68.
Es dauerte vier Wochen, bis Anton Schwarz zum ersten Mal wieder Lust auf seinen Stammtisch in der Bierhalle hatte. Er fuhr mit dem Fahrrad und ertappte sich dabei, dass er gedankenverloren eine Melodie summte. Die Töne verrutschten ihm leicht, was kein Wunder war, schließlich war er mit Egerländer Volksweisen, nicht mit Klesmer-Musik groß geworden.
Nachmittags hatte er seine Mutter aus der Klinik abgeholt. Ihre Übungen konnte sie ab jetzt zu Hause machen, außerdem hatte sie endlich wieder zu sprechen begonnen. Zögerlich zwar, aber bei Hildegard Schwarz reichten wenige Wörter, um das Nötigste auszudrücken – und um ihren Kopf durchzusetzen.
Beim Abschied hatte er seine Mutter bei den Händen genommen. »Es tut mir leid, Mama.«
Sie hatte ihn verständnislos angesehen.
»Mein Experiment mit der Klesmer-Musik. Es muss für dich wie Folter gewesen sein. Ich habe ja nicht geahnt, dass in Karlsbad kein Jiddisch gesprochen wurde.«
Seine Mutter hatte ihn lange stumm angesehen. »Eli hat gered Jiddisch.«
Eli, ihr Geliebter, hatte Jiddisch gesprochen! Schwarz fiel ein Stein vom Herzen. Es war also doch nicht seine Ahnungslosigkeit gewesen, die seiner Mutter die Tränen in die Augen getrieben hatte.
»Eli, und alle anderen in Föhrenwald«, sagte sie.
In der Bierhalle waren Buchrieser, Jankl, Stamm und Kolbinger bereits beim zweiten oder dritten Weißbier. Schwarz bestellte eine Halbe Dunkles, und die Akustik war miserabel wie immer.
»Schon gehört, Anton?«, sagte Kolbinger, »von Medingen hat sich öffentlich entschuldigt.«
»Für was? Für seine Partei?«
»Dafür, dass er mit seinem Gutachten für Tim Burger so danebengelegen ist. Er zieht die Konsequenzen und tritt von seinem Amt als Gefängnispsychologe zurück.«
»Um sich ganz der politischen Arbeit zu widmen«, sagte Jankl bitter.
Kolbinger zuckte die Schultern. »Immerhin wird er jetzt auch offiziell vom Verfassungsschutz beobachtet.«
»Ah, von den Experten höchstpersönlich«, höhnte Buchrieser. »Das sind vielleicht Könner, schauen zu, wie die Bande aus alten Panzerfäusten, Granaten und Minen den Sprengstoff herauskratzt, und hoffen drauf, dass die Mischung nicht hochgeht.«
Schwarz musste an Burgers Hände denken. »Die haben die Situation doch jederzeit unter Kontrolle gehabt«, sagte er.
Die drei Polizisten und ihr ehemaliger Kollege hoben die Gläser und stießen an.
»Schon ein Schlamassel«, sagte Jankl.
»Was ist das eigentlich für ein Wort?«, fragte Schwarz.
»Schlamassel? Ein urbayerisches. Kommt von Massel.«
»Und das ist bayerisch?«
»Ja, freilich. Kommt von Mass.«
»Ja, dann«, sagte Schwarz, »ist die Welt ja in Ordnung.«
ENDE