***

 

Es ist drei Uhr in der Nacht, Tobias steht nackt neben der Wiege und sieht mich genervt an. „Was hat sie denn jetzt schon wieder?“
Lisa schreit und schreit, und das, obwohl ich ihr gerade die Flasche gegeben habe.
„Ich weiß es doch auch nicht, ich bin so müde!“
„Was glaubst du, was ich bin? Ich kann mich bei der Arbeit überhaupt nicht mehr konzentrieren. Gestern habe ich einem Mandanten zur Scheidung geraten, obwohl er wegen einer Bausache da war.“
„Oh Gott. Vielleicht hat sie Blähungen?“
„Oder es sind die Zähnchen?“
„Doch nicht so früh.“ Ich nehme Lisa raus und laufe mit ihr im Zimmer auf und ab.
„Woher willst du das wissen, du kennst dich doch auch nicht aus.“ Tobias sieht mich richtig entnervt an.
“Danke. Willst du damit sagen, dass ich eine schlechte Mutter bin?!“
„So ein Schwachsinn, das ist wieder typisch Frau.“ Tobias wirft sich einen Bademantel über, er friert.
„Vielleicht tut ihr ja irgendetwas anderes weh?“ Ich sehe das brüllende Wesen besorgt an.
„Ach, Babys schreien halt, das hat die Kinderärztin doch auch gesagt.“
„Aber doch nicht so viel!“ Zumindest habe ich mir das nie so vorgestellt. Obwohl Jacky immer meinte, dass sich kein Mensch vorstellen kann, wie das ist, mit einem ständig brüllenden Kind.
„Ich schlafe ab jetzt jedenfalls unter der Woche im Keller.“ Tobias schnappt sich Kopfkissen und Decke und geht.
„Super, du gehst einfach - und ich?!“, rufe ich ihm bissig hinterher. „Ich halte das auch nicht mehr aus, ich kann einfach nicht mehr!“
Doch Tobias ist schon weg. Lisa schreit und schreit, und ich lege sie neben mich in das große, leere Bett, summe ihr etwas vor, was sie aber gar nicht hören kann, so laut ist ihre Stimme.

 

