***

 

Der Audi fährt rasant vor unserem Reihenhaus in der Himbeersiedlung vor und hält direkt vor der Tür. Tobias sieht mich an und überlegt.
„Du kannst mit Lisa im Maxi-Cosi ja schon mal reingehen, ich will noch schnell zur Tankstelle, ich brauch jetzt ein Bier. Die Krombacher-Kiste ist alle, hab ich leider erst gestern gemerkt.“
Ich sehe ihn an und zweifle an meinem Verstand. „Hallo, ich bin ein unten aufgeschnittenes, blutendes Huhn, das vor einer halben Stunde ein Monsterei herausgepresst hat?!“
Tobias, der offensichtlich völlig durch den Wind ist, tut sein Fauxpas natürlich sofort leid. „Oh Gott, ja, sorry, Nora, ich bin ja auch wirklich ein Riesenidiot.“
„Schon gut. Aber ein lieber.“ Ich bin ihm so dankbar, dass er in dieser meiner schwersten Stunde meines Lebens bei mir war.
Tobias hilft mir schnell aus dem Auto, stützt mich und nimmt mit der anderen Hand den Kindersitz, in dem Lisa friedlich schläft. Wir sehen sie an, das Mondlicht scheint und Sterne glitzern am Himmel. Tobias gibt mir einen liebevollen Kuss - und ich bin sehr sehr glücklich.

 

Die Nacht wird der reinste Alptraum. Lisa schreit und schreit, und wir, die wir keine Ahnung von Babys haben, weil wir 39 Jahre keine hatten und uns 37 Jahre nicht dafür interessiert haben, kriegen sie nicht zur Ruhe. Ich schlafe völlig erschöpft neben dem schreienden Kind ein und bin mir sicher, dass mich Tobias am nächsten Tag verlassen wird. Wieso sollte sich ein Mann das antun, noch dazu, wenn es nicht mal sein eigener Schreihals ist.
Am nächsten Morgen kommt endlich meine Hebamme Katja, die mich schon vor der Geburt betreut hat. Katja ist eine 30-jährige Alleinerziehende, die von Männern die Nase mindestens so voll hat wie Jacky. Ihrer hat sie geschlagen, und sie hat das vier Jahre mitgemacht! Eine Tatsache, die ich nie verstehen werde, und eigentlich hätte ich deshalb lieber eine andere Hebamme, aber ich will Katja nicht auch noch weh tun.
Das Stillen klappt immer noch nicht, und Katja hat viel zu tun, mich zu beruhigen. „Das wird schon. Das hat noch bei allen Frauen geklappt.“ Sehr beruhigend.
Alarmiert rufe ich Magda an, und sie kommt sofort vorbei.
„Wann soll ich Daniel von der Geburt berichten?“, bricht es aus mir leise heraus, während sich Katja vor der Schlafzimmertür mit Tobias über die perfekten Windeln unterhält. Pampers Baby Dry, oder doch besser Moltex Öko …?
„Auf keinen Fall jetzt. Du musst erstmal zu dir kommen. Der errechnete Geburtstermin ist doch eh erst in einer Woche“, zischt mir Magda zu.
„Ich kann es ihm doch nicht eine Woche nicht sagen?!“ Ich sehe sie hilflos an, wie ein Hundewelpe seine Mama.
„Was sagt Jacky denn dazu?“
Jacky! Oh mein Gott, ja. Ich habe meiner besten Freundin noch gar nicht gesagt, dass ich Mutter bin. Mutter! Ich bin Mutter! „Sie weiß noch nichts. Aber sie ist ja eh komplett Anti-Daniel.“
„Dann ruf doch erst mal sie an und Daniel in einer Woche.“ Magda sieht mich ernst an. „Du bist jetzt im Wochenbett und musst dich erholen und ganz auf dein Kind und das Stillen konzentrieren. Eine Freundin von mir hat sich viel zu früh zu viel zugemutet und war dann noch mal im Krankenhaus.“
Erneut bei diesem Chauvi Meyer-Geulen oder dem zungengepiercten Assi mit seinen anzüglichen Bemerkungen, das halte ich nicht aus. Darum nicke ich und lasse Magda entscheiden. Daniel soll von der Geburt seiner Tochter vorerst noch nichts wissen. Ich bekomme eine Schonfrist und fühle mich wie ein Blatt im Herbst, das auf die Erde segelt. In der Gewissheit, dass es sehr bald sehr hart landen wird.

