrer Miene ist zu entnehmen: Hier scheint irgendetwas gewaltig schiefzulaufen. Das sehe ich genauso.

 

Ich zerre den Kinderwagen die Treppen zu Jacky hinauf, merke erst jetzt. wie schwer das antiquierte Teil ist und verfluche Daniel und den fehlenden Aufzug.
Angelockt von dem Lärm kommt die alte Frau Piske aus ihrer Wohnung.
„Hallo, Frau Piske, brauchen Sie einen Kinderwagen? Vielleicht als Körbchen für Ihren Dackel?“
Frau Piske schüttelt nur grimmig den Kopf und knallt die Tür wieder zu.
Die eine Tür ist zu, die andere geht auf. So ist das im Leben. Jacky sieht mich und das Trumm entgeistert an.
„Bist du jetzt völlig durchgeknallt?! Das kommt mir nicht in die Bude. Das ist doch bestimmt von Daniel! Tobias kauft gerade den Boogaboo. Mit Extra-Ausstattung.“
Ich starre sie fassungslos an. Die Auswahl eines Kinderwagens ist für einen Mann wie die Entscheidung, einen Porsche oder einen Fiat Punto zu kaufen. Nur in dem Fall ist der Porsche endlich mal erschwinglich. Die alles entscheidende Frage ist also nicht: Liegt mein Kind darin weich und orthopädisch richtig, sondern: Ist der Wagen geländegängig und kurventauglich, und werden mich meine Anwaltskollegen darum beneiden?!
„Woher weißt du das?“
„Weil ich gerade mit ihm telefoniert habe. Er hat mich nach meiner fachfraulichen Mutti-Meinung gefragt und ich habe ihn darin bestärkt. Diese hippen Boogaboo-Teile sind zwar scheißteuer, aber Tobias will nur das Beste für euer Kind und was Trendiges für dich.“
Beschämt sehe ich sie an. Und sehne mich nach Tobias.
Während er sich entzückende Gedanken um mich und das Baby macht, überlege ich, wie ich das Geschenk meiner Affäre beseitigen kann! Bin ich eigentlich noch zu retten?!
Jacky hat folgende Vorschläge: den Kinderwagen von Daniel a) auf der nächsten Müllkippe zu entsorgen, ihn b) bei eBay zu versteigern und von dem Geld eine Ganzkörpermassage von einem durchtrainierten Masseur machen zu lassen, oder c) ihn bei ihr im Keller zu deponieren und dort mit Spinnweben überwuchern und verrotten zu lassen, falls Jacky doch noch ihren Traummann findet und ein weiteres Baby mit ihm bekommen will. Wir zerren ihn also gemeinsam die Treppe runter, begleitet von lautem Gebell, das aus Frau Piskes Wohnung kommt.
Jacky flucht, was das Zeug hält. „Du hast Tobias überhaupt nicht verdient. Immer kriegen die andern die tollen Männer ab!“
„Du kriegst auch noch einen prima Mann“, predige ich das, was ich seit zehn Jahren predige.
„Du hast aber zwei, und ich versteh einfach nicht, wie du Tobias so verarschen kannst!“
„Ich auch nicht. Ich meine, du weißt doch ganz genau, dass das überhaupt nicht meine Art ist, aber …“
„Nichts aber, da gibt’s nichts zu beschönigen, Nora. Du hast es getan, du bist von dem Jungschen schwanger und hörst nicht auf, Tobias zu hintergehen. Allein mit dem Teil da!“ Sie zeigt auf den Kinderwagen, den wir jetzt endlich in den Keller gewuchtet haben, die Ente liegt schief.
Ich sehe das Teil an, und meine Stimme wird leise und mein schlechtes Gewissen laut. „Ich kann doch nichts dafür, dass er mir das geschenkt hat?!“
„Du hättest es ja direkt in den nächsten Baucontainer kippen können. Aber nein, es ist dir ja doch irgendwie superheilig!“
Sie gibt dem Teil einen Schubs in ihr Kellerabteil, macht die alte knarzende Tür mit Schwung zu und schließt lautstark ab.
„Danke“, sage ich leise und fühle mich begossen wie ein Pudel. Das Gebell aus dem Treppenhaus ist bis hier unten zu hören. Ich halte mir die Ohren zu und will nur noch weg. Wenn einen die beste Freundin nicht mehr versteht, ist es Zeit, sehr sehr lange und intensiv über sein Leben nachzudenken.

 

Und das können Frauen am besten - mit anderen Frauen.
Magda ist jetzt zum Glück wieder da und hört mir, einen Schwangerschafts-Tee kochend, zu, und auch Ines findet es „echt schwach“ von Jacky.
„Mein Gott, es ist jetzt wie es ist. Sieh dir die Kugel doch mal an. Als gute Freundin muss sie zu dir halten!“, sagt Magda und bringt mir eine Tasse Tee.
„Tut sie ja auch, irgendwie“, verteidige ich unsere Freundschaft, die schon so viele irrwitzige Männergeschichten überstanden hat. „Aber sie ist nun mal Tobias-Fan und himmelt ihn an. Er ist ja auch großartig.“
Trübsinnig starre ich in die Tasse und dann auf meinen riesigen Bauch.
„Machst du auch schön Heublumensitzbäder, Nora?“, reißt mich Ines aus meinen Gedanken.
„Äh, was?! Nein. Ich will ja gar nicht, dass das Kind da jemals rauskommt“, lächle ich schwach und frustriert.
„Naja, verstehe schon, aber wat mut, dat mut. Und der Muttermund sollte sich weiten, sonst tut es bei der Geburt ja noch mehr weh.“ Ines bekommt von Magda einen strengen Blick zugeworfen.
„Hör doch auf, Nora hat schon genug Panik, das geht auch ohne Heublumen“, lächelt sie mich an und streckt mir eine Karotte hin. „Hier, damit es tolle Adleraugen kriegt. So wie du.“
Wenn sie wüsste! „Ich bin fast 40 und schwanger und brauche eine Lesebrille!“, entfährt es mir, und mir wird klar, dass das wirklich das geringste meiner Probleme ist.
„Du immer mit deinen Karotten“, faucht Ines Magda an, „das ist ja wirklich peinlich.“ Sie nimmt ihre Tasche und geht.
Magda setzt sich frustriert mit ihrem Tee zu mir. „So geht das schon seit Wochen. Wegen der kleinsten Lappalie macht sie mich an und fährt aus der Haut. Manchmal glaube ich, sie hat eine andere.“
„Oder PMS“, lächle ich Magda an. „Sorry, aber eine andere kann ich mir nicht vorstellen. Bei euch ist doch alles in Ordnung, ich meine, sieht zumindest nach außen so aus.“
„Komm, lass uns shoppen gehen. Das beruhigt.“ Magda steht nervös auf.
„Super Idee, meine Schwangerschaftsklamotten sind alle total ausgeleiert und verwaschen. Lohnt sich zwar eigentlich nicht mehr wirklich, meine Tage sind ja gezählt, aber egal.“
„Eben, egal. Auch als Hochschwangere musst du immer heiß und begehrenswert sein und Schuhe gehen immer. Aber denk dran, eine Nummer größer.“ Magda hat zum Glück ihre gute Laune wieder.
„Aber wir gehen nicht zur Friedrichstraße, weil … die Läden dort, die hab ich alle schon durch!“
Ich will weder Tobias noch Daniel in die Arme laufen, stehe schnell auf und hake mich bei meiner neuen zweitbesten Freundin unter. Schuhläden wir kommen! Schuhe gehen immer!

 

Himbeersommer
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