Am nächsten Morgen wache ich auf - durch Geschrei. Jetzt hat sie vermutlich Hunger, und ich beeile mich, das brüllende Kind in der Linken, das Fläschchen mit rechts in der Küche zu bereiten. Doch da ich leider zwei linke Hände habe, rutscht mir das Milchpulver zu Boden und verteilt sich auf den Fliesen.
Und meine Tränen fließen auch. So habe ich mir das Mutterglück in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.
Die einsame Espressotasse in der Spüle scheint mich zu verhöhnen. Tobias ist schon zur Arbeit und ich sitze hier. Im Morgenmantel, ungeduscht und völlig ungeschminkt. Und Daniel versucht, mich am Handy anzurufen.
Gleichzeitig klingelt es an der Tür und Lisa schreit. Mit dem Kind in der Hand hetze ich zur Tür, mache sie auf, lasse meine verdutzte Mutter herein, drücke ihr das schreiende Bündel in die Hand und rase zurück in die Küche. Dort kratze ich das Milchpulver vom Boden, den Tobias zum Glück gestern Abend noch gewischt hat, werfe den Wasserkocher an und mische das lauwarme Wasser mit der Folgemilch zusammen.
„Wieso schreit sie denn so?“, will meine Mutter, jetzt schon genervt, wissen. „Und wie sieht’s denn hier aus? Du hast ja mal wieder gar nichts im Griff, Nora!“
„Danke, Mama, genau du hast mir jetzt noch gefehlt.“ Ich nehme ihr Lisa aus dem Arm, setze mich auf einen Küchenstuhl und gebe der Kleinen die Flasche. Begierig trinkt sie und schaut mich mit ihren babyblauen Augen groß an. Sofort geht es mir wieder gut, und mein Herz hüpft.
„Du läufst herum wie die letzte Schlampe! Willst du, dass dich Tobias gleich nach drei Wochen sitzen lässt?!“
„Mama!“, herrsche ich sie an, wie ich es bisher nur einmal gemacht habe, als sie mich als Teenie vor der versammelten Verwandtschaft mit 18 Jahren als alte Jungfer, die keinen mehr abkriegt, bloßgestellt hat. „Nora hat immer noch keinen Freund, also nach mir kommt sie nicht“, hat sie damals gesagt. Und damit meinen Onkel zu der polternden Aussage gebracht: „Die Nora, die nimmt eben nicht jeden, da muss schon ein Prinz kommen, hoch zu Ross.“
Und jetzt sitze ich da und habe das Problem, von dem ich damals nur träumen konnte: zwei Prinzen und sogar noch eine Prinzessin.
Was Schlafmangel und Dauergebrüll aus einer Fastvierzigerin, die aufgrund ihres Alters eh nur noch eine begrenzte Zahl an Nerven hat, machen können, ist nicht zu unterschätzen.
„Ich habe ungefähr zwei Stunden geschlafen, Lisa hat die ganze Nacht geweint, ich habe noch nichts gegessen, geschweige denn einen Kaffee getrunken …“
„Na und?“, unterbricht mich meine Mutter lächelnd. „Genauso geht es so ziemlich jeder Frau, die ein Neugeborenes hat, was denkst du denn? Nur, wenn du das jemandem erzählst, kann das wirklich keiner nachvollziehen. Und sogar die, die Kinder haben, die haben das irgendwie wieder vergessen. Das ist ja das Gute. Es geht vorbei.“
„Jetzt komm mir nicht wieder mit diesem Das-ist-nur-eine Phase–Geschwätz.“
„Ist aber nur eine Phase. Dauert nicht mehr lange, dann kommt die Phase, wo sie kaugummikauend keinen Bock auf gar nichts haben, ihr Zimmer nicht aufräumen und die Mutter zum Kotzen finden.“ Sie grinst. „Liebes, geh duschen, zieh dich hübsch an, versuch einfach, immer eine wunderbare Frau zu sein. Männer mögen keine aufgedunsenen, keifenden Muttis. Oder willst du etwa das Gegenteil behaupten?“
Ich sehe sie an und weiß, dass sie recht hat. Wie vielen meiner Freundinnen ist es genau so ergangen. Diese anstrengende Baby-Anfangszeit kann die beste Beziehung ruinieren. Und jetzt endlich weiß ich, warum. Ich liebe dieses kleine Wesen über alles, aber ich bin auch nur ein Mensch. Ein 39-jähriger Mensch mit leider ziemlich angefressenen Nervensträngen.
„Also, du passt auf Lisa auf, ich geh duschen.“ Ich stehe auf, lege Lisa in ihren Laufstall und stelle schon mal die Espressomaschine von Saeco an.
„Ich?! Na, du machst es dir wieder leicht. Aber hurry up, ich habe eigentlich nur ein Viertelstündchen Zeit. Mein Meditations-Kurs geht bald los. Und danach habe ich ein Date. Aus einer dieser Eso-Partnerbörsen, www.Gleichklang.de. Seine Schwingungen stimmen mit meinen zu 100 Prozent überein, ist das nicht mystisch?!“
„Der Wahnsinn, Mum.“

 