 

Doch wie soll man sich schonen, wenn sich aufgeregte Omas die Klinke in die Hand geben, aber nicht im Haushalt helfen, sondern warten, bis der Kaffee serviert wird? Zumindest Tobias` Mutter Hilde, die eine feine Lady ist, würde nie auf die Idee kommen, mal einen Berg Wäsche für mich zu waschen. Und ihr Sohn, der es leider gewohnt ist, dass ich das mache (es hat sich in den Jahren so eingeschlichen, auch wenn ich das als halbwegs emanzipierte Frau nie wollte), genauso wenig. Wenn Tobias sieht, dass der Wäschepuff überquillt, hängt er seine alten Unterhosen eben über die Heizung.
Und meine Mutter, die selbst ziemlich chaotisch ist und ganz sicher nicht die perfekte Hausfrau, überhäuft mich nur mit Büchern wie „Eine Ehe hält kein ganzes Leben“, oder „Nach den Kindern ging alles bergab“.
Jacky hat mir zur Geburt zwar am Telefon gratuliert, aber sie war noch nicht da. Gregor sei total verschnupft, und sie will Lisa nicht mit diesem fiesen RS-Virus, einem Schnupfenvirus, anstecken, der für Neugeborene lebensgefährlich ist. Eine Freundin von ihr war deshalb eine Woche auf Intensiv mit ihrem Baby.
Das alles, der ungewohnte, krasse Schlafmangel, Daniels ständige SMSe, die ich einfach nicht mehr beantworte, und vor allem die Tatsache, dass das Stillen immer noch nicht klappt, bringen mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs.
Hilde ist der festen Überzeugung, dass ich nur nicht stillen will, um meine Brüste nicht zu ruinieren.
„Das stimmt nicht, Hilde, natürlich würde ich meinem Kind am liebsten das Allerbeste geben.“
„Sogar Adoptivmütter können stillen“, kontert sie, und ich weiß, das Gleiche steht in diesem Stillbuch, das ich am liebsten in der Spree versenken würde.
„Eine Frau, die ihrem Kind keine Muttermilch geben kann oder will, ist keine richtige Mutter.“ Hilde sagt das ungeniert, während sie mit gespreiztem Finger in ihrem Espresso rührt. Dabei beobachtet sie Lisa verzückt, als wäre sie ein neugeborenes Eisbärbaby im Zoo, anstatt sie auch nur ein Mal auf den Arm zu nehmen.

 

Stillterror vom Feinsten. Meine Tränen fließen, nur die Milch nicht, und ich komme mir vor wie eine Milchkuh, die mit der Milchpumpe gemolken wird. Jede Stunde müssen meine Brüste an die Pumpe, und stets sind es nur ein paar lächerliche, mich verhöhnende Tropfen. Woran das liegt, vermag mir keiner zu sagen. Vielleicht an einem fehlenden Hormon, vielleicht an der Tatsache, dass ich zu alt bin, und es gewagt habe, mit einem so viel jüngeren Mann zu schlafen?! Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich sehe die leuchtende, grüne Lampe über mir an und erinnere mich dunkel, wie grün sie war, die Hoffnung.
Wieder ein Anruf von Daniel und wieder geht meine Mailbox ran.
Ich höre sie ab. „Nora, wie geht es dir, ich freue mich schon so auf unser Baby! Bitte ruf mich zurück und auf jeden Fall, wenn du die allererste Wehe spürst. Wie gern würde ich dich und deinen wunderschönen Bauch jetzt in meinen Armen halten.“
Lisa schreit und ich würde es am liebsten auch tun. Tobias kommt, nimmt sie liebevoll heraus und gibt ihr die Flasche. Ich sehe die beiden an und verkrieche mich unter der Decke.
„Weißt du eigentlich, dass ich auch ein Flaschenkind war?“, höre ich Tobias` Stimme dumpf in meiner Höhle.
Ich schlage die Decke zurück und sehe ihn fassungslos an. „DU warst ein Flaschenkind?! Wieso hackt dann deine Mutter ständig auf mir herum, dass ich nicht stillen kann?!“
„Was?! Das tut sie?!“ Tobias, der offensichtlich immer gerade dann nicht im Raum war, kann es nicht fassen. „Das ist wieder so typisch Mutter. Immer die Ärztemeinung, die gerade angesagt ist, vertritt sie selbst, als wäre es die ihre. Damals in den 60ern war das Flaschegeben üblich, da hat man maximal sechs Wochen gestillt. Wenn überhaupt.“
Und plötzlich geht es mir schon wesentlich besser. Tobias setzt sich mit Lisa im Arm zu mir und gibt mir einen Kuss. „Wir drei, wir schaffen das schon.“
Und ich hoffe so sehr, dass er recht hat.