Am Abend empfange ich Tobias mit einem romantischen Candle-Light-Dinner wie aus der Werbung.
Zweimal Pizza Diabolo von Dr. Oetker, immerhin etwas Warmes. Und Tobias ist wirklich überrascht.
„Was ist denn nun schon wieder los?“, begrüßt er mich alarmiert und mittelbegeistert.
„Nichts“, ich lächle ihn an und hoffe, dass Lisa nicht aufwacht.
„Und was hast du überhaupt an?“
Ich sehe an mir herunter und sehe, dass mein gelbes Sommerkleid von Esprit zwar meine neue Körbchengröße betont (der Ausschnitt geht fast bis zum Bauchnabel), aber am Bauch extrem spannt.
„Shit, das sieht ja aus wie eine Gelbwurst. Das hab ich ja gar nicht gesehen.“
Tobias nimmt mich liebevoll in den Arm und schüttelt lächelnd den Kopf. „Sieht super aus, und dass dein Bauch so kurz nach der Geburt nicht wieder wie früher ist, ist doch völlig normal. Du siehst wirklich klasse aus. Ich bin froh, dass du nicht eine von diesen Frauen bist, die wochenlang nach der Geburt noch im Nicki-Hausanzug rumschluffen und sich nicht schminken, damit der Mann am Abend auch ja sieht, was für ein Stressjob das Mutter- und Hausfrauendasein ist.“
Ich sehe ihn baff an. Erstens hat er schon lange nicht mehr so viel am Stück zu mir gesagt und zweitens hätte ich nicht gedacht, dass Tobias doch auch nur ein Mann ist. Genau wie ihn meine Mutter beschrieben hat. Danke, Mama, denke ich und setze mich galant auf den Stuhl, schwinge ein Bein lasziv über das andere und bin froh, sogar einen Lippenstift aufgetragen zu haben. Männer sind ja so einfach zufriedenzustellen, wieso sollten wir klugen Frauen das dann nicht ganz einfach tun?
Der Abend wird wunderbar, die Pizza ist ein Genuss, und sogar Lisa, die ziemlich bald aufwacht, scheint von dem Pizzaduft ein wenig betört zu sein. Denn immerhin schreit sie nicht und lächelt uns an. Was sind wir doch für eine hübsche Werbefamilie.
Die Nacht wird ein Albtraum. Gerade als wir alle im Bett liegen, die Stimmung endlich mal wieder prickelnd erotisch wird und Tobias an meinem Ohrläppchen knabbert, schreit Lisa los. Sie ist glühend heiß und hat Fieber. Einerseits bin ich froh, weil ein Teil von mir sich immer noch hundeelend fühlt wegen Daniel, doch der andere Teil sehnt sich sehr nach Tobias, nach seinem Geruch, seinen Berührungen und seiner Kraft.
Lisa hat 40,2 Fieber, ich starre erst das Fieberthermometer, dann Tobias panisch an.
„Wir müssen ins Krankenhaus.“
„Mitten in der Nacht?“
„Willst du warten bis sie stirbt?!“
„Nora, jetzt übertreib doch nicht immer so. Kleine Kinder haben oft sehr hohes Fieber.“
„Ach ja, und woher willst du das so genau wissen? Wie viele Kinder hast du denn schon?“
Er sieht mich sauer und verletzt an. Fettnapf. Er kann keine Kinder bekommen, und ich reite darauf herum.
„Tut mir leid, ist mir nur so herausgerutscht. Aber was, wenn sie einen Fieberkrampf bekommt?“
„Einen Fieberkrampf? Was soll das denn sein?“
„Hatte der Kilian von Suse im Supermarkt, vor der Fleischtheke. Das Kind krampft, wie bei einem epileptischen Anfall, muss der Horror sein, sagt Suse.“
„Also gut, lass uns ins Krankenhaus fahren.“ Tobias seufzt, steht auf, zieht seinen Schlüpfer und seine Hose an, und ich packe das Nötigste zusammen.
„Nora, wir fahren nicht vier Wochen nach Mallorca, den Föhn kannst du wirklich hierlassen.“
„Und was, wenn sie Lisa dabehalten, also mich auch? Ich muss morgen unbedingt die Haare waschen.“
„Deine Probleme will ich mal haben.“ Tobias legt Lisa vorsichtig in den Maxi-Cosi, und los geht’s.

 

Im Krankenhaus speisen sie uns schnöde mit Fieberzäpfchen ab und schicken uns wieder nach Hause. Der Arzt, ein kräftiger Russe mit starkem Akzent, regt sich bei der etwas auseinandergegangenen Krankenschwester noch über hysterische Spätgebärende auf - ich habe es genau gehört - und sieht mir dann auf den Hintern. Erst bin ich sauer, doch dann irgendwie froh. Als ich im achten Monat schwanger und aufgedunsen war, hat mir keiner mehr hinterhergepfiffen, nicht einmal Manni von meiner Baustelle.

 

Am nächsten Morgen ist das Fieber weg und Lisa wieder quietschvergnügt. Ein Glück.

 

Himbeersommer
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