 

Der eigentliche Geburtstermin naht, und Daniels Freude und meine Panik sind nicht mehr zu zügeln. Da ich auf seine wildromantischen SMSe gar nicht, beziehungsweise nur sehr spärlich antworte, steht er plötzlich vor der Tür. Ich sehe sein ebenmäßiges Gesicht vom Kinderzimmerfenster aus, aber er sieht meines nicht, zum Glück. Denn zwischen Milchpumpe und Folgemilch-Anrühren habe ich mir eine Anti-Stress-Maske von Alterra aufs Gesicht geklatscht. Atemlos lehne ich mich rücklings an die Bärchen-Tapete und fühle mich wie ein weißer Zombie im Jogging-Anzug. Denn ich weiß: Die schlaflosen Schreinächte haben die Falten um meinen Mund zu tiefen Kratern werden lassen.
Wieder klingelt er Sturm und mein Herz rast.
Hoffentlich kommt Tobias, der nur kurz Milchpulver holen wollte, jetzt nicht nach Hause, denke ich und zähle bis hundert: … 58, 59, 60 .
Daniel geht und Tobias kommt. Ob sie sich vorne am Weg noch begegnet sind, lässt sich Tobias nicht anmerken.
Er gibt mir allerdings keinen Kuss.
„He, krieg ich keinen Kuss“, versuche ich normal zu klingen und will ihn umarmen, doch Tobias wehrt ab.
„Ich küsse keinen bröckelnden Quark“, sagt er nüchtern und schleudert seine Schuhe in den Flur.
Natürlich, meine Gesichtsmaske, die hatte ich ja ganz vergessen. Ich sehe in den Spiegel, sie bröckelt tatsächlich. Und unsere Beziehung? Gibt es da auch schon Risse, die kaum noch zu kitten sind? Tobias gibt sich wirklich Mühe, aber er gibt sich weniger mit meiner Süßen ab, als ich mir das in meinen schwangeren Träumen von unserer kleinen Happy family so vorgestellt habe. Oder bilde ich mir das alles nur ein? Vielleicht wäre er die erste Zeit bei unserem eigenen Baby ja genauso lange im Büro geblieben?
Tobias, der heute auf mein Drängen einen Home-Office-Tag genommen hat, sitzt vor seinem Notebook und checkt seine Mails. Ich betrachte ihn, wie er konzentriert auf den Bildschirm starrt und seine hohe Stirn angespannt runzelt. Dann sehe ich mir Lisa an, die endlich mal zwei Stunden am Stück schläft und bete, dass sie später mir und nicht Daniel ähnlich sehen wird. Denn wie könnte Tobias sie wirklich lieben, wenn sie ihrem Erzeuger wie aus dem Gesicht geschnitten ist?!
Ich wasche meine Gesichtsmaske ab, creme mich ein und setze mich fettglänzend zu Tobias an unseren großen Esstisch, an dem mindestens eine Familie mit vier Kindern Platz hat.
„Tobias, ich muss mit dir reden.“
Genervt sieht er mich an. „Nora, was ist das denn jetzt für Zeug, du glänzt wie eine eingeölte Pfanne. Und abgesehen davon, du siehst doch, dass ich arbeite.“
„Schon, aber es ist wichtig. Und das mit der alten Pfanne nimmst du zurück.“
Er seufzt. „Ölig, nicht alt. Also, was gibt es?“
„Wir müssen …, ich muss …, also wir müssen Daniel endlich sagen, dass Lisa schon auf der Welt ist.“
Tobias starrt mich an, als hätte ich gesagt: „Schatz, weißt du eigentlich, dass ich mit dir noch nie einen Orgasmus gehabt habe?“.
„Das ist dein Ding. Ich halte mich da raus“, sagt er leise, und ich habe das schreckliche Gefühl, dass er sich am liebsten aus allem hier raushalten würde.
Er steht auf und Lisa schreit. „Ich muss mich jetzt wirklich konzentrieren, ich geh ins Büro. Einer von uns beiden muss ja das Geld für das Haus verdienen.“ Und weg ist er.

 

 

Himbeersommer
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